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Gesetzesentwurf zur Verschärfung des Sexualstrafrechts

“Nein” heißt immer noch nicht “Nein”

Veronika Schulz, Neue Internationale 210, Juni 1916

Nach den Übergriffen auf Frauen in Köln und anderen Städten in der Silvesternacht hat zunächst rassistische und anti-muslimische Hetze die Nachrichten dominiert. Daran hat sich eine bisweilen sonderbar anmutende Diskussion über sexuelle Selbstbestimmung angeschlossen. Von den Erzkonservativen der CSU bis in Frauenrechtsverbände hinein reicht die Kritik, dass „nach Köln“ endlich härter durchgegriffen werden müsse.

Eine verquere Melange aus „Law and Order“ und „Neo-Feminismus“ prägte nun die öffentliche Debatte. Nach zwischenzeitlicher Pause ist diese Diskussion neu entflammt, nachdem Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) im April einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorgelegt hat. Er soll den Paragraphen 179 des Strafgesetzbuches (Sexueller Missbrauch Widerstandsunfähiger) neu fassen. Dieser soll zukünftig heißen: sexueller Missbrauch unter Ausnutzung besonderer Umstände. Entsprechende Passagen in den Paragrafen 177 (Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) und 240 (Nötigung) sollen gestrichen werden.

Sexismus ist Alltag

Die bisherigen Urteile im Nachgang zur Silvesternacht in Köln lauteten hauptsächlich auf Geldstrafen wegen Diebstahls. Viele der Taten, die in Köln verübt wurden, können bisher schlichtweg nicht strafrechtlich geahndet werden. Momentan bleiben Berührungen an Geschlechts- oder auch anderen Körperteilen in den meisten Fällen straffrei, da sie vor dem Gesetz nicht als „Nötigung“ gelten. Dass Gewalt speziell gegen Frauen verbreiteter ist, als den meisten von uns bewusst ist, und dass sich Täter und Opfer sexueller Übergriffe meistens kennen, zeigt, dass Köln keineswegs ein „einmaliger Ausreißer“ für die Kriminalstatistik ist.

Von sexueller Belästigung, ob verbal oder physisch, bis hin zu sexueller Gewalt, ist der Übergang häufig fließend: „Jede zweite Frau wurde schon mindestens einmal sexuell belästigt. Das heißt: Ihr wiederholtes Nein zu einem Date wurde nicht akzeptiert, sie wurde mit anzüglichen Witzen bedacht, angestarrt, bekam ohne Aufforderung Nacktbilder geschickt oder wurde gegen ihren Willen angefasst.“ (Süddeutsche Zeitung (SZ): Die 7 wichtigsten Fakten zu sexueller Gewalt, online verfügbar unter www.sueddeutsche.de/panorama/vergewaltigung-die-wichtigsten-fakten-zu-sexueller-gewalt-1.2937498)

Laut einer repräsentativen Studie aus dem Jahr 2004 wird fast jede siebte Frau in Deutschland vergewaltigt. Diese schockierende Zahl offenbart das Ausmaß sexueller Gewalt gegen Frauen und zeigt auf, dass die Übergriffe von Köln eher die Spitze des Eisberges als ein einmaliges Ereignis waren.

Die Bundesregierung will deshalb die aktuellen Gesetze ergänzen. Es herrscht also breite Einigkeit über alle Parteigrenzen hinweg, dass die Zeit für einen sogenannten „Grapscherparagraphen“ reif ist. Auffällig hierbei ist jedoch, dass sich in diesem Zusammenhang ausgerechnet VertreterInnen der Unionsfraktion zu Wort melden und sich für die Schließung dieser Gesetzeslücke stark machen.

Einerseits verwundert dies nicht, sieht sich doch insbesondere die CSU als Partei von Recht und Ordnung. Andererseits vermutet man die Erkenntnis, dass Sexismus ein strukturelles Problem darstellt, nicht zuallererst innerhalb des konservativen Lagers. Die Schweigsamkeit der SPD fällt deshalb umso negativer auf. Dieses Vorpreschen der CDU/CSU wird bei der Diskussion um den Straftatbestand der Vergewaltigung noch offenkundiger, erklärlich allerdings durch seinen rassistischen Kontext, Härte gegen den mutmaßlichen Täterkreis nordafrikanischer Herkunft zu zeigen.

„Nein“ heißt nur bedingt „Nein“

Auch wenn die Bundesregierung und das SPD-geführte Justizministerium laut eigener Aussage diesen Straftatbestand ausweiten wollen, bleibt auch der nun vorliegende Gesetzesentwurf hinter den Erwartungen zurück. Zwar soll die bestehende Regelung um das berühmte „Nein“ ergänzt werden. Wird dieses „Nein“ missachtet, soll künftig der Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt sein. Damit wird jedoch die grundlegende Kritik am bisherigen Gesetz nicht berücksichtigt: „Ob eine Tat strafbar ist oder nicht, hängt normalerweise nicht vom Verhalten des Geschädigten ab - außer, es geht um die sexuelle Selbstbestimmung.“ (SZ: Nein soll nun doch Nein heißen, Artikel vom 15.05.2016, online verfügbar unter www.sueddeutsche.de/panorama/sexualstrafrecht-nein-soll-nun-doch-nein-heissen-1.2994818)

Auch mit der neuen Rechtslage sind Konstellationen denkbar, die nicht direkt erfasst würden: etwa, wenn eine Frau von der Situation überfordert ist und sich gegen ihren - zuvor erklärten - Willen fügt, ohne dass ihr ein „empfindliches Übel“ droht - etwa Schläge - und der Angriff für sie auch nicht überraschend kommt. Auf solche Fälle weist das Deutsche Institut für Menschenrechte in einer aktuellen Stellungnahme zu dem Entwurf hin. Damit, so das Institut, stimme das Vorhaben nicht mit den Anforderungen der Europaratskonvention überein.

Bei jedem Autodiebstahl ist es irrelevant, ob der Besitzer lautstark Protest gegen die Entwendung seines Wagens bekundet hat oder nicht. Diebstahl bleibt Diebstahl und wird wegen unerlaubter Aneignung fremden Eigentums bestraft. Dass sich umgekehrt von sexueller Gewalt Betroffene trotz massiven physischen und psychischen Drucks in einer solchen Situation erst „körperlich wehren“ müssen, ist mehr als zynisch. „Völlig auf Kriterien zu verzichten und eine sexuelle Handlung gegen den Willen der betreffenden Person grundsätzlich unter Strafe zu stellen - das hatte der Justizminister in der Vergangenheit immer wieder abgelehnt.“ (SZ: Ebd.)

Dahinter verbirgt sich die Angst vor Falschanzeigen und einer Kriminalisierung „sozialüblicher Verhaltensweisen“ zu Beginn einer Beziehung. Auf diese Auffassung reagierten verschiedene Frauenverbände, aber auch Grüne mit heftiger Kritik. Ausgerechnet die Unionsfraktion und der Bundesrat forderten das SPD-Justizministerium zur Überarbeitung des Gesetzesentwurfs auf. So schlägt der Bundesrat vor, dass es künftig „allein auf den erkennbaren Willen des Opfers ankommen soll - und zwar unabhängig davon, ob Betroffene diesen ausdrücklich erklären oder ob er aus den Umständen ersichtlich wird“ (SZ: Ebd.).

Sexuelle Selbstbestimmung von LGBTI-Menschen

Eine weitere Unzulänglichkeit des Gesetzesentwurfs wurde dabei nicht in gleichem Maße kritisiert. Selbst innerhalb des bürgerlichen Rechtsverständnisses irritiert die ungewöhnliche Limitierung des Gesetzes auf Übergriffe von Männern gegen Frauen. Darin offenbart sich ein heteronormatives Verständnis von Sexualität sowie sexuell motivierter Gewalt: Frauen als Opfer sich nicht beherrschen könnender Männer als Täter.

Doch wie sollen sich Homosexuelle, Transmenschen und andere Personen des LGBTI-Spektrums gegen eben solche sexuelle Gewalt juristisch zur Wehr setzen? Der Gesetzesentwurf gaukelt die falsche Realität vor, dass sexuelle Übergriffe ausschließlich zwischen (unterlegenen) Frauen und (überlegenen) Männern stattfinden. Damit werden die oben genannten LGBTI-Gruppen bewusst ausgeschlossen und sie betreffende Straftaten ausgeblendet. Der „historische Paradigmenwechsel“, der laut Süddeutscher Zeitung eingeläutet wird, gilt somit nicht für alle Menschen und Betroffenen gleichermaßen.

Durch die Vorlage des in vielen Teilen weiterhin nicht ausreichenden Gesetzesentwurfs diskrediert sich die Sozialdemokratie einmal mehr. Die SPD überlässt trotz Führung des Justizressorts der CDU/CSU das Feld, die nicht mehr nur als „Law and Order“-Partei, sondern zusätzlich auch als Beschützerin der (deutschen) Frauen auftrumpfen kann. Insgesamt wird deutlich, dass sich die Bundesregierung nur widerwillig und gezwungenermaßen mit dem Thema der sexuellen Selbstbestimmung auseinandersetzt.

Sicherer Hafen?

Für uns muss klar sein, dass nur sexuelle Handlungen in gegenseitigem Einverständnis straffrei bleiben dürfen. Es darf keine Hintertür und Interpretationsspielräume für TäterInnen und keine Beschuldigung von Opfern geben! Allerdings änderte auch ein verbesserter Gesetzentwurf nichts an der Tatsache, dass das bürgerliche Recht gleiches Recht für höchst ungleiche Bedingungen ist, Recht einer Klassengesellschaft bleibt!

Laut einer Studie der EU-Grundrechteagentur FRA hat jede 3. Frau nördlich des Mittelmeers schon vor ihrem 15. Lebensjahr sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren, 22% durch ihren eigenen Lebenspartner. Jährlich beteiligen sich 400.000 weiße deutsche Männer am „Sexurlaub“. Laut Frauenrechts-NGO-Foundation of Women's Forum gibt es in Europa eine halbe Million Zwangsprostituierte. Terre des Hommes schätzt, dass weltweit 220 Millionen der Opfer Kinder sind. Die vom bürgerlichen Gesetz geschützte Ehe, Familie und Freiheit des Kapitals sind nicht Schutzräume für Angehörige und Beschäftigte der Sexindustrie, sondern Ursachen ihrer Opferrolle! Diesem Personenkreis wird wegen ihres von der kapitalistischen Klassengesellschaft erzeugten und aufrechterhaltenen Abhängigkeitsstatus auch eine konsequentere Gesetzesreform wenig nützen.

Gleiches Recht und Kapitalismus

Auch wenn wir eine Gesetzesverschärfung unterstützen: Der Kampf um Frauenbefreiung und für die vollständige Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von LGBTI-Menschen kann nur gelingen, wenn die ArbeiterInnenklasse geschlossen dafür kämpft. Unter den bestehenden Herrschaftsverhältnissen und solange das Kapital von Spaltung und Unterdrückung profitiert, sind sowohl Frauenrechte als auch soziale Standards jederzeit bedroht und können revidiert werden. Allen Angriffen auf bestehende Rechte und dem Kampf um deren Ausweitung muss sich die ArbeiterInnenklasse als Ganzes stellen. Wir müssen uns geschlossen gegen diejenigen wenden, deren Interessen grundverschieden von denen der Lohnabhängigen sind.

Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus - kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung!

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Nr. 210, Juni 2016
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