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Iran

Massenproteste und ihre Perspektive

Simon Hardy, Neue Internationale 141, Juli/August 2009

Nach Wochen ist es dem iranischen Regime nun gelungen, die erste Welle der Massenproteste und Demonstrationen zu stoppen. Doch die politische Krise des Landes ist noch nicht ausgestanden. Die Präsidentschaftswahlen haben nicht nur einen tiefen Konflikt in der herrschenden Klasse, sondern auch die steigende Unzufriedenheit der großen Masse der Jugend, der Mittelschichten, aber auch der Arbeiterklasse mit dem Regime enthüllt.

Ein Blick auf die Wahlen

Bei den iranischen Präsidentschaftswahlen am 12.6.09 haben viele junge Leute, Frauen, Gewerkschafter und große Teile der Mittelschichten ihr Vertrauen Mir-Hossein Mussawi geschenkt, einem Politiker, der sich erst vor kurzem mit dem „Reformerflügel“ der herrschenden Klasse im Iran verbündet hatte, um in die islamische Republik ein Stück weit soziale Liberalität einzuführen und diese damit attraktiver für die Jugend zu machen. Gleichzeitig sollten die Beziehungen zum westlichen Imperialismus verbessert werden.

Der amtierende Präsident Ahmadinedschad kandidierte für die Abadgaran-Allianz von politisch konservativen Organisationen, die der städtischen und ländlichen Armut einige Verbesserungen ihrer Lage in Aussicht gestellt hatten. Ahmadinedschad baute auch auf seine populistische Trumpfkarte, die antiimperialistische Rhetorik.

Hintergrund der Wahl sind die jüngsten Spannungen mit dem Imperialismus wegen Irans Atom-Programm, das Angebot von US-Präsident Obama zu Verhandlungen mit dem iranischen Regime und die zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sich in einer Inflationsrate von 15 bis 25 % ausdrücken.

Die weit verbreitete Wut beruht auf der Annahme, dass Mussawis Niederlage als Folge von Wahlmanipulationen zustande kam. Mussawi hatte einen „Wandel“ in Bereichen versprochen, der viele Studenten und besonders junge Frauen betrifft. Er wollte die Moralpolizei bremsen, üble Eiferer, die auf den Straßen patrouillieren und Frauen wegen „unislamischer“ Kleidung verhaften und gemischte Gruppen von jungen Leuten beider Geschlechter verfolgen.

Vor der Wahl versprach er, „Gesetze zu reformieren, die Frauen ungleich behandeln. Wir sollten Frauen finanziell ermächtigen, Frauen sollte eine freie Berufswahl entsprechend ihren Fähigkeiten zustehen, und iranische Frauen sollten in die höchsten Entscheidungsgremien aufsteigen können.“ Diese Idee richtete sich besonders an Frauen aus der Mittelschicht und verhieß ihnen größere Karrierechancen in Beruf und Politik.

Er bot auch einen diplomatischeren und weniger konfrontativen Umgang mit dem Westen an, um eine Liberalisierung der Wirtschaft und Öffnung für den Weltmarkt zu erreichen. Natürlich begrüßten die westlichen Liberalen und Medien diese Absicht.

Ahmadinedschad hat einiges vom Ölreichtum in Renten und Löhne der Regierungsangestellten gesteckt. Eines seiner politischen Manöver der jüngsten Zeit war die kostenlose Verteilung von Kartoffeln und Suppe an die Land- und Stadtarmut.

Vorwurf des Wahlbetrugs

Der Verdacht von Wahlmanipulationen tauchte schon vor der Beendigung der offiziellen Stimmauszählung auf, als Ahmadinedschad bereits einen weit höheren Sieg als für möglich erachtet verkündete. Das Innenministerium gab bekannt, dass nach Auszählung von 85% der Stimmen der Amtsinhaber mit 63,3% gegen 34,7% wieder gewählt worden sei. Das wäre der höchste Wahlsieg seit langem gewesen. Mussawi reichte daraufhin eine formale Klage gegen dieses Ergebnis beim 12köpfigen Wächterrat, dem eigentlichen Machtorgan hinter der Regierung des Iran, ein. Die Hälfte des Wächterrats wird vom Madjis, dem Parlament, berufen, die andere vom obersten Führer ernannt.

Doch über dem Führer und dem Wächterrat sitzt die 86köpfige Versammlung der islamischen „Gelehrten“. Sie hat das Recht, Entscheidungen umzustoßen und sogar den höchsten Führer zu ersetzen, obschon das noch nie vorgekommen ist.

Die Proteste sind der Ausdruck von aufgestautem Zorn und Frustration gegen das Regime und die Art, in der es das Leben der iranischen Bevölkerung gängelt und beherrscht.

Natürlich würden die Regierungen in den USA und Europa wie auch in Israel lieber Mussawi als Präsidenten sehen, einen Mann, den sie als umgänglicheren und politisch verlässlicheren Verhandlungspartner einschätzen, nicht zu radikal, nicht zu demokratisch. Sie hätten am liebsten eine „Revolution“ wie in der Ukraine bzw. in Georgien, wo proimperialistische Politiker etabliert wurden, aber sich ansonsten wenig änderte.

Auf jeden Fall wollen sie den Ausbruch einer wirklichen Revolution vermeiden, die von demokratischen politischen Losungen übergeht zu welchen, die sich den gesellschaftlichen Bedürfnissen der iranischen ArbeiterInnen sowie der städtischen und Landarmut zuwenden. Vor allem wollen sie keinen Zerfall und Zusammenbruch des staatlichen iranischen Unterdrückungsapparats und den Übergang der Macht in die Hände der Jugend und der ArbeiterInnen.

Wohin geht der Iran?

Ungeachtet der offiziellen Führung dieser Bewegung ist klar, dass sich ein massiver Wille der Bevölkerung Bahn zu brechen beginnt, der zunehmend nach einem grundlegenden Wandel des Systems verlangt. Die Forderungen kreisen um die Belange der Mittelschichten, so lange sie die Mehrheit der Protestbewegung bilden.

Einige Gruppen auf der Linken lehnen diese Bewegung ab, weil sie nur von den Mittelschichten getragen sei und meinen, sie wären nur Marionetten des Imperialismus und behaupten, es gäbe gar keinen Wahlbetrug.

Das missachtet, dass der ganze Wahlvorgang, die ausgesiebten Kandidaten, die Medien unter Regierungskontrolle, der Wahlausschuss, dessen Vorsitzender schon vor Stimmauszählung seine Unterstützung für Ahmadinedschad unverhohlen aussprach, auf groteske Weise undemokratisch sind.

Das Ziel ist nun, der Bewegung zu helfen, ihre Beschränktheit abzustreifen und auf einen wirklichen revolutionären Kampf  gegen den ganzen islamisch-kapitalistischen Staat zu drängen.

Am Abend des 16.6. erklärte der oberste religiöse Führer, dass es eine begrenzte Stimmennachzählung in einigen kritischen Bezirken geben solle. Dies wurde als Teilsieg für Mussawi begrüßt, ist allerdings nur ein Manöver der Regierung, um die Protestbewegung zu demobilisieren und die Ordnung wieder her zu stellen. Mussawi ist noch einen Schritt weiter gegangen und hat eine Wahlwiederholung gefordert, was die Lage dramatisch zuspitzen würde.

Mussawi - ein falscher Bundesgenosse

Die verbreitete Unterstützung für Mussawi ist jedoch die Achillesferse der Bewegung und droht, sie zu ruinieren. Mussawi ist nämlich kein „Reformer“ und war dies auch nie. Er sagt von sich selbst, er sei ein „Reformer“, der sich auf die Grundsätze der islamischen Revolution bezieht. Er war 1981-89 während des iranisch-irakischen Krieges Premierminister und hat Massaker an Kommunisten und demokratischen Gegnern zu verantworten. Mussawi sprach sich gegen die Beendigung des Krieges gegen den Irak aus und wollte das Blutvergießen fortsetzen, das beinahe ein Jahrzehnt dauerte und unzählige Opfer gekostet hat.

Kein Präsidentschaftsbewerber tritt als unabhängige Instanz auf, die einen wirklichen Wandel bewirken könnte. Das Gefüge des iranischen Politsystems erlaubt es keinem Kandidaten, ohne den Segen des Wächterrats anzutreten. Selbst wenn Mussawi auf einem demokratischen Programm gewählt werden würde, über das er gar nicht verfügt, würden die Einrichtungen des islamischen Staates jeden Versuch zur Reform ersticken und ihn zweifelsohne aus dem Amt entfernen wollen.

Sein Aufruf zum Generalstreik vom 20.6. entpuppte sich als durchsichtiges Manöver, denn er ist an die Bedingung geknüpft, dass eine solche  Massenaktion nur im Fall seiner Verhaftung erfolgen solle. Damit zeigt Mussawi, dass er in Wirklichkeit nichts von Selbsttätigkeit der ArbeiterInnen und der Massen hält, sondern dass es ihm im Gegenteil nur um den Wahlakt und eine Personalisierung des Konflikts geht. Letzten Endes verfolgt er angesichts der Zuspitzung der Lage ebenso wie die Regierung das Ziel, die Bewegung zu kontrollieren und zu entpolitisieren. Dennoch ist es auch für ihn eine gefährliche Gratwanderung in dieser Auseinandersetzung, denn die entfesselte Dynamik ist nicht so ohne weiteres einzudämmen, das haben ja bereits die Demonstrationen entgegen Mussawis verschiedentliche Rückzieher von Aufrufen zur Mobilisierung bewiesen.

Natürlich gibt es die Gefahr einer Haltung in der iranischen Bevölkerung‚ die besagt, „alles ist besser als diese Regierung“. Teile der Mittelschichten würden auch eine imperialistische Invasion begrüßen, wenn sie vermeintlich liberalere demokratische Zustände mit sich brächte, Hauptsache weniger blutig als im Irak oder in Afghanistan, was selbstredend eine reaktionär- utopische Vorstellung von einem netten Imperialismus ist, der nur die Bösen bestraft.

Dieser verhängnisvolle Kurs muss bekämpft werden! Den Imperialismus kümmert das Schicksal der iranischen Bevölkerung mitnichten. Er beutet nur den Wunsch nach demokratischen Veränderungen aus, weil er die Bodenschätze des Landes kontrollieren will. Obama würde die iranischen Massen bedenkenlos dem Würgegriff eines zweiten Schahs oder ähnlichen Figuren wie Mubarak in Ägypten bzw. dem Saudi-Clan in Saudi-Arabien ausliefern, wenn die USA damit das iranische Öl unter ihre Kontrolle bringen könnten.

Welcher Weg vorwärts?

Trotz vieler Vergleichsmomente mit den Demonstrationen und Protesten, die zum Sturz des Schahs 1979 führten, fehlt noch ein Schlüsselfaktor. Ein massiver Generalstreik brachte damals den Iran zum Erliegen, besonders die einträgliche Ölindustrie. Er versetzte der vom US-Imperialismus gestützten Schah-Diktatur den Todesstoß. Seit 30 Jahren leidet die organisierte Arbeiterbewegung unter den barbarischsten Attacken auf ihre Rechte, auf ihre Organisations-, Versammlungs-, Rede- und Handlungsfreiheit. Die Richter verurteilen Gewerkschaftsaktivisten zu Monaten und Jahren in Gefängnis und zu Prügelstrafen. Einige von ihnen wurden in das berüchtigte Foltergefängnis von Ewin eingeliefert.

Das islamische Regime weiß, dass ihr mächtigster Feind die iranische Arbeiterklasse ist. Sie allein hat die Kraft, das Regime zu zerschmettern und eine neue politische Ordnung aufzubauen.

Deshalb muss die Forderung nach einem unbefristeten landesweiten Generalstreik - anders als Mussawi sie versteht und formuliert - unbefristet erhoben werden, um das Regime zu stürzen und größere demokratische Freiheiten einzuführen. Der Streik müsste natürlich von  ArbeiterInnen, die sich solidarisch mit dem Kampf der iranischen Arbeiterklasse erklären, überall auf der Welt unterstützt werden. Die Notwendigkeit für wirtschaftliche Gerechtigkeit muss in den Protesten obenan gestellt werden, um breitere Schichten von ArbeiterInnen und städtischer Armut in die Bewegung zu ziehen und ihr mehr Gewicht zu verleihen.

Damit die iranische Revolution sich voll entfalten kann, müssen die Proteste den demokratischen Rahmen sprengen. Dazu müssen auch soziale Forderungen von brennender Dringlichkeit für die Armut, die Fabrik-, Transport- und Ölarbeiterschaft sowie die armen Bauern erhoben werden. Die Arbeiterklasse hat kein Interesse an der Erhaltung eines Polizeistaats, der ständig Streiks niederschlägt und ihre Führer einkerkert. Genauso wenig möchte sie von imperialistischen transnationalen Konzernen ausgebeutet werden. Streiks und Besetzungen der Schlüsselindustrien durch die Arbeiterschaft würden den Kampf, der auf die Entmachtung des Regimes zusteuert, beschleunigen.

Die politische Kernforderung sollte die nach einer souveränen und revolutionären Verfassunggebenden Versammlung sein. Eine solche Körperschaft könnte nicht nur alle kulturellen Fesseln für Frauen und junge Leute sprengen, sondern auch die gesamte Struktur, welche die Menschen bevormundet und durch Wächterrat und „oberste Führung“ gängelt.

Zwecks Zusammenführung dieser Kämpfe gegen das Regime und für eine solche Verfassungsgebende Versammlung müssen Schoras (Räte) aufgebaut werden, ArbeiterInnen-, StudentInnen- und Elendsviertel-Schoras müssen aus frei gewählten und jederzeit abrufbaren Delegierten bestehen und frei sein von jeglicher „Oberaufsicht“ durch die örtlichen Moscheen oder Imams - so wie 1978/79. Aus ihren Reihen müssen Milizen gebildet werden, um sich gegen die Basidji-Banden und Pasdaran-(Revolutions)Garden verteidigen zu können, die nicht ruhen werden, diese Proteste in Blut zu ersticken.

Das Ziel von SozialistInnen muss es sein, für eine Strategie einzutreten, wonach die Schoras als neue Herrschaftsorgane handeln und die Aufgabe anpacken, die Gesellschaft nach wahrhaft demokratischen Grundsätzen zu organisieren. 1979 waren solche Ansätze grausam durch die islamische Konterrevolution unter Khomeini zerschlagen worden. Zugleich muss die Arbeiterklasse die Kontrolle in der Industrie und über die Verteilung von Gütern ausüben.

Die Arbeiterklasse und die radikalisierten StudentInnen müssen ihre eigene Führung herausbilden, müssen eine revolutionäre Partei für den Iran mit der Strategie der Machtergreifung aufbauen, wenn der Kampf gegen das Regime und den Kapitalismus, das System dahinter, gleichermaßen Erfolg haben will. Die Formierung eines sozialistischen Staates und einer Planwirtschaft würde die Wirtschaftsprobleme des Iran lösen können, indem der Ölreichtum zum Wohl der Armen verwendet wird.

Leo Trotzki schrieb schon 1906: „Vor allem andern müssen (die Arbeiter) frei sein von Illusionen. Und die schlimmste Illusion in ihrer Geschichte, woran sie bis heute leidet, ist, sich auf andere zu verlassen.“ Die ArbeiterInnen müssen sich von Mussawi und Konsorten als Führer befreien genau wie von Ahmadinedschad. Sie dürfen sich auch nicht zum Opfer imperialistischer Machenschaften machen lassen.

Der wesentliche nächste Schritt muss der politische Generalstreik sein, der Ruf an die iranische Arbeiterklasse zum Kampf, zum Aufbau von Schoras. Wenn dies geschieht, dann ist „der Geist aus der Flasche“, wie Ahmadinedschad es ausdrückt.

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Nr. 141, Juli/Aug. 2009
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