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Nahost:

Syrien brennt – die Großmächte manövrieren

Marcus Halaby, Infomail 887, 13. Juni 2016

Zu Zehntausenden gingen SyrerInnen am Beginn der „Einstellung der Feindseligkeiten“, die von den USA und Russland ausgekungelt worden waren, in den von den Rebellen gehaltenen „befreiten Zonen“ auf die Straßen. Anti-Assad-Kundgebungen fanden am 4. März, dem ersten Freitag nach Beginn der Feuerpause, in 104 verschiedenen Orten statt.

Die DemonstrantInnen sangen Losungen nicht nur gegen die mörderische Assad-Diktatur und deren russische und iranische Unterstützer, sondern auch gegen die sektiererischen Kräfte wie den ISIS und die Al-Nusra-Front; letztere ist die syrische Verbündete der al-Qaida-Bewegung. Die Al-Nusra-Front zeigte ihr wahres Verhältnis zur zivilen Volksbewegung und drohte am 8. März in der Idlib-Provinz damit, Protestierende zu erschießen, was von der landesweit größten islamistischen Rebellengruppe Ahrar al-Scham verurteilt wurde.

Anderswo wurden Anti-Assad-Proteste des oppositionellen Syrisch-Kurdischen Nationalrats (KNC) in Rojava von der herrschenden Kurdisch-Demokratischen Union (PYD) unterdrückt. Die PYD versuchte auch die vom KNC organisierten Proteste am 19. Mai zu verbieten. An diesem Tag wurde vor 100 Jahren das Sykes-Picot-Abkommen geschlossen, mit dem Britannien und Frankreich die arabischen Länder unter sich aufteilten und den KurdInnen keinen eigenen Staat überließen.

Das war stets die Gefahr einer jeden Feuerpause für das Assad-Regime, dass jede Abschwächung in der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung der demokratischen Volksbewegung gestatten würde, sich unter dem Schutt zu erheben und die antisektiererische Botschaft wiederbeleben zu können, die das Frühstadium der unbewaffneten Revolution von 2011 auf der Straße geprägt hatte, bevor Assad entschied, das Land mit Bürgerkrieg zu überziehen.

In der vom Regime gehaltenen Stadt Hama hatten 800 politische Gefangene das Gefängnis am 2. Mai unter ihre Kontrolle gebracht angesichts von Berichten, dass 5 Insassen an eine andere Stätte zur Hinrichtung verbracht werden sollten. Die Regierung hatte ursprünglich vor, das Gefängnis nach drei Tagen zu erstürmen, doch schließlich musste sie die Freilassung von 72 Insassen zulassen, um dem Aufstand ein Ende zu bereiten. Das war ein Zeichen dafür, dass selbst die vom Regime gehaltenen Bezirke längst nicht absolut kontrolliert werden.

Es wurde jedoch von Sicherheitskräften berichtet, die am 15. April und 13. Mai unbewaffnete und großenteils jugendliche DemonstrantInnen aus der angeblich „ruhigen“ drusischen Minderheit in Suwayda, das ebenfalls zum Einzugsbereich der Regierung gehört, angegriffen haben.

Bruch der „Waffenruhe“

Gerade wegen dieser Gefahr ist die relative Ruhe nicht dauerhaft gewährleistet. Die syrischen Regierungskräfte und ihre Verbündeten haben die Waffenruhe 312 Mal in der allerersten Woche gebrochen, besonders durch die Wiederaufnahme des Bombardements auf Duma in den Vororten von Damaskus. In deren Verlauf wurden 135 Menschen in den Regionen, für die die Waffenruhe gelten sollte, getötet. Außerhalb dieser (v. a. jenen von ISIS kontrollierten) Zonen lag die Zahl der Todesopfer bei 552. Das Regierungsbombardement auf Syriens größte Stadt Aleppo hat sich seither verschärft und ist beinahe wieder auf das Niveau der uneingeschränkten Kriegshandlungen geklettert.

Am 12. Mai hat die Regierung sogar Nahrungsmittellieferungen nach Darayya blockiert, eines der vielen Opfer der bewussten Aushungerungsbelagerungen. Wenn die Zivilbevölkerung dann auf Nahrungsmittelsuche aus der Stadt herauskommt, wird sie beschossen. Trotz der Ankündigung des russischen Präsidenten Putin vom 14. März, sich aus Syrien zurückzuziehen, war Russlands fortgesetzte Unterstützung für das Assad-Regime entscheidend für die Fortdauer des Krieges.

Doch die von den USA geführte westliche Koalition in Syrien, die behauptet, sie sei für den „Übergang zur Demokratie“, hat nicht nur ein Auge zugedrückt bei diesen Verstößen gegen die Feuerpause, sie hat auch gezeigt, dass sie keine wirkliche Einwände dagegen hat.

Der US-Oberst Steven Warren sagte auf einer Pressekonferenz am 25. April, dass die russischen Attacken und die der Assad-Regierung auf Aleppo die Waffenruhe nicht verletzt hätten, weil es „v. a. die Al-Nusra-Front sei, die Aleppo kontrolliere“, und diese Kriegspartei sei nicht Teil der Vereinbarungen über eine „Aussetzung der Feindseligkeiten“.

Doch das ist unsinnig, denn die zutiefst unpopuläre Al-Nusra-Front hat gerade einmal etwa 100 Kämpfer in Aleppo, einer Stadt mit ungefähr 300.000 EinwohnerInnen, das sind noch ein Drittel der Bevölkerung von vor dem Bürgerkrieg. Die Al-Nusra-Front musste ihre wenigen Tausend Kämpfer, die sie dort zuvor eingesetzt hatte, auf Druck der Proteste der Zivilbevölkerung und die Reaktion darauf seitens der stärker verankerten weltlich-nationalistischen und „gemäßigt islamistischen“ Milizen zurückziehen.

Warren hat im Folgenden seine Erklärung vom 7. Mai zurück genommen. Anscheinend hat er gemerkt, dass er damit Russland und Assad einen Blankoscheck ausstellen könnte bei ihrem Versuch, die eigenen Pläne der USA für eine Intervention in Syrien, um ihren schwindenden regionalen Einfluss wieder zu erlangen, zu durchkreuzen. Der Schaden war aber schon angerichtet, und so kursierte die Botschaft, dass die westliche Koalition keinen Finger krumm machen will, um die syrischen ZivilistInnen in den Rebellen-Gebieten zu retten. Erst soll die Opposition dazu gezwungen werden, einem „Übergang auf dem Verhandlungsweg“ zuzustimmen, bei dem Assad immer noch am Steuerpult sitzt. Das steckt hinter der Aussage der Westmächte, wenn sie die Rebellen auffordern, mit den „Extremisten in ihren Reihen zu brechen“.

Das scheint den Leuten nicht einzuleuchten, die die Lüge geglaubt haben, die syrische Revolution sei eine westliche Verschwörung für einen „Regimewechsel“, oder auch jenen AnhängerInnen der Revolution, die immer noch hoffen, dass der Westen eines Tages seine demokratischen Versprechen wahr machen wird. Tatsache aber ist, dass die Westmächte wie Russland Assads Sicherheitsstaat als „stabilisierende“ Kraft erhalten wollen. Sie sind sich nur über die Mittel und den Zeitplan für Assads schließlichen Abgang uneins.

Dies hat zur Diskussion über die Möglichkeit einer föderalen Aufspaltung Syriens geführt, wobei Russland und die USA um den Einfluss über Rojava konkurrieren, sowie über eine neue Verfassung, die Assad und seine Nachfolger mit machtlosen „Stellvertretern“, voraussichtlich aus den proamerikanischen Elementen der Opposition, umgeben würde.

Wir sollten die angemessenen Schlüsse daraus ziehen: wir dürfen nicht etwa fordern, dass der Westen in Syrien gegen Putin in Stellung geht, sondern müssen erkennen, dass dieses zynische Schachspiel mit Russland Teil des Problems ist. Wie die PalästinenserInnen ist die syrische Bevölkerung auch Opfer einer unheiligen Interessensallianz von mächtigen und rivalisierenden Staaten, und wie jene verdienen sie gleichermaßen Solidarität und praktischen Beistand in ihrem Kampf mit ungleichen Mitteln. Freiheit von der Diktatur und nationale Selbstbestimmung für die KurdInnen wäre ein kraftvoller Schlag gegen die Tyrannei überall und besonders in Palästina und im Irak.

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