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Belgien

Rechtsruck und Krise

Theo Tiger, Neue Internationale 152, September 2010

Vielleicht sieht die Landkarte Europas demnächst ganz anders aus, wenn es statt des Landes Belgien zwei Teilstaaten gibt.

Tatsächlich steht Belgien nach den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 13. Juni vor einer Zerreißprobe. Während von Brüssel aus der europäische Zentralstaat aufgebaut werden soll und die EU mit dem ständigen Ratspräsidenten van Rompuy einen wichtigen Schritt in diese Richtung gegangen ist, bedrohen ökonomische und nationalistische Konflikte Belgien. Die Probleme Belgiens werfen zugleich auch ein Schlaglicht auf die Lage der EU in Zeiten der weltweiten Krise.

Wahlausgang

Die rechtspopulistische und separatistische N-VA (Neue Flämische Allianz) gewann im niederländisch sprechenden Teil ca. 32% der Stimmen und wurde zur landesweit stärksten Partei. Ihr Programm und ihr Wahlkampf knüpfen beim rechten Vlaams Belang an, einer rechtsextremen Partei Flanders, welche bei dieser Wahl 12,3% einfuhr. Ziel dieser nationalistischen Parteien ist ein neuer Staatsvertrag in Belgien, eine grundlegende Staatsreform zur Stärkung der Autonomie Flanderns und schlussendlich die Abspaltung Flanderns von Belgien. Flandern bezeichnet dabei eine ehemalige feudale Provinz, während der Begriff „flämisch“ alle niederländisch sprechenden Regionen einschließt.

Traditionell sollen in der Regierung Belgiens jeweils Parteien aus Flandern und der Wallonie (französisch sprechende Region) vertreten seien. Diese Regierungsbildung läuft zumeist über das belgische Königshaus, derzeit unter der Regie von König Albert II. Seit der Wahl verhandeln jetzt die N-VA mit Spitzenkandidat de Bever und die wallonische PS (sozialdemokratisch) mit de Rupio, über eine gemeinsame Regierung.

In den letzten Regierungen waren meist die liberalen und christdemokratischen Parteien aus beiden Landesteilen vertreten, diese haben aber herbe Wahlniederlagen erlitten, so dass jetzt mit der N-VA wahrscheinlich eine Partei an die Regierung kommt, die nur in Flandern aktiv ist.

Ökonomische Ursachen

Bis weit in die 60er Jahre hinein war die Wallonie (40% der Bevölkerung), aufgrund der dortigen Schwer- und Textilindustrie der wohlhabende Teil Belgiens, während der flämische Teil (60% der Bevölkerung) eher landwirtschaftlich geprägt war. Ab den 70er Jahren fand eine Verlagerung der Industrieproduktion statt, im flämischen Teil waren die Löhne niedriger und die Region Antwerpen entwickelte sich zum wirtschaftlichen Zentrum Belgiens, in dem v.a. der Dienstleistungssektor boomte. Heute wird fast 70% des BIP im Dienstleistungssektor erwirtschaftet und nur noch ca 20% in der Industrie. Diese Verlagerung führte zu steigender Arbeitslosigkeit in der Wallonie und zugleich dazu, dass heute der flämische Teil mit Transferleistungen die Wallonie unterstützt.

Dies ist seit Jahrzehnten ein gefundenes Fressen für kleinbürgerliche Nationalisten um den Vlaams Belang oder die N-VA. Sie fordern „mehr“ für die Flamen, also mehr für die flämischen Unternehmen und das Kleinbürgertum im Norden.

Dahinter steht kein gerechtfertiger Kampf gegen nationale Unterdrückung, sondern das Interesse der flämischen Bourgeoisie, ihre gesteigerte Konkurrenzfähigkeit weiter auszubauen. So soll zugeleich die Arbeiterklasse Flamens vor den Karren reaktionärer Demagogen gespannt werden, die „die  Wallonen“ - nicht die verschärfte kapitalistische Konkurrenz - für die Verschlechterung der Lebensbedingungen aller Lohnabhängigen, den Angriff auf Sozialleistungen und die Kürzung öffentlicher Ausgaben verantwortlich machen wollen.

Die Regierungsbildung

Nach den Wahlen im Juni wurde der Vorsitzende der französischsprachigen Sozialdemokraten - Elio Di Rupo - von König Albert mit der Regierungsbildung beauftragt. Die Sozialdemokraten sind immerhin die stärkste Partei der Wallonien und stellen zusammen mit ihrer flämischen Schwesterpartei die größter Fraktion im Parlament.

Es ist freilich bezeichnend für den verrotteten Charakter des Reformismus in Belgien, dass Di Rupo eine Regierung mit den Christdemokraten - also der zentralen offen bürgerlichen Partei - und der rechts-populistischen N-VA aufnahm. Diese wurden am 29. August für gescheitert erklärt. Was also tun? Den König fragen - und weitermachen, so die Devise der Sozialdemokraten!

“Nach dreistündigen Gesprächen mit König Albert erklärte dessen Büro allerdings, Di Rupo habe eine Fortsetzung seiner Aufgabe akzeptiert.” (Reuters, 30. August 2010)

Dass sich die Verhandlungen so schwierig gestalten hat vor allem damit zu tun, dass die kommende bürgerliche Regierung - egal in welcher Zusammensetzung, massive soziale Angriffe auf alle Lohnabhängigen und große Teile des Kleinbürgertums und der Mittelschichten durchführen soll - und damit unabhängig von allen demagogischen Versprechungen auch ihre jeweils eigene Wählerbasis zur Kasse bitten muss. Bei einer Koalition von N-VA und Sozialdemokratie würde sich also nicht nur einmal mehr der verräterische Charakter der Reformisten offenbaren. Auch die N-VA würde vor die Probe gestellt, da auch ihre Basis im flämischen Kleinbürgertums, den Mittelschichten oder unter rückständigeren ArbeiterInnen sozialen Verschlechterungen ausgesetzt wäre. Das ist für die N-VA deshalb so bedrohlich, weil die Partei zum Glück noch über keine gefestigte Basis verfügt, geschweige denn über eine hohe Mitgliederzahl.

Bei den zu erwartenden Angriffen kann die belgische Bourgeoisie - egal welcher Nationalität - sich aber auf die Führung der Sozialistischen Partei verlassen. Diese Partei hat in guter reformistischer Tradition schon mehrmals im Verbund mit der Gewerkschaftsbürokratie, die Arbeiterklasse verkauft. Von der Bourgeoisie wird schon ein Programm der „nationalen Vernunft“ propagiert, darin muss die Arbeiterklasse zur Erhaltung der Nation auf viele Errungenschaften verzichten, das Programm liegt also vor, es ist nur noch die Frage, welche politischen Marionetten den Job übernehmen.

Aufgaben der Arbeiterbewegung

Die belgische Arbeiterklasse muss diesen Angriffen und dem reaktionären Separatismus und Nationalismus u.a. dadurch begegnen, dass sie geschlossen gegen die Sparprogramme kämpft, für eine starke Progressivsteuer auf Kapital und Vermögen eintritt und für ein „Einigungsprogramm“ kämpft, das einen Angleich des sozialen Niveaus und der Löhne aller Teile Belgiens mindestens auf belgischem Spitzenniveau anstrebt.

Die bürgerliche Anti-Krisen-Politik wie auch die Tendenzen zum Auseinanderdriften in einigen EU-Nationalstaaten sind nicht auf Belgien beschränkt. In Italien etwa hat die Lega Nord mit ähnlicher Hetze lange Zeit Regierungspolitik betrieben. Auch in Deutschland werden der „Länderausgleich“ und die „Schuldenbremse“ dazu genutzt, um Sparprogramme zu begründen und die Arbeiterklasse entlang „regionaler“ Linien zu spalten. Nicht zuletzt gibt es in Deutschland zwischen Ost und West auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch ein erhebliches Gefälle. Parallel dazu wird in Zeiten der Wirtschaftskrise die rassistische und nationalistische Propaganda verschärft.

Dagegen braucht die europäische Arbeiterklasse international koordinierten Widerstand. Die ArbeiterInnen und v.a. die GewerkschafterInnen müssen den sofortigen Abbruch der Koalitionsverhandlungen von den Sozialisten fordern. Die Gewerkschaften dürfen mit ihre Mobilisierung nicht waren, bis die Regierungskrise „gelöst“, also eine arbeiterfeindliche Regierung unter Einschluss der Konservativen und Rechtspopulisten gebildet ist. Die Arbeiterklasse muss vielmehr die politische Krise nutzen, um ihre Forderungen durchzusetzen und so auch das Gehör der rückständigeren Schichten der Arbeiterklasse wie großer Teile des Kleinbürgertums und der Mittelschichten für sich zu gewinnen. Dafür müssen wir die Gewerkschaften zum Kampf auffordern und deren reformistische, auf Standortpolitik ausgerichtete Führung bekämpfen. Dazu ist es notwendig, die Demonstration am 29. September in Brüssel gegen die Sparprogramme der EU-Regierungen zu einem Fanal zu machen!

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Nr. 152, Sept. 2010
*  Atomkonflikt: Schwarz/gelber Störfall
*  Heile Welt
*  Massenaktionen gegen S 21: Gegen "die da oben"!
*  Freiheit statt Angst Demo: Überwachungsstaat bekämpfen!
*  Perspektive: Der Flügel fällt - der Kampf geht weiter
*  Arbeitermacht-Sommerschulung: Marxismus praktisch
*  Rassismus: Sarrazin und seine Kritiker
*  20 Jahre Währungsunion: Eine Volkswirtschaft verschwindet
*  NPA und Frankreich: Vor einem heißen Herbst
*  Belgien: Rechtsruck in die Staatskrise
*  Frauen in Afghanistan: Elend statt Freiheit
*  Pakistan: Ohnmacht durch Zorn
*  Pakistan-Solidarität: Hilfe für das Jugendcamp!
*  Gegen die Sparpakete! Für eine europäische Massenbewegung!