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Massenaktionen gegen S 21

Gegen “die da oben”!

Anne Moll, Neue Internationale 152, September 2010

27. August, 19.00 Uhr: Der Platz vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof am Nordflügel reicht nicht aus für die über 50.000 DemonstrantInnen. Immer mehr Menschen strömen auf die Straßen am Bahnhof, um ihren Widerstand deutlich zu machen.

Seit Mittwoch halten sich Hunderte von ihnen durchgehend am Nordflügel auf, seit mit dem Abriss des alten Bahnhofs begonnen wurde. Jeden Abend waren es mehrere Tausend.

Am Grundprinzip des friedlichen Protests, an der Hoffnung, dass die Vernunft siegt und die Menge als solches überzeugen wird, hält die Masse fest. Das betonen auch die führenden Köpfen des Bündnisses K21 auch immer wieder.

Bemerkenswert ist aber, dass das zeitweilige Verhindern der Abrissarbeiten durch die Besetzung des Daches genauso einhellig begrüßt wurde wie die Spontanaktionen einiger hundert DemonstrantInnen. So wurde Oberbürgermeister Schuster bei der Weinfesteröffnung einen Besuch abgestattet und diese gestört. So fanden Gleis- und Straßenbesetzungen statt, welche Zugabfahrten bis zu einer Stunde verzögerten. Am Mittwoch war der Verkehr in der  Innenstadt lahmgelegt.

All das hat die Bewegung nicht gespalten. Im Gegenteil: Wenn auch sehr zögerlich, so sind doch zunehmend die ProtestlerInnen der Meinung, dass die Bewegung radikaler werden muss. “Wenn wir nur brav am Bauzaun stehen, interessiert das Schuster, Mappus und Grube nicht. Wir müssen schon deutlicher werden.“ Das Motto „Wir lassen uns nicht spalten“ ist in aller Munde. Diese Radikalisierung liegt auch daran, dass sich die Massen völlig im Recht fühlen: „Lügenpack“ heißt es ständig, die Sprechchöre für den Rücktritt von Oberbürgermeister Schuster werden zahlreicher.

Massenbewegung

Es ist also eine wirkliche, besondere und auch für die Zukunft bedeutende Massenbewegung, die ohne zentrale Gewerkschafts- und wenig Parteimobilisierung ständig größer wird.

Unter den DemonstrantInnen sind mittlerweile auch SPD-Mitglieder, die sich mit großem Plakat gegen den Parteibeschluss für S21 - die Landespartei befürwortet das Projekt - wenden. Die Bewegung hat es geschafft, die inneren Widersprüche der SPD an die Öffentlichkeit zu spülen. Die Basis und einige Oppositionelle im Landesvorstand und im  Gewerkschaftsapparat wollen nicht mehr schweigen. Ihnen stehen die neoliberalen Sozialdemokraten gegenüber, allen voran der Landesvorsitzende Nils Schmid, der sich nicht mehr zu helfen weiß, als den Grünen vorauszusagen, nach der Landtagswahl im März würden auch sie „zur Realität zurück finden“.

Landtag

Am 27. August gab es eine Demonstration zum Landtag, der umstellt wurde. Die Polizei war in so geringer Anzahl präsent, dass die Bannmeile um den Landtag ohne Probleme von den Demonstranten überwunden wurde. Die Stimmung war gut, es gab keine Provokationen, weder von der Polizei, noch von den DemonstrantInnen. Auch diese Aktion war ein voller Erfolg.

Eine Frage muss allerdings gestellt werden: Wozu wird der Landtag am Freitagabend umzingelt und laut gegen ein leeres Gebäude geschrieen? Falls Ministerpräsident Mappus, SPD-Fraktionschef Drexler, der sich gern Mister S21 nennt, oder Oberbürgermeister Schuster am Montag davon ein Video sehen, werden sie sicher nicht so beeindruckt sein, als wenn sie live im Landtag gesessen hätten.

Die Bewegung wächst, die Protestformen sind bisher jedoch im wesentlichen auf symbolische Aktionen beschränkt. Doch: Kann das allein den Baustopp erzwingen?

Wie den Bau stoppen?

Die Gruppe Arbeitermacht unterstützt die Proteste gegen das Milliardenprojekt S21. Denn die Gelder dafür werden bei der arbeitenden Bevölkerung, den Armen, den RentnerInnen, den MigrantInnen und der Jugend weggenommen. Wir erleben täglich neue Spar- und Kürzungsprogramme von Kommunen, Ländern und Bundesregierung.

Selbst wenn der Kampf gegen S21 nicht gewonnen werden sollte, hat die Bewegung schon jetzt wichtige Ziele erreicht. Die Menschen lernen mit jedem Protesttag, dass sie gemeinsam stark sind, dass Solidarität ein wesentlicher Aspekt jeden Widerstands ist. Selbst wenn die jetzt gewählten Taktiken nicht zum Erfolg führen, werden alle wissen, dass es möglich ist, 50.000 zu mobilisieren. Und diese werden politisiert durch die Auseinandersetzungen und die Propaganda der verschiedenen politischen Gruppen. Sie erhalten Informationen, die links der bürgerlichen Presse sind und sie kommen zusammen, um das zu diskutieren. Stuttgart ist eine andere Stadt geworden, und das wird noch lange nachwirken.

Aber für uns als konsequente Anti-KapitalistInnen geht es v.a. darum, in der Bewegung eine Perspektive durchzusetzen, mit der wir siegen können und die uns für zukünftige Kämpfe gegen Kapital, Regierungen, Umweltzerstörung und Krise stärkt.

Die ausschließliche Betonung des friedlichen Protestes, die freundschaftlichen Absprachen mit der Polizei, das Vertrauen auf die Vernunft der politischen Entscheidungsträger können nicht zum Erfolg führen. Im Gegenteil: Schon heute zeichnet sich die Gefahr ab, dass das zu Spaltungen führen kann. So hat ein Veranstalter der Montagsdemo ein Interview gegeben, in dem er davon sprach, dass er in Zukunft eine Hotline für die Polizei einrichten lassen will, in der die Polizei dem Veranstalter mitteilen kann, wenn ihr unliebsame DemonstrantInnen auffallen.

Hinzu kommt, dass die Aktionen der radikalsten Teile der Bewegung unbedingt Massenunterstützung brauchen, um länger durchgehalten werden zu können. Früher oder später besteht ansonsten die Gefahr, dass die Bewegung zersplittert - in radikale Gruppen, die spontane Einzelaktionen durchführen, wie jetzt schon die Besetzung des Daches des Bahnhofs oder der Gleise gezeigt hat. Um dem Risiko vorzubeugen, dass andere Teile den Protesten fernbleibt, weil sie nicht mit radikalen Aktionen in Verbindung gebracht werden wollen, und so die Gefahr der Repression einer Minderheit vergrößert wird, braucht es eine bewusste Strategie der Gesamtbewegung, die auf eine unbefristete Besetzung des Hauptbahnhofs setzt.

Verhandlungen

Ein anderes Problem entsteht mit den „Verhandlungsangeboten“ der Bahn AG. Das Anbot vom Ende August kann nur als zynisches Manöver verstanden werden. Die Bahn will „offene Gespräche ohne Vorbedingung“, möglichst ein Aussetzen der Proteste - und gleichzeitig die Abrissarbeiten fortsetzen.

Dieses Manöver wurde von den Sprechern der Bewegung richtigerweise zurückgewiesen. Ohne ein Aussetzen der Abrissarbeiten könne es keine Verhandlungen und etwaiges Aussetzen der Proteste geben.

Wir meinen, dass die Manöver der Bahn, der Druck in der SPD usw. beweisen, dass die Massenaktionen erste Wirkung zeigen. Jetzt geht es darum, den Druck weiter zu erhöhen. Eine Massenbesetzung wäre auch dazu die geeignete Antwort. Keinesfalls - das zeigen viele Erfahrungen - darf die Mobilisierung wegen der Gespräche unterbrochen werden.

Schließlich geht es auch darum, dass keine Geheimverhandlungen oder gar Absprachen hinter dem Rücken der Bewegung stattfinden, sondern dass alle Vorschläge von Bahn, Stadt oder Land offengelegt werden müssen; dass Verhandlungen (oder gar Abkommen) nur mit Zustimmung von Vollversammlungen der Bewegung stattfinden dürfen.

Besetzung

Eine Massenbesetzung zu organisieren, würde gleichzeitig mehrere Zwecke erfüllen. Erstens würde sie den Schutz gegenüber der Polizei deutlich erhöhen. Zweitens würde es Druck und Entschlossenheit weiter stärken. Drittens könnte so auch ein permanentes „Aktions- und Versammlungszentrum“ geschaffen werden sowie ein Entscheidungszentrum der AktivistInnen, die ihre Führung demokratisch kontrollieren, wählen und, wenn nötig, täglich ersetzen könnten.

Um eine solche Strategie zu beraten, zu beschließen und umzusetzen, ist eine gemeinsame Krisen-Konferenz unter Beteiligung aller Bündnisse gegen S21 und Sozialabbau nötig. Sollte eine Massenbesetzung schon vorher spontan erfolgen, so könnte ein besetzter Bahnhof auch gleich zum „Konferenzzentrum“ der Bewegung werden.

Diese muss sich zum Ziel setzen, nicht nur einen Baustopp am Bahnhof zu erzwingen, sondern auch Sparmaßnahmen der Regierungen rückgängig zu machen - besonders in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Rente und Arbeitslosengeld.

So kann der Prozess, dass sich auch mehr ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen an den Aktionen beteiligen, weiter verstärkt werden - aus der Bewegung gegen S 21 kann ein Ausgangspunkt für klassenkämpferischen Widerstand werden.

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Nr. 152, Sept. 2010
*  Atomkonflikt: Schwarz/gelber Störfall
*  Heile Welt
*  Massenaktionen gegen S 21: Gegen "die da oben"!
*  Freiheit statt Angst Demo: Überwachungsstaat bekämpfen!
*  Perspektive: Der Flügel fällt - der Kampf geht weiter
*  Arbeitermacht-Sommerschulung: Marxismus praktisch
*  Rassismus: Sarrazin und seine Kritiker
*  20 Jahre Währungsunion: Eine Volkswirtschaft verschwindet
*  NPA und Frankreich: Vor einem heißen Herbst
*  Belgien: Rechtsruck in die Staatskrise
*  Frauen in Afghanistan: Elend statt Freiheit
*  Pakistan: Ohnmacht durch Zorn
*  Pakistan-Solidarität: Hilfe für das Jugendcamp!
*  Gegen die Sparpakete! Für eine europäische Massenbewegung!