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Abschluss Tarifrunde Handel

Ein Ritual - und das ist das Problem

Martin Suchanek, Neue Internationale 202, September 2015

Im Sommer 2015 schlossen ver.di und die Unternehmerverbände die Tarifrunden im Einzelhandel wie im Außen- und Großhandel ab. In diesem Wirtschaftsbereich sind rund 6 Millionen beschäftigt - mit einer Teilzeitquote von 54,6 Prozent. So arbeiten in Nordrhein-Westfalen 460.000 sozialversicherte Beschäftigte (einschließlich von Teilen der Teilzeitbeschäftigten) und 235.000 geringfügig Beschäftigte. Die Mehrheit in der Brache und die übergroße Mehrheit der Teilzeitbeschäftigten sind Frauen.

Forderungen

Ver.di hatte in den meisten Ländern 5,5 Prozent mehr Gehalt, mindestens jedoch 140 Euro/Monat bei einer Laufzeit von 12 Monaten gefordert. Die Ausbildungsvergütung sollte auch um 5,5 Prozent erhöht werden. Betrachten wir die Abschlüsse, so kam nicht einmal die Hälfte der anvisierten Einkommensverbesserung heraus.

In allen Bundesländern wurden Tarifverträge mit einer Laufzeit von 24 Monaten abgeschlossen. In der Regel gibt es im Einzelhandel eine Tariferhöhung von 2,5 Prozent im Jahr 2015 und eine weitere von 2 Prozent 2016. Die Ausbildungsvergütungen orientieren sich an diesem Anstieg, liegen aber zumeist noch darunter, indem z.B. die Erhöhung für das Jahr 2015 nur 2 Prozent ausmacht.

Im Groß- und Außenhandel wurde dieser Abschluss weitgehend übernommen, üblicher Weise mit etwas höheren Einkommenszuwächsen, oft 2,7 statt 2,5 Prozent für das Jahr 2015. Die Laufzeiten beginnen je nach Bundesland im Zeitraum vom März bis Oktober 2015, dementsprechend gestaffelt enden sie auch.

Allein diese Tatsache spiegelt ein zunehmendes Problem wider. Die Trennung nach Regionen und zwischen Groß- und Einzelhandel erschwert mindestens die Koordinierung und Synchronisierung einer Tarifbewegung.

Allerdings verschwendet ver.di darauf auch nicht allzu viel Mühe. Auch wenn es vor der Tarifbewegung hieß, dass es sich diesmal um eine sehr „harte Auseinandersetzung“ handeln würde, so endete der Konflikt mit dem zu erwartenden schlechten Kompromiss. Als kämpfschwächerer Bereich, im dem es ganze gewerkschafts-, und betriebsrats- und tariffreie Zonen in einzelnen Großunternehmen und bei vielen kleineren Kaufleuten gibt, war zu erwarten, dass der Abschluss unter den besser organisierter Branchen blieb.

Die Tarifbewegung hat wesentlich die ökonomische Stellung der Beschäftigten nachvollzogen - und ver.di und die anderen DGB-Gewerkschaften haben (wieder einmal) nichts getan, dieses Problem auch nur zu thematisieren, geschweige denn eine gemeinsame, politische Taktik zu entwickeln. Das ist nämlich bei einer „normalen“ Tarifrunde, wo jede Branche (oder auch einzelne Betreibe) die Verkaufsbedingungen der Arbeitskraft getrennt von anderen aushandelt, nicht vorgesehen.

Ver.di hat dementsprechend die Tarifrunde geführt - in ihrer üblich üblen ritualisierten Form. Zuerst wurde von einer harten Runde gesprochen, um endlich Lohneinbußen auszugleichen und das Gefälle zu anderen Branchen zu reduzieren. Garniert wurde das durch den Ruf nach „mehr Respekt“, der zwar sicher berechtigt ist, für Gewerkschaftsapparat wie für Unternehmerverbände aber auch den Vorteil hat, keinen konkreten monetären Aspekt zu haben. Da „Respekt“ den Kapitalisten außer hohlen Phrasen nichts kostet, sind sie hier auch schnell zur „Zusammenarbeit“ bei der „Aufwertung“ des Berufes (statt der Erhöhung des Entgelts) bereit.

Wie bei allen „harten“ Runden im Tarifritual kamen die Kapitalisten mit recht unverschämten Angeboten, worauf ver.di einigermaßen mobilisierte, v.a. in Ländern wie Nordrhein-Westfalen. Tausende, ja Zehntausende folgten. Wie so oft meinten es die Gewerkschaftsmitglieder mit der Auseinandersetzung ernst - die VerhandlungsführerInnen von ver.di weniger. Im Juli und August einigten sich beide Seiten in der „Mitte“. Die Unternehmer gingen wieder einmal an ihre „Schmerzgrenze“, die Gewerkschaft beglückwünscht sich und ihre Mitglieder.

Konkurrenz und Umstrukturierung

Grund zu jubeln haben die allerdings wenig. Der Abschluss selbst bleibt am unteren Ende. Da die geringe Inflationsrate reale Preissteigerung der Lebenshaltungskosten wie z.B. bei Mieten nicht widerspiegelt, ist der Lohnzuwachs in der Realität noch bescheidener.

Außer die Forderung nach mehr „Respekt“ zu erheben, hat ver.di in der Tarifrunde nichts getan, um den branchenweiten Problemen im Handel entgegenzuwirken. Die verschärfte Konkurrenz bedeutet massive Angriffe auf bestehende Beschäftigung wie die Zerschlagung und „Umstrukturierung“ ganzer Kaufhausketten. Die Übernahme von Netto (zur Zeit noch KaiserTengelmann) durch Edeka soll nun entweder über eine Ministererlaubnis oder den Verkauf an Einzelhandelskaufleute, die bei Edeka unter Vertrag stehen und in der Regel nicht tarifgebunden sind, erfolgen. In jedem Fall ist klar, dass weitere Rationalisierungen, Entlassungen, Einkommenseinbußen auf die Beschäftigten zukommen.

Die Tarifrunde berührt überhaupt nicht, dass der Anteil der Teilzeitbeschäftigten und geringfügig Beschäftigten in der Branche weiter steigen wird. Neben Drücken der Lohnkosten, Ersetzen von Arbeitskräften durch weniger qualifizierte spielt hier auch die Ausdehnung des Internet-Handels eine wesentliche Rolle.

Ver.di hat in der Tarifrunde wiederholt auf die enormen Profite in der Branche hingewiesen und daraus abgeleitet, dass jetzt das Recht auf Umverteilung bestünde. Das ist freilich eine kurzsichtige Argumentation. Erstens erhebt sich bei einer solchen Logik  unwillkürlich die Frage, ob dann nicht auch eine „Umverteilung“ zugunsten der Unternehmer gerechtfertigt wäre, wenn die Branche oder einzelne Unternehmen Verluste machen.

Zweitens bestreitet ver.di damit indirekt, dass es tatsächlich eine verschärfte Konkurrenz gibt. Natürlich machen die meisten der Großkapitale, die meisten Monopolisten im Handel noch weiter große Gewinne. Aber die Gewinnspanne, also die Rate des Handelsprofits ist vergleichsweise gering - und das heizt die Konkurrenz und den Verdrängungswettbewerb an - bei einer nur allenfalls leicht steigenden Kaufkraft. Die Wettbewerbsverschärfung führt ihrerseits nicht nur zum „Kaufhaussterben“ in den Innenstädten und zur Ausdehnung von Einkaufszonen am Stadtrand, zu dortigen Investitionen, die v.a. auf das Plattmachen der Konkurrenz berechnet sind und zugleich Überkapazitäten schaffen - also das Problem noch verschärfen. Diesem gesellschaftlich vollkommen irrationalen Konkurrenzkampf, der auch mit einer enormen Ausdehnung der Werbekosten für dieselben Produkte an denselben Kundenkreis einhergeht, kann das einzelne Kapital im Handel nicht ausweichen, es muss bei Strafe des Untergangs mitmachen, bis eines Tages eventuell noch weniger Konzerne übrig bleiben.

Dieser Zusammenhang taucht bei der „Tarifpolitik“ von ver.di wie aller Gewerkschaften erst gar nicht auf. Dabei ist er es gerade, der immer mehr die Grenzen eines rein tariflichen, rein gewerkschaftlichen Kampfes aufzeigt. Abhilfe kann hier nur geschaffen werden, wenn die Gewerkschaften auch politische Kämpfe führen, sich selbst politisieren. Entscheidende Forderungen wären dabei der Kampf gegen befristete und ungeschätzte Beschäftigungsverhältnisse wie auch der nach entschädigungsloser Verstaatlichung von Unternehmen, die mit Entlassungen, Schließungen oder Tarifbruch drohen - unter ArbeiterInnenkontrolle.

Eine solche Perspektive muss mit dem Kampf gegen alle gesetzlichen Einschränkungen des Streiksrechts, von gewerkschaftlicher und politischer Betätigung im Betrieb verbunden werden, um so auch die Zahl der „gewerkschaftsfreien“ Zonen im Handel zu verringern.

Für all das braucht es auch in den Betrieben und Gewerkschaften eine organisierte Opposition zur Führung - eine klassenkämpferische, anti-bürokratische Basisbewegung.

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