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Türkei

„Wenn euch das Parlament gehört, gehören uns die Straßen“ – Nehmen wir sie uns!

Zur Aufhebung der Immunität im türkischen Parlament, ausbleibenden Protesten und dringend notwendigen Aktionen

Svenja Spunck, Infomail 882, 22. Mai 2016

Der Krieg gegen die KurdInnen in der Türkei ist nicht nur eine Angelegenheit von Bomben und Panzern, er ist auch eine Sache von dreckigen Manövern auf bürokratischer Ebene. Beginnend mit der massenhaften Entlassung von kurdischen BürgermeisterInnen im Osten des Landes, gelang der AKP am 20. Mai im türkischen Parlament in Ankara ein Durchbruch.

Bei den Wahlen im letzten Juni hatte sie die für eine Verfassungsänderung notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit verfehlt. Das Ziel Erdogans ist es weiterhin, ein auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem einzuführen, welches ihm seine jetzt schon übermächtige Stellung legal bestätigt. Doch als die HDP die 10 Prozenthürde überschritt und eine offen pro-kurdische Partei ins Parlament einzog, wurden diese Pläne durchkreuzt.

Seitdem tobt ein Krieg gegen die gesamte Opposition, ganze Städte werden vom türkischen Militär dem Erdboden gleich gemacht. Doch auch die für eine Verfassungsänderung notwendige Mehrheit soll erreicht werden. Dazu stimmten am 20. Mai Zweidrittel willfährige Abgeordnete für die Aufhebung der Immunität zahlreicher Parlamentarier. Betroffen sind davon bislang 138 der 550 ParlamentarierInnen. Vor allem trifft dies die HDP-Abgeordneten. Gegen 50 ihrer 59 Abgeordneten werden nun Verfahren eröffnet, man rechnet mit Haftstrafen von mehreren Jahren. Praktisch sollen sie rasch aus dem politischen Leben entfernt werden.

Der allseits beliebte Vorwurf ist natürlich der, dass sie ein verlängerter Arm der PKK seien und mit anderen „Terroristen“ wie der PYD unter einer Decke stecken. Dabei hatte der HDP-Vorsitzender Demirtas sogar opportunistisch versucht, sich der AKP anzubiedern. Seit dem Beginn des Krieges rief er die PKK immer wieder dazu auf, sich zu entschuldigen, einen einseitigen Waffenstillstand auszurufen und damit praktisch die völlig legitime Selbstverteidigung aufzugeben. Verbal griff er zwar auch die AKP und Erdogan an, während der mit ihnen in der Kommission zur Verfassungsänderung saß, gar im letzten Jahr in der Übergangsregierung. Der Vorstoß der AKP-Parlamentsmehrheit am 20. Mai zeigt nun deutlich, dass Verhandlungen mit der Regierung auf Sand gebaut sind. Die Anbiederung hat der HDP, Demirtas nicht geholfen und erst recht nicht den KurdInnen.

Westlicher Imperialismus

Ganz anders wird das im Westen Europas gesehen. Die Aufhebung der Immunität sei zwar irgendwie eine Entfernung von demokratischen Vorstellungen, meint die Kanzlerin Merkel, aber man müsse es ja nicht gleich übertreiben und Konsequenzen daraus ziehen. Schließlich erklärte Erdogan, dass es eventuell alles TerroristInnen sein, die von Repression betroffen sind. Wer das anders sehe, so drohte er, dem könne er im Handumdrehen tausende Busse mit geflüchteten SyrerInnen schicken.

Dieser Drohung hätte es nicht bedurft. Mit der kurdischen Bevölkerung und dem Widerstand will sich ohnedies keine der EU-Regierung solidarisieren. Die Repression soll nur, wie es Innenminister De Maizière ausdrückte, „angemessen“ sein.

Etliche im konservativen Lager sehen die „Kurdenfrage“ ohnedies ähnlich wie Erdogan. Colin Dürkop, Leiter des Istanbul-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, meinte, dass der Kampf gegen die HDP im Rahmens des allgemeinen berechtigten Antiterrorkampfes zu sehen sei und auch ein Präsidialsystem den Vorteil hätte, dass es nur einen Ansprechpartner und keine Reibereien zwischen Staatspräsidenten und Regierungschef gäbe. Ein Präsident, ein Ansprechpartner, ein ...

Und was tut die Linke? Das ist eine gute Frage, denn außer Selfies im Parlament und reißerischen Slogans auf Facebook ist bisher noch nicht viel zu vernehmen von denen, die gerade um ihre blutig erkämpften Parlamentssitze und ihre grundlegenden demokratischen Rechte betrogen werden. Ebenso kann man das auch von der Linken in anderen Ländern behaupten, auch hier bleibt die Solidarität aus.

Doch die Abstimmung vom 20. Mai hat eine große Bedeutung. Ob die Stimmen außerhalb der AKP nun eher aus der faschistischen MHP oder der kemalistischen CHP kamen, kann nur spekuliert werden. Doch es ist deutlicher als zuvor, dass die HDP im Parlament vollkommen isoliert ist. Ganz richtig veröffentlichten sie am 20. Mai den Slogan, „Wenn das Parlament euch gehört, dann gehören uns die Straßen“, doch diese Straßen blieben leer.

In den kurdischen Gebieten geht der Krieg gegen die Bevölkerung weiter, mindestens 1.000 Menschen sind auch nach offiziellen Angaben bisher vom Militär getötet worden.  Natürlich gibt es nach wie vor auch in den anderen Landesteilen Repressionen gegen Demonstrationen und Kundgebungen. Doch wenn nun sogar die Stimmen im Parlament verloren sind, was kann dann selbst von der Illusion noch übrig bleiben, einen demokratischen Wandel der Türkei durch das Parlament zu erhoffen?

Gerade jetzt ist die Mobilisierung auf der Straße wichtig, denn alle anderen Stimmen wurden mundtot gemacht. Ebenso ist es die einzige Möglichkeit, die ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren. Seit Kriegsbeginn gab es zwar keine großen Streiks oder andere Aktionen von ArbeiterInnen oder Gewerkschaften, die sich mit der kurdischen Bevölkerung im Osten solidarisiert hätten oder sich gegen die Repressionen gegen die politische Opposition ausgesprochen hätten. Doch ebenso wenig hat die HDP versucht, die Partei der ArbeiterInnenklasse zu werden oder solche Aktionen propagiert!

Seit der Zuspitzung des Konfliktes konzentriert sich die HDP auf eine nationalistische Politik, in der die Grenze nicht zwischen Oben und Unten, sondern zwischen Ost und West verläuft. Keine Mobilisierungen der Gewerkschaften, keine politischen Streiks wurden organisiert. Ihre politische „Hauptwaffe“ ist der moralistische Apell für eine demokratische Gesellschaft der unterschiedlichen Völker, was Anklang unter KurdInnen und Teilen der Mittelschicht im Westen der Türkei findet, aber keine Massenbewegung auslösen kann.

Diese Politik führt in die Sackgasse. Es wäre dringend notwendig, dass die Straße und Plätze gefüllt werden mit Demonstrationen. Die Gewerkschaften, die HDP, die türkische Linke müssten zu Streiks in Betrieben gegen die Aufhebung der Immunität, gegen die Einführung des Präsidialsystems und für das sofortige Ende der Angriffe des türkischen Militärs auf die kurdische Bevölkerung aufrufen. Dabei muss man nicht warten, bis die HDP dies tut, nur weil sie am meisten davon betroffen ist. Dazu ist vielmehr notwendig, eine Einheitsfront der ArbeiterInnen und aller Unterdrückten, v.a. aber der KurdInnen, zu propagieren und zu schaffen, die sich gegen die AKP-Regierung und Erdogans Präsidialdiktatur richtet.

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