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Antisemitismus und Zionismus

III. Die Entwicklung des Industriekapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert in West-, dann in Mittel- und schließlich in Osteuropa setzte die Auflösung dieser Volksklasse in Gang. Die Klassendifferenzierung in großbürgerliche Finanziers, kleinbürgerliche Gewerbe und Proletarier führte zur schnellen Assimilierung einer großen Anzahl von Juden und zur Verwandlung des Judaismus zu einer Religion unter vielen. Die Juden West- und Mitteleuropas nahmen Kultur und nationale Identität der Länder, in denen sie lebten, auf. Wäre die Entwicklung des Kapitalismus gleichmäßig und genauso in Osteuropa verlaufen, dann hätte zweifellos ein ähnlicher Prozess der Auflösung der Volksklasse stattgefunden. Obwohl jedoch der Kapitalismus seine zerstörende Aufgabe erfüllte - die Auflösung der vorkapitalistischen Verhältnisse, die Verarmung der Bauern und Handwerker - absorbierte er nicht alle diese Klassen in der modernen kapitalistischen Produktion. Diese Verelendung traf die einst blühenden jüdischen Gemeinden besonders hart, da das Zarenreich - eine bonapartistische Diktatur des Spätfeudalismus, die verzweifelt den auflösenden Tendenzen des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie Widerstand leistete - die Einbeziehung der Juden in das wirtschaftliche, soziale und politische Leben Russlands und Polens blockierte. Obwohl die Juden nicht länger mehr fähig waren, ihre alte Rolle einer "Volksklasse" weiterhin zu erfüllen, konnten sie sich ebenso wenig assimilieren. Sie wurden zu einer Kaste der Ausgestoßenen im Zarenreich.
Die bürgerlichen Revolutionen in Großbritannien, den Niederlanden, in den Vereinigten Staaten und vor allem in Frankreich befreiten die Juden von den diskriminierenden mittelalterlichen Gesetzen oder gestatteten ihnen offiziell die Rückkehr in Länder, aus denen sie vertrieben worden waren. Ab Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein rascher Modernisierungs- und Aufklärungsprozess in den jüdischen Gemeinden, der zu starken Assimilierungstendenzen führte. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich jedoch eine dem entgegengesetzte Tendenz - der Antisemitismus.
Er fand seine sozialen Wurzeln in den im Zerfall begriffenen Klassen, im halbruinierten Adel, den Bauern, den Handwerkern und Kleinhändlern. In Mitteleuropa ruinierte die Entwicklung des modernen Kapitalismus schnell und rücksichtslos diese Klassen. Doch keine von ihnen konnte sich gegen die Kapitalistenklasse insgesamt wenden. Zusätzlich brachte die Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts noch Politiker der herrschenden Klasse wie Bismarck dazu, eine reaktionäre Wählerbasis zu schaffen.
Die antisemitischen Pogrome 1882/83 in Russland lösten einen Prozess der Auswanderung in den Westen, nach Deutschland, Frankreich, England und in die USA aus. Eine winzige Gruppe von Juden (die Anhänger Zions) wanderte nach Palästina aus, wo sie Land erwarb. In Frankreich und England fürchteten reiche und angesehene Führer der jüdischen Gemeinschaft, dass die Masseneinwanderung von "rückständigen" (d.h. unangepassten) Ostjuden einen Gegenschlag provozieren könnte. Sie begannen Kolonisationsprojekte in Nordafrika und auch in Palästina zu finanzieren und zu ermutigen.
Der Zionismus kam als eine politische Bewegung auf Anregung Theodor Herzls zustande. Herzl gelangte zur Überzeugung, dass die Antisemiten in einem Punkt recht hatten: die Juden waren in Europa ein "Fremdkörper". Er betrachtete es als ihre Aufgabe, einen jüdischen Staat als Kolonie außerhalb Europas zu gründen. Nachdem Argentinien und Uganda in Erwägung gezogen worden waren, erkannte die 1898 gegründete zionistische Bewegung, dass einzig die "alte Heimat" die religiösen Juden Osteuropas (die einzigen, die irgendwohin auswandern wollten) ansprechen würde und dass Palästina für die russischen, deutschen, britischen und französischen Imperialisten einen verlockenden Preis aufgrund des Mineralreichtums dort und seiner geopolitischen strategischen Lage darstellte. Der Zionismus wollte sein Ziel durch Annäherungsversuche an eine Reihe von imperialistischen Mächten vor dem I. Weltkrieg erreichen. Mit der Niederlage der Achsenmächte in diesem Krieg und der russischen Revolution richtete der Zionismus jedoch seine Aufmerksamkeit auf den britischen Imperialismus, der entschlossen erschien, aus der Zerstückelung des Osmanischen Reiches seinen Gewinn zu ziehen. Die Zionisten blieben jedoch eine verschwindende Minderheit innerhalb der jüdischen Gemeinden weltweit und in Osteuropa, die insgesamt entweder dem bürgerlichen Liberalismus (die Oberschicht und einige Kleinbürger) oder der Arbeiterbewegung verbunden blieben. Der Zionismus blieb bis zum Aufstieg des Faschismus und des Triumphs des Stalinismus eine Minderheitsströmung in den jüdischen Gemeinden Osteuropas.

IV. Im Wirrwarr der kleinen Parteien und ihrer Koalitionen existieren zwei grundsätzliche Traditionen innerhalb des Zionismus, deren Gründer Ber Borochow bzw. Wladimir Jabotinsky waren. Jabotinsky begann seine politische Aktivität im zaristischen Russland als Führer und Polemiker der "Union für Gleichberechtigung", einer bürgerlichen jüdischen Organisation mit gemischt liberaler und zionistischer Mitgliedschaft. Er war ein erbitterter Feind des "Bund" und der Linkszionisten, die sich auf die Arbeiterklasse orientierten.
In den frühen 20er Jahren verlor er zugleich seine Illusionen in den offiziellen bürgerlichen Zionismus und war ebenfalls dem Aufschwung gegenüber, den der Labour-Zionismus in Palästina erlebte, feindselig eingestellt. Zusätzlich dazu verlor er jegliches Vertrauen zu den britischen Mandatsbehörden, welche die Ansiedlung auf eine jährliche Quote begrenzten. 1924 gründete er die Revisionistische Partei, deren Strategie und Taktik darin bestanden, die Engländer dazu zu zwingen, eine unbeschränkte Einwanderung zu gestatten, eine jüdische Armee und Polizei zu bilden und arabisches Land zu besetzen. Sein Ziel war ein autonomer Judenstaat beiderseits des Jordans. 1935 spaltete sich Jabotinsky von der zionistischen Weltorganisation ab. Seine Partei, insbesondere ihre Jugendorganisation, liebäugelte mit Mussolini und dem italienischen Faschismus. Die Labour-Zionisten denunzierten sie als faschistisch. 1939 bildeten die Revisionisten den "Irgun Zwi Leumi" als Alternative zur von Labour dominierten zionistischen Armee "Hagana".
Der Labour-Zionismus wiederum hat seine Wurzeln in der Periode der Revolution von 1905 in Russland und deren Einfluss auf die jüdischen Handwerker, Kleinbürger und weniger klassenbewussten Arbeiter. Ber Borochow begann seine Laufbahn als überzeugter Zionist, auch wenn er für einige Monate 1900/01 Mitglied der russischen Sozialdemokratie war, ehe er ausgeschlossen wurde. Er war dann auch in lokalen Gruppen der "Poale Zion" (Arbeiter Zions) aktiv. Vor 1905 jedoch hatte Borochow eine Rechtsentwicklung durchgemacht, wobei er die Hoffnungen, dass eine Revolution in Russland das Los der Juden erleichtern würde, mit Spott überhäufte. In dieser Phase glaubte er, dass die palästinensischen Fellachen in einer jüdischen Nation aufgehen würden.
Die Revolution von 1905-07 hinterließ in ihm jedoch einen starken Eindruck, und 1906/07 änderte er seine Position wesentlich. Er wurde zum Organisator und Koordinator der "Poale Zion"-Gruppen und half, sie zu einer Partei zusammenzufassen, die im Februar 1906 unter dem Namen "Jüdische Sozialdemokratische Arbeiterpartei" (Poale Zion) gegründet wurde. Obwohl sie die "persönliche Autonomie" und ein jüdisches Parlament (Seyni) als Schritte in Richtung einer territorialen Unabhängigkeit forderte, legte sie ihr Hauptgewicht auf die Teilnahme an der russischen Revolution gegen den Zarismus. Sie war klar vom "Bund" beeinflusst und stand in taktischen Fragen dem Bolschewismus näher als den Menschewisten.
Hinsichtlich Palästinas glaubte Borochow, dass es sich auf "natürlichem Weg" zum Zentrum für das jüdische Kapital und die jüdischen Arbeiter entwickeln würde, angesichts der Weigerung der westlichen Staaten, Juden aufzunehmen. Die "Poale Zion"-Bewegung sollte einen Arbeitsmarkt schaffen und in Palästina die Arbeiter organisieren - aber "es wäre ein großer Irrtum zu meinen, dass wir zur Auswanderung nach Palästina aufrufen. Dies überlassen wir dem natürlichen Prozess". Die Gründe, warum Borochow dem "Palästina-Projekt" nachhing, lagen darin, dass die Juden aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung kein starkes Proletariat besaßen. Um dies zu erreichen, müssten sie sich in einem eigenen Territorium niederlassen. Damit würden die überproportional große Bourgeoisie und das Kleinbürgertum verschwinden und eine "normale" Arbeiterbewegung zum Sozialismus weiterschreiten. Diese Idee war es, die ihren Siegeszug antrat, als der Labour-Zionismus in den 20er Jahren Sektionen in Amerika, in Westeuropa und in Palästina aufbaute. In Russland nahm "Poale Zion" 1914 eine Position gegen den Krieg ein und schloss sich nach 1917 der Verteidigung des Arbeiterstaates an.