Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Frauen in Afghanistan

Elend statt Freiheit

Roman Riedl, Neue Internationale 152, September 2010

Das letzte Mal, als wir uns in diesem Saal getroffen haben, waren die Mütter und Töchter Afghanistans Gefangene in ihren eigenen Häusern, ihnen war es verboten zu arbeiten und zur Schule zu gehen. Heute sind die Frauen frei und Teil der neuen Regierung Afghanistans.“ So tönte US-Präsident George W. Bush 2002.

Acht Jahre danach ist die Lage der Frauen in Afghanistan katastrophal. Es ist bezeichnend, dass viele Aktivistinnen der afghanischen Frauenbewegung keine großen Unterschiede zwischen der heutigen Situation und jener unter den Taliban sehen. Oft ist die Situation für Frauen durch den Krieg und die Besatzung sogar noch schlimmer als vorher.

Unmittelbar nach ihrer Machtergreifung 1996 haben die Taliban frauenfeindliche Gesetze erlassen. Frauen war es nun verboten, allein das Haus zu verlassen, sie wurden an Herd und Familie gebunden und per Dekret dem „Familienvorstand“ zum Gehorsam verpflichtet. Die meisten Schulen für Mädchen, v.a. jene für höhere Bildung, wurden geschlossen. In Krankenhäusern war es Ärztinnen und Ärzten sogar verboten, mit dem anderen Geschlecht zu reden.

Frauenbefreiung als ideologisches Feigenblatt

Die angebliche Befreiung der Frauen aus den Fesseln des Taliban-Regimes musste schon unter Bush dafür herhalten, den Krieg von 2001 zu rechtfertigen. Nachdem Obama die Truppenkontingente für die Besatzung Afghanistan im Dezember 2009 erhöht hatte, versicherte US-Außenministerin Hillary Clinton erneut, dass „Frauenrechte ein zentraler Teil der Außenpolitik der Obama-Administration“ seien.

Auch heute wird der ideologische Mantel der Frauenbefreiung vor allem aufgrund der breiter werdenden Ablehnung des Kriegseinsatzes der USA wieder öfter bemüht. Allein die Annahme, dass die imperialistische Besatzung in der Lage wäre, Frauenrechte zu garantieren, ist eine ideelle Konstruktion, die der realen Situation afghanischer Frauen nach mittlerweile fast 9 Jahren Besatzung diametral entgegen steht.

Die Revolutionary Association of Women in Afghanistan (RAWA) hat deshalb vollkommen zu recht darauf hingewiesen, dass die Besatzung keine Legitimität hat, im Namen der Frauenbefreiung zu sprechen. „Befreiung kann nur selbst erkämpft werden – für ein Ende der US-Besatzung“ ist daher einer ihrer zentralen Slogans.

Formale Gleichstellung

Selbst der im Rahmen des bürgerlich-juristischen Verständnisses von Frauenbefreiung erzielte Fortschritt in Afghanistan ist äußerst gering. Die Verfassung von 2004 legt in Artikel 22 zwar fest, dass alle „Bürger Afghanistans - ob Mann oder Frau - gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz“ haben und setzt auch eine Frauenquote für die beiden Häuser der Nationalversammlung fest, wodurch 68 Plätze des „Unterhauses“ (2 für jede Provinz) bzw. auch die Hälfte der von Karzai ernannten Mitglieder des „Hauses der Älteren“ durch Frauen besetzt werden müssen.

Formal ist dies sicher ein Fortschritt. Real muss man sich jedoch von der romantischen Gleichsetzung von verfassungsmäßiger Gleichstellung von Frauen bzw. der Quotenregelung im Parlament einerseits und realer Verbesserungen für die afghanischen Frauen andererseits verabschieden.

Frauen im Parlament

Die weiblichen Abgeordneten sind keineswegs repräsentativ für die durchschnittlichen Probleme afghanischer Frauen. Parlamentarierinnen haben meist hohe Bildung genossen, wogegen jedoch 88% der Frauen in Afghanistan nicht lesen oder schreiben können; sie haben oft lange außerhalb Afghanistans gelebt, wohingegen die meisten afghanischen Frauen die Entbehrungen eines Lebens mit Krieg und Besatzung erfahren haben. Allein die Bestimmung der Verfassung (Artikel 72/2), die „höhere Bildung, Arbeitserfahrung sowie gute Reputation“ zur Voraussetzung für ein MinisterInnnenamt macht, ist beispielhaft für die Zementierung elitärer Strukturen, in denen die Millionen Armen, Bäuerinnen und Arbeiterinnen keinen Platz finden.

Etwa ein Viertel der weiblichen Abgeordneten ist von einzelnen Stammesfürsten zu einer Kandidatur aufgefordert oder gedrängt worden. Sie fristen daher eine Existenz in Abhängigkeit vom guten Willen und somit der politischen Einstellung der jeweiligen Hintermänner. So ist es kein Wunder, dass über 52% der Parlamentarierinnen 2008 in einer Befragung angaben, dass es von ihrer Familie, den Stammesstrukturen oder den jeweiligen Stammesherrschern abhängig ist, ob sie wieder kandidieren.

Darüber hinaus ist das afghanische Parlament nach wie vor ein Marionettenkabinett für eine scheinbar demokratische Legitimierung der US-Interessen. Sollte man es wagen, die US-Besatzung anzuzweifeln oder die Korruption und die Kriegsverbrechen vieler Parlamentsabgeordneter zu thematisieren, droht ein ähnliches Schicksal, wie es die Abgeordnete Malalai Joya erfahren hat: der Ausschluss aus dem Parlament.

Die Frauen-Quote im Parlament kann keinen automatischen Fortschritt bewirken. Vielmehr muss es sich die afghanische Frauenbewegung zur Aufgabe machen, eben jene korrupten Vorgänge in den elitären Strukturen Afghanistans aufzudecken und den vorgeschobenen Anspruch der Frauenbefreiung zu demaskieren. Es braucht dafür eine starke gesellschaftliche Bewegung gegen die Besatzung und den Kampf gegen unterschiedliche Formen der Unterdrückung.

Gesellschaftliche Unterdrückung

Trotz rechtlicher Gleichstellung existiert keinerlei reale Gleichheit. Im Gegenteil: Die Situation der ca. 12 Mill. Frauen in Afghanistan hat sich noch verschlechtert. Immer noch werden ca. 80% der Frauen zwangsverheiratet, 90% erfahren Gewalt in der Familie, meist durch Männer.

Diese Gewaltverhältnisse innerhalb patriarchaler Familienstrukturen werden z.T. auch gesetzlich legitimiert. So legt der Gesetzesentwurf der Karzai-Regierung für das „Schiitische Familien-Recht“ fest, dass eine Frau ihren Mann um Erlaubnis bitten muss, um das Haus zu verlassen; ebenso wurde bestimmt, dass eine schiitische Frau den sexuellen Wünschen ihres Mannes hörig sein und mindestens jede vierte Nacht für den Geschlechtsakt zur Verfügung stehen muss. Nach internationalem Druck, einer Kampagne unterschiedlicher Organisationen der Frauenbewegung und einer Demonstration am 15. April 09 mit mehreren hundert Teilnehmerinnen in Kabul hat der Verfasser des Gesetzes, Ayatollah Mohammed Asef Mohseni, den Text neu interpretiert. Zynisch meinte er, dass die Frau nicht zum sexuellen Akt gezwungen sei, jedoch im Falle einer Weigerung das Recht auf Essen verwirkt habe.

Auch von den Auswirkungen des Krieges und der Rückständigkeit des Landes sind Frauen besonders betroffen. So kommen auf 1.000 Geburten 16 Todesfälle der Mütter. Nur ein Viertel der Frauen kann ihr Kind mit Hilfe einer Hebamme zur Welt bringen. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen betrug 2006 nur 43,3 Jahre und lag damit noch niedriger als in den Vorjahren.

Frauen sind neben der Zusatzbelastung durch die familiäre Reproduktionsarbeit besonders durch ihre Abdrängung in informelle Sektoren der Wirtschaft betroffen. Obwohl sie im Gegensatz zu Männern den Großteil ihrer Zeit auf landwirtschaftliche Tätigkeiten verwenden und Kleinproduktion (z.B. Teppich-Weben) meist zu Hause betreiben, wird nur ein kleiner Teil dieser Arbeit bezahlt.

Frauen sind besonders von Arbeitslosigkeit betroffen - 18% gegenüber 9% bei Männern. Im Schnitt verdienen Frauen nur die Hälfte vom Lohn der Männer, in nicht-landwirtschaftlichen Sektoren beträgt der Durchschnittslohn von Frauen sogar nur 41% von jenem der Männer.

Hintergrund

Die massive Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen in Afghanistan sind auch auf die reaktionäre Struktur der patriarchalen Familie zurückzuführen, die durch die ökonomische Abhängigkeit vom Ehemann bzw. „Familienvorstand“ ständig reproduziert wird. Darüber hinaus gibt es jedoch auch ein gesellschaftlich bedingtes politisch-ideologisches Gerüst, für das auch die US/NATO-Besatzung verantwortlich ist.

Um gegen die Machtergreifung der stalinistisch-bürokratischen „Peoples Democratic Party of Afghanistan“ (PDPA) und den im Dezember 1979 folgenden Einmarsch der Sowjetunion vorzugehen, haben die USA, vermittelt durch den pakistanischen Geheimdienst, unterschiedliche Mujaheddin-Gruppen gefördert.

Nachdem PDPA-Präsident Najibullah 1992 gestürzt und gelyncht wurde, haben die Mujaheddin um die Kontrolle des Landes gekämpft. 1996 schließlich kamen die Taliban an die Macht. Anfänglich haben die USA zuerst noch mit der neuen afghanischen Regierung zusammengearbeitet, bis sie ihr jedoch ein Dorn im Auge geworden war. Nach dem 11. September entschied sich die Bush-Administration, auf alte Freunde zurückzugreifen und ehemals miteinander kämpfende Mujaheddin-Gruppen in der sogenannten Nord-Allianz zu vereinen.

2001 wurde die Taliban-Regierung gestürzt und Hamid Karzai als Präsident eingesetzt. Die zutiefst reaktionäre Ideologie dieser sich auf eine konservative Exegese des Koran berufenden herrschenden Schicht gab es natürlich schon vor der US-Intervention. Der Förderung der USA ist es jedoch zu verdanken, dass diese Gruppen zu einem solch gesellschaftlichen Einfluss gelangen konnten und heute die Regierungsgeschicke leiten.

Frauenbefreiung von unten!

Die Frauenbewegung Afghanistans hat in den letzten Monaten und Jahren nicht nur häufig heroische Proteste organisiert und unter Einsatz des Lebens einzelner Frauen auf ihre Anliegen aufmerksam gemacht. Es handelt sich auch um eine Bewegung, die gelernt hat, unter widrigsten Umständen zu arbeiten. In ihrem autobiographischen Buch „Ich erhebe meine Stimme“ beschreibt Malalai Joya, wie sie unter dem Taliban-Regime illegale Mädchen-Schulen betrieben hat und wie sie mittlerweile vier Mordanschlägen nach ihrer berühmten Rede im afghanischen Parlament entkommen konnte. Dennoch wäre die Einschätzung vermessen, dass der Heroismus allein in der Lage wäre, die nach wie vor von reaktionären Gruppen dominierten Kräfteverhältnisse zu verschieben. Bei den Protesten gegen die Einführung des reaktionären schiitischen Familienrechts standen mehreren hundert Frauen mindest genauso vielen BefürworterInnen des Gesetzes - Frauen miteingeschlossen - gegenüber und bewarfen die Demonstrantinnen mit Steinen.

Um gegen die unterschiedlichen Formen der Unterdrückung und Benachteiligung effektiv ankämpfen zu können, braucht es eine gesamtgesellschaftliche Widerstandsbewegung in Afghanistan, die sich auch der Zurückdrängung unterschiedlichster Formen der Unterdrückung verschreibt. Eine klare Position gegen die Besatzung, wie sie zum Beispiel von RAWA vertreten wird, ist dabei unabdingbar, möchte man als Frauenbewegung nicht Gefahr laufen, als Marionette des westlichen Imperialismus verstanden zu werden, sondern die genuinen Interessen afghanischer Frauen vertreten.

Der Kampf gegen Frauenunterdrückung muss dabei Hand in Hand mit der Perspektive der Überwindung der reaktionären Strukturen der patriarchalen Gesellschaft gehen, die sich v.a. auf (halb)feudale Verhältnisse auf dem Land und die Kleinproduktion in den Städten stützt. Das Aufbrechen der Besitzverhältnisse auf dem Land und die Verteilung von Grund und Boden auch an Frauen müssen genauso in den Mittelpunkt gerückt werden wie die Ablehnung jeglichen nationalistischen Elements, das sich gegen unterdrückte Minderheiten wie z.B. die Hazara richtet. Nach dem massiven Angriff und die zum Teil erfolgte physische Vernichtung der ArbeiterInnenbewegung durch die Mujaheddin und die Taliban, kommt der afghanischen Frauenbewegung gerade in der aktuellen Instabilität des Landes eine enorme Bedeutung zu, die sie nur dann wahrnehmen kann, wenn sie ihre Forderungen als Teil eines Kampfes für die Emanzipation der Armen, der kleinen Bauern und Bäuerinnen, der LandarbeiterInnen und ArbeiterInnen versteht. Die Antikriegsbewegung und die ArbeiterInnenbewegung in den westlichen Ländern ist aufgerufen, diese Bestrebungen zu unterstützen - beginnend mit einer konsequenten ideologischen Abwehr des imperialistischen Propagandafeldzuges als Teils des „Krieges gegen den Terror“.

Leserbrief schreiben   zur Startseite


Nr. 152, Sept. 2010
*  Atomkonflikt: Schwarz/gelber Störfall
*  Heile Welt
*  Massenaktionen gegen S 21: Gegen "die da oben"!
*  Freiheit statt Angst Demo: Überwachungsstaat bekämpfen!
*  Perspektive: Der Flügel fällt - der Kampf geht weiter
*  Arbeitermacht-Sommerschulung: Marxismus praktisch
*  Rassismus: Sarrazin und seine Kritiker
*  20 Jahre Währungsunion: Eine Volkswirtschaft verschwindet
*  NPA und Frankreich: Vor einem heißen Herbst
*  Belgien: Rechtsruck in die Staatskrise
*  Frauen in Afghanistan: Elend statt Freiheit
*  Pakistan: Ohnmacht durch Zorn
*  Pakistan-Solidarität: Hilfe für das Jugendcamp!
*  Gegen die Sparpakete! Für eine europäische Massenbewegung!