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Brasilien nach dem Sturz von Dilma

Ordnung und Rückschritt

Markus Lehner, Neue Internationale 210, Juni 2016

Nach der Übernahme der Regierungsgewalt am 12. Mai erklärte der neue Interimspräsident Michel Temer, dass nunmehr wieder der Leitspruch des Staatswappens, Brasiliens „Ordnung und Fortschritt“, durchgesetzt werde. Schon während der Mobilisierungen zum Sturz der PT-Regierung unter der nun suspendierten Dilma Rousseff war diese Plattitüde „Zurück zu Ordnung und Fortschritt“ der Hauptslogan. Zusätzlich erklärte Temer in seiner Antrittserklärung, nach den Monaten der Auseinandersetzung müsse jetzt Schluss sein mit dem politischen Streit und alle Kräfte müssten zusammen arbeiten für die Überwindung der politischen und ökonomischen Krise.

Diese Beschwörungsformeln sind weit von der Realität Brasiliens entfernt. Fast symbolisch für die Seite des „Fortschritts“ steht die am 12. Mai ernannte neue Regierung unter Führung des bisherigen Koalitionspartners der PT, der PMDB. Die PMDB (Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung) ist eine der beiden traditionellen Parteien des brasilianischen Establishments. Gegründet als Sammelbecken der bürgerlichen legalen Opposition während der Militärdiktatur, ist ihre Führung dominiert vor allem von den alten Provinz- und Großgrundbesitzereliten – tatsächlich ist die PMDB so etwas wie das Zentrum der Korruption als Regierungssystem auf allen Ebenen, das sich nunmehr zum Hoffnungsträger des „Kampfes gegen die Korruption“ aufschwingt.

Die Putschisten – korrupt und erzreaktionär

Bezeichnend ist nicht nur, dass ein Großteil der PMDB-Politiker, die gerade Dilma aus dem Amt gejagt haben, selbst in Verfahren wegen schwerwiegendem Korruptionsverdacht involviert ist. So wurde Temer vom obersten Gerichtshof für die nächste Wahl wegen seiner laufender Ermittlungsverfahren ausgeschlossen; der Hauptbetreiber des Impeachmentverfahrens gegen Dilma, Parlamentspräsident Cunha, wurde gerade erst selbst seines Amtes enthoben, da seine Korruptionsaffären zum Himmel stanken.

Der Gipfelpunkt ist jetzt sicherlich, dass die neue Regierung für „Ordnung und Fortschritt“ nunmehr selbst konservative Zeitungen wie die „Folha de Sao Paolo“ an finstere Vorzeiten erinnert: keine einzige Frau im Kabinett, kein einziger Schwarzer oder Indigener, kaum jemand unter 60 Jahren – ein Kabinett alter weißer Männer, von denen fast jeder seine Korruptionsaffäre im Gepäck mitbringt. Originalton „Folha“: solch ein Kabinett haben wir seit Geisel, dem langjährigen deutschstämmigen Militärdiktator der 70er- und 80er Jahre, nicht mehr gesehen. Der Erziehungsminister gehört einer Fraktion an, die mit allen Mitteln gegen die Gleichstellungspolitik (für Frauen wie auch für LGTB-Menschen) der PT-Regierung Front gemacht hat. Der Justizminister hat sich als Sicherheitschef von Sao Paolo einen Namen gemacht durch Lob für die berüchtigten Exzesse der Militärpolizei in den Favelas. Der Sozialminister äußerte sich gleich zum Wert der „Bolsa Familia“ (der von der PT eingeführten sozialen Grundsicherung) als Wohltaten für „den Abschaum der Gesellschaft“. Und im Kongress haben nun Großgrundbesitzer wie Luis Carls Heinz das Kommando, der schon mal in Bezug auf Schwarze, Indios und Homosexuelle erklärte, dass dies der Teil der brasilianischen Gesellschaft sei, „den man nicht braucht“.

Um gleich mal klar zu machen, in welche Richtung der „Fortschritt“ der neuen Regierung geht, gehörten zu den ersten Repräsentanten der „Zivilgesellschaft“, die von Temer zu Gesprächen in den Präsidentenpalast eingeladen wurden, die Führer der stetig wachsenden evangelikalen Bewegung Brasiliens. Diese erklärten sich sofort begeistert davon, dass die neue Regierung wieder die Werte der „christlichen Familie“ hoch halte – ist doch eines der Mantras der Evangelikalen, dass Homosexualität eine um sich greifende „Krankheit“ sei, die eingedämmt und „geheilt“ werden müsse. Dass diese Reaktionäre, die inzwischen der katholischen Kirche ein Drittel ihrer Mitglieder abgeworben haben, von der neuen Regierung hofiert werden, ist kein Wunder. Sie gehörten zu einem Stützpfeiler der in den letzten Monaten immer reaktionärer werdenden Bewegung für den Sturz der Dilma/PT-Regierung.

Dabei war die Protestbewegung gegen Dilma vor zwei Jahren durchaus mit progressiven Elementen ins Leben gerufen worden. Angesichts der wachsenden Krise in Brasilien (seit etwa 2012), der wachsenden Arbeitslosigkeit und Verelendung auf der einen Seite und der Involvierung vieler führender PT-Politiker in Korruptionsaffären andererseits, war Protest mehr als gerechtfertigt. Die „Arbeiterpartei“ PT hatte nicht nur viele Verschlechterungen in Bezug auf öffentliche Leistungen (z.B. bei den Fahrpreisen im öffentlichen Verkehr, vor allem aber bei der Rentenreform) mitgetragen, sie etablierte sich auch immer frecher in der Posten- und Pfründewirtschaft des brasilianischen Establishments. Insbesondere die Verwicklung hoher PT-Funktionäre in Milliarden-Schmiergeld-Vorwürfe um den halb-staatlichen Öl- und Energiekonzern Petrobras brachte bei vielen das Fass zum Überlaufen. Ausgelöst durch Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen kam es zu landesweiten Demo-Wellen, die ein Ende des korrupten und anti-sozialen Systems in Brasilien forderten. Doch bald schon gelang es der Rechten, die Hegemonie über diese Bewegung zu erlangen – und sie von einem generellen Protest gegen Verelendung und das korrupte politische System in Brasilien  umzuwandeln in eine Protestbewegung gegen die PT und für „Ordnung und Fortschritt“, für ein „starkes Brasilien“, in dem es sich wieder lohnt, „Geschäfte zu machen“.

Wesentlicher Hebel für diese Wende war wieder einmal ein lateinamerikanisches Medienkonglomerat (wie schon einmal in Venezuela versucht). Der Globo-Gruppe gehören 112 Fernsehstationen, 80 Radiosender und vier überregionale Tageszeitungen. Täglich sehen 91 Millionen BrasilianerInnen Globo TV – und seit Monaten ist dort von fast nichts anderem die Rede gewesen als von der Notwendigkeit, die PT-Regierung abzulösen. Ein Land mit einem der größten Armutsprobleme der Welt leistet sich das weltweit zweitgrößte TV- und Rundfunknetz – und dieses ist unter Kontrolle einer der reichsten und einflussreichsten Industriellenfamilien Brasiliens, der Marinhos. Nicht zufällig sind die Marinhos auch Teil des wohl mächtigsten Industriellenverbands Brasiliens, der FIESP (Industriellenvereinigung des Staates Sao Paolo). Die FIESP zählt seit ihrer Kampagne gegen die Finanztransaktionssteuer der Dilma-Regierung zu den Hauptfinanziers der Oppositionsbewegung. Klar auch, dass der Versuch, die Medienkonzentration in Brasilien per Gesetz aufzubrechen, mit einer gewaltigen Kampagne zur „Verteidigung der Pressefreiheit“ beantwortet wurde. Aufgrund der Einflussnahme weniger Privatkapitale auf so gut wie alle großen Medien in Brasilien wird das Land inzwischen bereits auf Rang 104 gemäß dem Pressefreiheitsindex der „Reporter ohne Grenzen“ geführt.

Die Bedeutung dieser Medienmacht wurde in den letzten 2 Jahren, die bis zum Sturz der Dilma-Regierung führten, deutlich. Während auf der einen Seite für fast alle Miseren in Brasilien die PT-Regierung als verantwortlich dargestellt wurde, gelang es auch hunderten bezahlten Journalisten in mehreren Monaten Recherche nicht, Dilma auch nur ein einziges Korruptionsvergehen handfest nachzuweisen. Stattdessen wurden Gerüchte, Halbwahrheiten und Falschmeldungen in Masse produziert. Bezeichnend: Kurz vor Beginn des Impeachment-Prozesses wurden in den Abendnachrichten 14 Minuten darauf verwendet, über ein abgehörtes Telefonat zwischen Dilma und dem Ex-Präsidenten Lula zu spekulieren. Eine Liste des Baukonzerns Odebrecht, die am gleichen Tag öffentlich wurde, in der tatsächlich belegbar 200 wichtige Politiker der direkten Geldannahme überführt wurden, war nicht mal 2 Minuten Bericht wert. Wahrscheinlich, weil es sich vor allem um Politiker der Rechten, wie dem Oppositionsführer Aecio Neves (PSDB – der anderen großen bürgerlichen Partei) handelte, verschwand diese Liste seitdem auch ganz aus den Medienberichten.

Es wird von den Befürwortern des „Impeachments“ von Dilma auch keineswegs geleugnet, dass der ursprüngliche Plan, Dilma wegen Korruptionsvorwürfen ihres Amtes zu entheben, mangels tatsächlicher Beweise aufgegeben werden musste. Inzwischen wird auch offen gesagt, dass es eigentlich gar nicht um irgendwelche juristischen (also verfassungsgemäß relevante) Fragen ginge, sondern dass Dilma „politisch untragbar“ geworden sei. Als Feigenblatt wurde zwar der läppische Vorwurf der Haushaltsmanipulation vor der Wahl hervorgekramt – aber Zahlungsaufschub zur Finanzierung von Haushaltsposten auf einen Termin nach den Wahlen ist weltweit gängige Praxis und führte bisher nirgendwo zu Amtsenthebungen. Da die brasilianische Verfassung kein parlamentarisches Verfahren zur Abwahl des direkt gewählten Präsidenten kennt, ist ein juristisch derart konstruiertes Amtsenthebungsverfahren natürlich ein kalter Putsch eines anderen Verfassungsorgans mithilfe einer willfährigen Justiz.

Demokratischer Imperialismus und die Putschisten

Dass die „internationale Gemeinschaft“ des Kapitals diesen kaum verkappten Putsch mit breiter Medienunterstützung akzeptiert bzw. wohlwollend zur Kenntnis nimmt, hat seinen Grund in der Gesamtentwicklung in Lateinamerika. Nach einem gewissen Aufschwung seit der Jahrtausendwende und der Beruhigung der Lage in Argentinien befand sich Südamerika insgesamt in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, kombiniert in vielen Ländern mit der Etablierung von „Linksregierungen“, die mit dem entsprechenden „sozialen Frieden“ für Investitionssicherheit sorgten. Seit Brasilien mit dem Einbruch des Welthandels nach 2009 Schritt für Schritt in eine schwere ökonomische Krise geschlittert ist, ist der südamerikanischen Erholung die Lokomotive verloren gegangen. Das Kapital setzt auf dem gesamten Halbkontinent verstärkt wieder auf Rechtsregierungen mit guten Kontakten zum US-Kapital, das wieder einmal mit breit angelegten Dollar-Investitionen im Falle politischer Willfährigkeit winkt.

In Brasilien war die PT in ihrer Koalition mit der PMDB zwar zu allen möglichen „Reformen“ bereit – seit der Verschärfung der ökonomischen Krise in den letzten 3 Jahren (die Rezession letztes Jahr mit über 3% schrumpfender Wirtschaftsleistung soll sich dieses Jahr ungebremst fortsetzen), setzte die PT jedoch wieder auf „keynesianisches Gegensteuern“. D.h. statt der geforderten restriktiven Haushaltspolitik wurde versucht, über staatliche Investitionen und Erhalt der Massenkaufkraft (keine Kürzungen bei der Sozialhilfe, Erschwerungen von Massenentlassungen, etc.) die Ökonomie wieder anzukurbeln. Es war diese unmittelbare Weigerung, die Weisungen des IWF und der Weltbank sowie der „Ratgeber“ aus USA und EU umzusetzen, die Dilma für das Establishment zu einem „politisch untragbaren“ Faktor gemacht hat. Das Hauptschlagwort des Temer-Regierungsprogramms ist denn auch, dass die neue Regierung wieder „business friendly“ sei, die notwendigen vom IWF geforderten „Reformen“ umgesetzt würden und damit große Investitionen aus dem Ausland zu erwarten seien, die die Krise überwinden werden.

Die zu erwartenden Maßnahmen der „business friendly“-Regierung sind denn auch Einschnitte in das Arbeitsrecht, das Streikrecht und in die sozialen Sicherungssysteme. Ganz abgesehen von dem Gerede über die „Einheit der Nation“ ist es klar, dass die Temer-Regierung vor allem eine Regierung der Konfrontation mit den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sein wird. Insofern ist auch die „konservative Wende“ und Betonung der „Ordnung“ in „ordem e progresso“ zu verstehen. Die brasilianische Gesellschaft muss auf eine Welle der Repression und Gleichschaltung vorbereitet werden. Schon derzeit ist das Ausmaß der Polizeigewalt gegenüber Favela-BewohnerInnen und ethnischen oder auf Grund ihrer sexuellen Orientierung Unterdrückten enorm. Fast täglich werden Schwarze oder Menschen ohne offizielle Unterkunft Opfer von Erschießungen durch Polizeieinheiten. Nicht zufällig häuften sich nach dem Regierungswechsel Veröffentlichungen von Filmen von Vergewaltigungen von Favela-Bewohnerinnen in sozialen Medien. Dieses generell reaktionäre Klima wird jetzt noch durch die „Putschisten“ bestärkt: Veranstaltungen an Universitäten gegen die neue Regierung wurden verboten (ein solcher Eingriff in die Uni-Autonomie war seit der Militärdiktatur tabu), Gewerkschaftsversammlungen wurden polizeilich aufgelöst (mit der Begründung, Gewerkschaftsrechte würden für politische Zwecke „missbraucht) und Demonstrationen gegen die Putschisten wurden teilweise brutal angegriffen (so kam es bei einer Veranstaltung der MST – der Bewegung der landlosen ArbeiterInnen – wieder einmal zur Erschießung eines Redners). Bei Zuspitzung der Proteste gegen die Temer-Regierung ist zu erwarten, dass es zu einer weiteren qualitativen Steigerung dieser Repressions-Struktur kommt. Im äußersten Fall wird die „business friendly“-Polit-Elite sicher auch nicht zögern, wieder einmal nach dem Militär zu rufen, um „Investitionen zu sichern“.

Was tut die PT?

Die PT (zu deutsch „ArbeiterInnenpartei“) wird von uns weiterhin als „bürgerliche ArbeiterInnenpartei“ gesehen – d.h. als Partei, die sozial in der ArbeiterInnenklasse verankert ist, aber als Teil des bürgerlichen Herrschaftssystems bürgerliche Politik betreibt und letztlich, wenn es auf sie ankommt, die Herrschaft des Kapitals verteidigen wird. Entstanden aus den ArbeiterInnenkämpfen vor allem der IndustriearbeiterInnenschaft von Sao Paolo und Umgebung gegen die Militärdiktatur, hat sie anfänglich sogar zentristische Flügel enthalten, die sie jedoch mit ihrer Transformation zu einer möglichen Regierungspartei Anfang der 90er Jahre entweder an den Rand oder ganz aus der Partei gedrängt hat. Spätestens mit der Präsidentschaft ihres langjährigen Vorsitzenden, Inácio da Silva – genannt Lula -, wurde die Wende zu einer sozialdemokratischen Systempartei vollzogen. Neoliberale Rentenreform, gepaart mit einigen Sozialreformen wie der Einführung der Bolsa Familia, fügen sich in das Bild der Post-2000er-Sozialdemokratie. Dazu kommt die immer stärkere Verstrickung der PT in Schmiergeldsysteme um Auftragsvergaben und staatliche Konzerne. Insbesondere war die PT auch Teil des milliardenschweren Korruptionssystems um die staatliche Energiewirtschaft, eines Systems, das in Brasilien den Spitznamen „Lava Jeto“ (in etwa „Hochdruckreiniger in Autowaschanlagen“ – symbolisch für das effektive und rasche Geldwaschsystem) bekannt wurde. Allerdings sind nicht einmal ein Viertel der jetzt Angeklagten PT-Mitglieder, der Großteil kommt aus den Parteien, die jetzt die Regierung übernommen haben.

Aus der Regierung gedrängt, geriert sich die PT jetzt vornehmlich als unschuldiges Opfer. Auch Lula, angesichts eines drohenden Prozesses gegen sich, mutiert wieder zum ArbeiterInnenführer von einst, der mit heiserer Stimme auf Massendemonstrationen gegen Kapital und gleichgeschaltete Presse und Justiz wettert. Wir wissen, was wir von solchen FührerInnen der ArbeiterInnenklasse zu erwarten haben – vor allem die Verteidigung ihrer eigenen Pfründe. Andererseits ist die PT über den mit ihr verbundenen Gewerkschaftsverband CUT (übersetzt etwa „Vereinigter Gewerkschaftsdachverband“) unbestreitbar weiterhin eng mit der sich nunmehr mobilisierenden ArbeiterInnenklasse verbunden. Die CUT ist bei weitem die größte und mobilisierungsfähigste der Gewerkschaftsverbände (der zweitgrößte Verband, FO,  steht der gegenwärtigen Regierung nahe und agiert nicht erst jetzt als Streikbrecherorganisation). Die linken Gewerkschaftsverbände (wie Conlutas, die der PSTU nahesteht) spielen nur in wenigen Regionen und Betrieben eine wichtige Rolle und können ohne die CUT nicht wirklich wirksam landesweit agieren.

CUT und PT-Führung agieren nun derzeit abwartend und legalistisch. Die PT betont die Illegitimität der Installation der Temer-Regierung, setzt auf Gerichte und Druck auf Abgeordnete und Senatoren, um die Suspendierung von Dilma wieder aufzuheben und die „verfassungsgemäße“ Regierung der PT wieder ins Amt zu heben. Dem ordnet sich letztlich auch die Mobilisierung der CUT-Führung unter. Statt mit aller Macht gegen die zu erwartenden Angriffe des Kapitals und die wachsende autoritäre/reaktionäre Umwandlung des politischen Systems zu mobilisieren, setzen die ReformistInnen (welch „Wunder“) – auf die Rückkehr der alten PT-Regierung (die auch bei den ArbeiterInnen fast ebenso verhasst ist wie die neue Regierung). Statt auf den anmarschierenden Generalangriff mit der Vorbereitung auf einen Generalstreik zu antworten, wurden lange nur eintägige Protestaktionen angekündigt. Ende Mai hat die Leitung der CUT endlich zur Vorbereitung eines Generalstreiks aufgerufen. Es bleibt aber offen, ob sie damit eine unbefristete Arbeitsniederlegung oder nur einen zeitlich begrenzten Demonstrationsstreik meint.

Mobilisierungen

Andererseits ist es zweifellos der Fall, dass der Sturz der PT-Regierung, die reaktionären Ankündigungen der herrschenden Parteien und die sich abzeichnenden Angriffe auf allen Gebieten zu einer großen Mobilisierung in der brasilianischen ArbeiterInnenklasse, unter den landlosen BäuerInnen und vielen sozial unterdrückten Teilen der Bevölkerung geführt haben. Hunderttausende gingen während und nach dem Amtsenthebungsverfahren auf die Straße, um gegen die neuen Machthaber zu demonstrieren. Nicht nur um PT und CUT, sondern vor allem um bestimmte soziale Bewegungen herum formierte sich Widerstand. Dazu zählt die MST, die seit Jahren allerdings immer stärker mit der PT verbunden ist. Seit einigen Jahren hat sich daher um das Thema der Wohnungsnot eine Organisation der mehr städtischen Armut, die MTST (Bewegung der ArbeiterInnen ohne legale Unterkunft) gebildet. Um diese Organisationen haben sich derzeit breite Bündnisse (vor allem: „Povo sem medo“ = „Volk ohne Furcht“, „Frente Brasil Popular“) gebildet, die über eigene örtliche Strukturen verfügen und politische Aktionen auf allen Ebenen organisieren. Auch wenn die Namen der Organisationen stark an „Volksfronten“ erinnern, so sind in ihnen keine bürgerlichen Kräfte in nennenswerter Weise vertreten (es sei denn, man würde links-katholische Sozialinitiativen als solche bezeichnen wollen), sondern vor allem PT, CUT, MST und MTST, PSOL, einige maoistische Organisationen sowie eine Reihe von mit diesen Organisationen verbundenen Basisinitiativen oder Jugendorganisationen.

Die Führung dieser Allianzen, also v.a. die PT- und CUT-Bürokratie, verhindern jedoch, dass diese Bündnisse von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Bauern, also Einheitsfrontn der Unterdrückten, ihr Potenzial wirklich realisieren, da sie diese als Schritt zu Aufbauorganisationen für klassenübergreifende Bündnisse „zum Schutz der Demokratie“ betrachten. Hier zeigen sich die fatalen Auswirkungen einer solchen Strategie. Die „demokratischen“ bürgerlichen Kräfte denken nicht daran, sich mit der ArbeiterInnenklasse und den Unterdrückten gegen die Putschisten zu verbünden. Diese Ausrichtung der reformistischen Führungen und ihr krampfhafter Legalismus lähmen die Bewegung. Statt mit der Bourgeoisie und den Imperialisten zu brechen, zum politischen Massenstreik gegen die Putschisten zu mobilisieren und Selbstverteidigungsorgane der ArbeiterInnen und Bauern aufzubauen, halten PT und CUT die Bewegung zurück. Noch mehr als die Putschisten fürchten Dilma, Lula und Co. offenkundig eine für sie schwer kontrollierbare Eskalation der Lage, die zu einer revolutionären Zuspitzung führen könnte.

Auch deshalb schreit die Situation nach einer konsequenten revolutionären Kraft, die eine sozialistische Alternative präsentieren und den Massenprotesten einen Weg zu einem sozialistischen Ziel aufzeigen kann. In der brasilianischen radikalen Linken herrscht dagegen derzeit große Uneinigkeit sowohl über die Analyse der Ereignisse (Putsch oder Business-as-usual), das Verhalten zur PT und den von ihr geführten Mobilisierungen sowie zum Verhältnis zu den verschiedenen Mobilisierungs-Bündnissen.

Das Versagen der zentristischen Linken

Die zentristischen Linken, die weiterhin innerhalb der PT verblieben sind (z.B. „O Trabalho“), folgen nicht überraschend weitgehend den Protestaufrufen der PT-Führung ohne Kritik an der verfehlten Perspektive, mit illusorischen Hoffnungen auf eine veränderte PT, sollte sie wieder an die Regierung kommen.

Die PSOL (Partei für Solidarität und Freiheit), die großteils aus zentristischen Strömungen entstand, die im Laufe der 1990er und 2000er Jahre aus der PT gegangen sind, reihte sich in den Protest gegen das Impeachment ein. Die PSOL (in der inzwischen auch die Schwesterorganisationen von RSB, ISL, SAV und anderen als Tendenzen aktiv sind) war auf Seiten der Linken in den letzten Jahren auf Wahlebene die erfolgreichste Partei (gerade in letzter Zeit wurden auch einige bemerkenswerte regionale Ergebnisse erzielt) und ist auch mit 6 Abgeordneten im Kongress vertreten. Diese stimmten dort gegen den Amtsenthebungsantrag und erklärten im Parlament den Zusammenhang zwischen dem Impeachment und dem eigentlichen Zweck, der Vorbereitung eines Generalangriffs. Auch ist die PSOL Teil verschiedener Mobilisierungsbündnisse, in denen sie eine zunehmende Rolle auch als Partei-Alternative zur PT spielt. Ihre politischen Erklärungen beschränken sich jedoch auf die Verurteilung des Putsches und auf die Verteidigung demokratischer und sozialer Rechte. Die Notwendigkeit, den Generalangriff mit einer entsprechenden Gegenwehr, etwa einem Generalstreik zu beantworten, und die Frage des Aufbaus von Gegenmachtorganen, letztlich der Kampf um einen revolutionären Sturz des Putschistenregimes fehlen völlig, passend zur Verwandlung der PSOL in eine Art „Linkspartei“ Brasiliens. Auch ihr Verbündeter, die kleinere PCB (die Reste der Traditions-KP), verknüpft die PSOL-Linie nur abstrakt mit dem Fernziel „Sozialismus“ und setzt derzeit erstmal auf die Verteidigung der demokratischen Etappe.

Die PCO („Kommunistische ArbeiterInnenpartei“, aus der Altamira-Tradition des lateinamerikanischen Trotzkismus kommend, aber mit zum Teil wichtigen betrieblichen Verankerungen) gehört seit Jahren zu den Propheten eines bevorstehenden Putsches und sieht jetzt ihre Stunde gekommen. Auch ihrer Mobilisierung für die Proteste fehlt die Kritik an der PT und ihrer Strategie sowie eine über die Proteste hinausweisende Perspektive – auch sie sehen jetzt vor allem die Notwendigkeit, „Organe der Volksmacht“ zu schaffen, fern von jeder ArbeiterInneneinheitsfront und der Frage der ArbeiterInnenmacht.

Auf der anderen Seite des Spektrums stehen aus dem Morenoismus stammende Organisationen wie PSTU („Vereinigte sozialistische ArbeiterInnenpartei“, größte Sektion der offiziellen morenoistischen Internationale, der LIT) und MRT („Revolutionäre ArbeiterInnenbewegung“, Sektion der Fracción Trotskista, in Deutschland mit RIO verbunden). Beide erkennen nicht den Charakter der PT als bürgerlicher ArbeiterInnenpartei und deren spezielle Rolle in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie. Folglich sieht die PSTU (und damit die sicherlich mitgliederstärkste Organisation der brasilianischen radikalen Linken) im Impeachment nur die Auseinandersetzung zwischen zwei Flügeln der Bourgeoisie, bei der die ArbeiterInnenklasse neutral zu bleiben habe (und charakterisiert daher das Abstimmungsverhalten der PSOL-Abgeordneten als eine Art 1914 der PSOL). Von beiden Lagern seien nur Angriffe zu erwarten und zwischen Temer und Dilma gebe es letztlich keine Unterschiede. Von daher war die Losung der PSTU während der politischen Krise die des Generalstreiks gegen die PT-Regierung UND gegen die mögliche Temer-Regierung – zum Zweck der Erzwingung von Neuwahlen! Diese Linie wurde auch von Conlutas in ihre Betriebsorganisationen in Sao Paolo hineinzutragen versucht. Allerdings erwies sich der Aufruf als nicht besonders vermittelbar – PSTU/Conlutas haben sich weitgehend von der großen, PT-geführten Protestbewegung isoliert.

Die MRT hat zwar den Putsch der Rechten als solchen erkannt und auch den Protest dagegen für berechtigt erklärt. Andererseits teilt sie mit der PSTU die Einschätzung, dass eine gemeinsame Front mit der PT in keinem Fall zulässig sei und interveniert daher in die Proteste mit dem Aufruf (vor allem an die CUT), mit der PT zu brechen. In der konkreten Situation bedeutet das, den ArbeiterInnenmassen, die die PT noch als ihre Partei und Führung betrachten und mit ihr gegen die Putschisten kämpfen wollen, ein Ultimatum zu stellen, den Bruch mit der reformistischen Führung zur Vorbedingung gemeinsamer Aktion gegen die unmittelbar angreifende Reaktion zu machen. Das ist nicht nur eine ultra-linke, dem Stalinismus der Dritten Periode entlehnte Karikatur der Einheitsfronttaktik, es ist auch eine Politik des abstrakten, passiven Propagandismus ohne konkrete Kampfperspektive.

Perspektive

Es ist in der gegenwärtigen Situation notwendig, mit allen ArbeiterInnen und ihren Organisationen, die zum Widerstand bereit sind, Front gegen die Angriffe der Putschisten zu machen. Dabei müssen wir von der Situation ausgehen, dass ein wesentlicher Teil der brasilianischen ArbeiterInnenklasse weiterhin der Führung von CUT und PT folgt – wenn auch mit großer Skepsis. Auch unter den Bedingungen, dass die Führungen der Mobilisierungsfronten von PT und anderen reformistischen oder kleinbürgerlich radikalen Kräften dominiert werden, müssen wir den Schritt zusammen mit der Masse der kampfbereiten ArbeiterInnen, Jugendlichen, sozial Unterdrückten und KleinbäuerInnen gehen. Wir müssen aufzeigen, dass die Volksfrontperspektive und die legalistische „Verteidigung der Demokratie“ eine Illusion sind angesichts der hinter dem Putsch stehenden Ziele.

Dazu ist es aber unbedingt notwendig, selbst in den Bündnissen und Organisationen des Widerstandes zu arbeiten. Unsere brasilianischen GenossInnen der Liga Socialista arbeiten deshalb innerhalb von CUT und den Mobilisierungsfronten. Wir treten für die Vorbereitung eines Generalstreiks gegen die kommenden Angriffe und den Aufbau entsprechender Kampforgane der ArbeiterInnenklasse ein (Streik- und Aktionskomitees, Selbstverteidigungsorgane gegen staatliche Repression und paramilitärische Verbünde). Ein solcher Generalstreik würde seinerseits die Frage der Alternative zur Putschistenregierung konkret aufwerfen – nämlich den Ruf nach einer ArbeiterInnenregierung, die sich auf die Organe des Generalstreiks stützt, die wirtschaftliche und politische Macht der Kapitalistenklasse und GroßgrundbesitzerInnen bricht und die Macht in die Hände von Räten und Milizen der ArbeiterInnen, Landlosen und KleinbäuerInnen legt.

Die Situation der brasilianischen Linken und die Zuspitzung der autoritären Gefahr zeigen die unbedingte Notwendigkeit der Herausbildung einer revolutionären Kampfpartei der ArbeiterInnenklasse, die die Gegenwehr über den Abwehrkampf hinaus zur Frage der Macht im Staat hinaustreiben kann.

Unterstützt den Kampf der ArbeiterInnen, Jugendlichen, sozial Unterdrückten und KleinbäuerInnen gegen den Generalangriff der Putschisten!

Unterstützt den Aufbau der Liga Socialista!

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Nr. 210, Juni 2016
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*  Pseudoradikal: Die Politik von Öko-LinX
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