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Venezuela

Gegen Bosse und Bürokraten

Keith Sellick, Neue Internationale 113, August/September 2006

Während Hugo Chavez durch Europa tourte, bereiteten sich ArbeiterInnen in Venezuela auf die 2. Konferenz der Nationalen Arbeitergewerkschaft (UNT) Ende Mai vor.

Die fast 3.000 Delegierten vertraten rund 1,2 Millionen ArbeiterInnen von 700 Ortsgewerkschaften und 16 landesweiten Verbänden. Doch die Erwartungen der Delegierten, die bis zu 12 Stunden lang auf Einlass gewartet hatten, wurden enttäuscht. Sie gingen verbittert auseinander, verschiedene Tendenzen hielten separate Treffen ab.

Die UNT entstand v.a aus Kämpfen innerhalb der alten Bundesgewerkschaft, der Konföderation venezolanischer ArbeiterInnen (CTV). Die CTV betrieb Klassenzusammenarbeit mit den UnternehmerInnen, sie unterstützte den Staatsstreich und den Streik der Ölindustrie gegen Präsident Chavez. Die UNT hat von den neuen Arbeitsgesetzen bei der Mitgliedergewinnung profitiert; ihr Erfolg zeigte sich am 1. Mai, wo die UNT eine halbe Million ArbeiterInnen aufbot, die CTV hingegen nur wenige tausend.

Schon kurz nach Beginn der UNT-Konferenz wurden Sprechchöre laut, als Generalsekretär Marcelo Maspero zu reden begann: „Wahlen, Wahlen, wir wollen Wahlen“. Diese Losung wurde zur Hauptforderung der Konferenzmehrheit und markierte zugleich ihr vorzeitiges Ende. Die Forderung nach Wahlen ist Ausdruck tiefer Konflikte über die politische Ausrichtung der UNT.

Der Kopf der Mehrheit, Orlando Chirino, der aus der Ölbranche stammt und von ungefähr 70% der Delegierten unterstützt wird, ist für die Verteidigung Chavez‘ gegen den Imperialismus, aber für Unabhängigkeit von dessen Strömung. Die Chirino-Gruppe ist als „Klassenkampfströmung“ organisiert und rief zur Wahl einer demokratisch legitimierten UNT-Führung auf, weil diese sich im August 2003 selbst ernannt hatte.

Die Minderheit, die Bolivarianische Arbeiterstreitmacht (FBT), erwuchs aus den Kämpfen gegen die Verwicklung der alten korrupten Gewerkschaft CTV und unterstützt Chavez direkter. Die Minderheit wollte die UNT-Wahlen verschieben, um sich auf die Wiederwahl Chavez‘ in diesem Jahr zu konzentrieren.

Indem sie darüber den frisch gebackenen Gewerkschaftsbund auseinander fallen ließen, erwiesen die FührerInnen beider Lager den ArbeiterInnen Venezuelas einen Bärendienst.

Gefahren

Trotz Chavez‘ Popularität: Venezuelas Arbeiterklasse sieht sich vielen Angriffen gegenüber und ringt hart mit den CTV-Traditionen von Bürokratismus und Klassenzusammenarbeit, die auch mit Gründung der UNT nicht vom Tisch sind, weil viele CTV-BürokratInnen in die UNT gewechselt waren.

Die sozialen Konflikte sind vielerorts spürbar. So haben die Bosse der Pharmafirma Droguera Race der Ortsgewerkschaft die Anerkennung verweigert. Die Geschäftsführung beim Stahllieferanten Orimalca hat ihren Kollektivvertrag mit der lokalen Stahlarbeitergewerkschaft aufgekündigt. ArbeiterInnen beim Textilunternehmen Sel-fex haben die Fabrik sechs Monate lang besetzt, als ihnen die Chefs mitgeteilt hatten, die Firma sei pleite. Seitens der Gewerkschaftsspitzen hat es keinen Versuch gegeben, die Beschäftigten zu unterstützen oder zur Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle aufzurufen. Im Bundesstaat Carabobo wehren sich ArbeiterInnen gegen Bestrebungen zur Privatisierung des Gesundheitswesens.

Auch unter Chavez existieren weiterhin Gesetze, die Arbeiterrechte und Arbeitsbedingungen aushöhlen; auch die Antigewerkschaftsgesetze aus der Frühzeit seiner Präsidentschaft gelten noch immer.

Die Linke auf dem Kongress

Eine winzige Strömung auf dem Kongress war die Revolutionäre Marxistische Strömung (RMC), die mit der Internationalen Marxistischen Tendenz liiert ist (in Deutschland: „Der Funke“). Diese Gruppe argumentiert, die Konferenz hätte ein Programm und einen Aktionsplan für die UNT diskutieren sollen, um die Arbeiterklasse in den Mittelpunkt des revolutionären Prozesses in Venezuela zu rücken. Ein solches Programm, sagt sie, müsse sich für Arbeiterkontrolle über die Fabriken, die Nationalisierung der Industrie unter demokratischer Kontrolle mit Teilnahme der arbeitenden Klasse und die Abschaffung des kapitalistischen Staats und seine Ersetzung durch einen revolutionären Arbeiterstaat einsetzen.

Das ist sicher richtig. Doch die RMC stellte dies dem Bedürfnis nach der Wahl einer demokratischen UNT-Führung entgegen, die ihrer Meinung nach nicht vorrangig sei. Deshalb stellten sie sich auf die Seite der Chavistas und deren Betonung der Kampagne für die Wiederwahl von Chavez. Sie meinten: „Die Schlacht um die Wiederwahl des Präsidenten ist untrennbar vom Streben, die gravierenden Probleme zu lösen, unter denen die ArbeiterInnen und der Großteil der Bevölkerung weiterhin leiden und von der Notwendigkeit des Aufbaus des Sozialismus“.

Doch nicht die Wiederwahl von Chavez bringt die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse und den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei, die die Macht erringen kann. Nur sie hätte die Kraft, die „gravierenden Probleme“ zu lösen, vor denen Lohnabhängige und Arme Venezuelas stehen - nicht Oberst Chavez!

Die RMC beschuldigte all jene des „Ultralinkstums“, welche „die UNT von der bolivarianischen Bewegung abspalten wollen“. Dies ist eine Anspielung auf die Partei „Revolution und Sozialismus“ (PRS), die den Verbindungen der UNT mit der Regierung gegenüber kritisch und mit der Chirino-Gruppierung verbunden ist. Einerseits stellt die PRS richtig fest, es sei die Pflicht von SozialistInnen, Schulter an Schulter mit den Massen bei der Verteidigung Chavez‘ gegen imperialistische Angriffe zu stehen; andererseits ruft sie auch zur Formierung einer „revolutionären Massenpartei“ auf, um den Kapitalismus zu stürzen. Sie spricht sogar davon, selbst KandidatInnen gegen die bolivarianische Bewegung bei Kommunalwahlen aufzustellen, um Staatsbürokraten oder „Kapitalisten, die rote Barette tragen“ zu entlarven.

Um die UNT zu einem wirklichen Kampfinstrument zu machen und dem bürokratischen Apparat wirksam zu begegnen, sind u.a. folgende Forderungen zentral:

Bezahlung der UNT-Funktionäre zum durchschnittlichen Arbeiterlohn! Volle Wahl- und Abwahlmöglichkeit!

Organisierung der Unorganisierten - die Schattenwirtschaft und die Arbeitslosen!

Verteidigt alle von den UnternehmerInnen attackierte ArbeiterInnen mit Arbeitskampfmaßnahmen! Für Solidaritätsstreiks einschließlich regionaler und nationaler Streiks! Keine Lohnkürzungen, keine Entlassungen!

Aufbau eines starken landesweiten Dachverbands mit Verbindungen zur Bauernschaft und den Armen!

Für die Besetzung der Fabriken und Arbeiterkontrolle über die Produktion! Für die Verstaatlichung der Industrie unter Arbeiterkontrolle und eine demokratisch geplante Wirtschaft!

Gewerkschaften müssen die ArbeiterInnen bewaffnen und ausbilden - gegen imperialistische Angriffe und Übergriffe des Staates und der Bosse!

Bilanz

Die UNT-Konferenz war insgesamt eine verpasste Gelegenheit - vor allem angesichts der Angriffe auf die ArbeiterInnen und des Widerstandes dagegen. Es gibt Besetzungen und Ansätze von Arbeiterkontrolle, die landesweit und live im Fernsehen debattiert werden.

In der Alcasa-Aluminiumhütte z.B. üben die ArbeiterInnen sogar hinter der Fabrik an der Waffe. So beginnen die ArbeiterInnen, im „Eifer des Gefechts“ zu lernen, was getan werden muss, um die Revolution voran zu bringen.

Ein kämpferischer Dachverband wie die UNT kann beim Vorantreiben der Revolution einen enormen Beitrag leisten. Dazu muss er aber auch über eine politische Bewaffnung gegen ReformistInnen und Bürokraten verfügen, welche unter Chavez die Machtpositionen in Staat und bolivarianischer Bewegung innehaben.

Die Gewerkschaften müssen eine eigene Arbeiter-Massenpartei aufbauen, die an die ArbeiterInnen und die Armut auf dem Land und in den Slums appellieren und auf allen politischen Ebenen agieren kann.

So kann die UNT auch die Unterstützung der vielen guten Elemente in der bolivarianischen Bewegung erringen, die die Revolution vorwärts bringen wollen, aber von den ReformistInnen und von der Trägheit des staatlichen Apparates gehindert werden. RevolutionärInnen in der UNT müssen mit gebieterischer Dringlichkeit dafür die Werbetrommel rühren, dass der Verband eine solche Partei ins Leben ruft.

Nur eine Arbeitermassenpartei, die sich der Arbeiterkontrolle, der Nationalisierung und dem Sturz des Staates verschreibt, kann die bereits erreichten Errungenschaften verteidigen, indem sie darüber hinaus geht und sie durch eine sozialistische Revolution gegen den Kapitalismus zur Dauereinrichtung macht.

Sie muss einen viel demokratischeren Staat errichten, als die bolivarianische „Fünfte Republik“: einen auf Arbeiterräten fußenden revolutionären Arbeiterstaat.

Arbeiterkontrolle

Die Fabrikbesetzungen sind einer der Schlüsselfortschritte der venezolanischen Revolution. So lernen die ArbeiterInnen, wie sie „ihren“ Betrieb führen und Macht ausüben. Eine Fabrikbesetzung kann den Weg Richtung Machtergreifung auf der Ebene des Staates weisen; es kann aber auch in die Sackgasse führen, wie konkrete Beispiele belegen.

Eine der bekanntesten Besetzungen ist die Übernahme der Papierfabrik Venepal (jetzt Invepal). Die Firma ging bankrott und 900 ArbeiterInnen verloren ihren Job. Nach langem Rechtsstreit übernahm der Staat das Werk mit 51% Aktienanteil, der Rest ging an die Belegschaft; eine Mitarbeiterversammlung fällt die Entscheidungen über den Betrieb.

Es gibt keine Gewerkschaft mehr in der Firma, vielmehr vertritt eine Genossenschaft die ArbeiterInnen. Profite oder Ausschüttungen gehen an die einzelnen Belegschaftsmitglieder, werden aber nicht in einen volkswirtschaftlichen Gesamtplan eingebettet. Der Fabrik-Vorstand wurde im November 2005 auf einer Massenversammlung abberufen und ein neuer gewählt. Aber diese demokratische Entscheidung einer Vollversammlung wurde vom Minister für Volkswirtschaft nicht anerkannt. Er verlangte auch eine Mehrheit in der Geschäftsführung, weil „dem Staat 51% gehören“. Das zeigt nur die Gefahren dieses Typs „Mitverwaltung“.

Eine weitere Übernahme gab es bei der Aluminiumhütte Alcasa, die jahrelang Minus machte und wo ein ähnliches Zerwürfnis zwischen Angestellten und Staat entstand. Die 2.700 ArbeiterInnen wählen jetzt ihre eigenen BetriebsdirektorInnen, Carlos Lanz - ein ehemaliger Guerillakämpfer - steht nun der Firma vor. In weniger als einem Jahr ist die Produktivität um 10% gestiegen.

Rafael Rodriguez, verantwortlich für die Wirtschaftsentwicklung, hebt die Unterschiede zwischen Alcasa und der Tradition sozialdemokratischer Mitbestimmung in Deutschland hervor. Für ihn ist die Beteiligung an der Unternehmensführung ein Übergang zur Selbstverwaltung und zum Aufbau des Sozialismus in „praktischer Manier“.

Als Gegenbeispiel haben die ArbeiterInnen bei der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Cadafe zwei VertreterInnen im fünfköpfigen Lenkungsausschuss, die nur Vorschlagsrecht haben. Die Werksangehörigen einschließlich Fetraleac (ein Gewerkschaftsverband, der ArbeiterInnen in Elektrizitätswerken zusammenfasst) haben wegen dieser mangelnden Entscheidungsmöglichkeiten demonstriert.

Das Beispiel Venepal hat die Frage der Arbeiterkontrolle im ganzen Land wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Das erfuhr sogar Unterstützung durch Chavez, der das als besondere Form eines reformistischen „Sozialismus für das 21. Jahrhundert“ einschätzt.

2006 wurde die „Revolutionäre Front Besetzter Fabriken“ gebildet, die aus der letztjährigen Konferenz hervorging, welche Beispiele für Besetzungen und Arbeiterkontrolle aus ganz Lateinamerika versammelte. Das Hauptziel der Front ist „die Ausweitung der Enteignungen und Nationalisierungen der venezolanischen Industrie unter Arbeiterkontrolle“. Aber die Sabotage der StaatsbeamtInnen zeigt auch, dass - was immer Chavez über ArbeiterInnen sagt, die ihre Firma leiten - noch viel Opposition zu dieser Idee innerhalb der bolivarianischen Bewegung und dem Arbeitsministerium existiert.

Ohne eine gesamtstaatliche Strategie, die auf der Eroberung der Staatsmacht gründet, bleiben solche Unternehmen nur genossenschaftliche Inseln im Meer des Kapitalismus. Man muss sich für Arbeiterkontrolle Hand in Hand mit Verstaatlichung und für einen demokratischen Volkswirtschaftsplan einsetzen - das heißt, die ReformistInnen und den Besitz an Privateigentum in Frage zu stellen. Dafür wird es nicht reichen, nur den Präsidenten Chavez zu verteidigen, wie es viele zentristische Organisationen tun - dafür müssen die revolutionären Kräfte in den Gewerkschaften, in den kommunalen Räten zusammenarbeiten und eine revolutionäre Massenpartei aufbauen. Nur eine Revolution birgt den Sozialismus in sich - kein gewählter Präsident wird ihn schaffen.

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Nr. 113, August/Sept. 2006

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*  Israel/Palästina: Antizionismus = Antisemitismus?
*  Heile Welt
*  Libanon: Was ist Hisbollah?
*  Klassenkampf und soziale Bewegung: Welche Perspektive?
*  Schmiergeldskandale: Korruption mit System
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*  WASG-Linke: Stunde der Integratoren
*  Hisbollah-Verbot droht: Weg mit den Antiterrorgesetzen!
*  Linkspartei.PDS: "Der Anfang ist gemacht ..."
*  Wahlen in Berlin: WASG wählen, Widerstand formieren