Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Rente mit 63

Viel Lärm um fast nichts

Jürgen Roth, Neue Internationale 188, April 2014

Seit Beginn des Jahres 2012 können Beschäftigte nach 45 Versicherungsjahren mit Erreichen des 65. Lebensjahrs ohne die sonst fälligen Abschläge in Rente gehen. Laut Koalitionsvertrag dürfen sie das ab dem 1. Juli 2014 bereits mit dem vollendeten 63. Lebensjahr. Viele werden das jedoch gar nicht in Anspruch nehmen können, denn von den 2013 Neuverrenteten erhielten tatsächlich lediglich 2,5% der Männer und gar nur 0,4% der Frauen eine abschlagsfreie Rente mit 65.

Pferdefüße

Um im 63. Lebensjahr aber 45 Versicherungsjahre aufzuweisen, muss man bereits ab dem 18. Lebensjahr versichert sein. Wurden aber bei der abschlagsfreien Rente mit 65 noch 45 Versicherungsjahre vorausgesetzt, sollen es nun gar 45 Beitragsjahre bei einer Rente mit 63 sein. Außerbetriebliche Ausbildungs- und Studienjahre gelten z.B. zwar auch als Versicherungsjahre, würden aber für die Rente mit 63 laut Großer Koalition nicht zählen. Für Kindererziehungszeiten werden bis zu 10 Jahre als Versicherungsjahre, aber maximal 3 als Beitragsjahre gezählt.

Besonders die SPD rühmt sich, dass erstmals auch die Zeit der Arbeitslosigkeit angerechnet werde. Das gilt aber nur für die mittlerweile verkürzte Zeit mit Arbeitslosengeld 1 (ALG I)-Bezügen. Laut BILD-Zeitung sollen auch davon nur bis zu 5 Jahre angerechnet werden. Die Zeit, in der Arbeitslose auf Hartz IV (ALG II) angewiesen sind, gilt wiederum nur als Versicherungszeit.

Hinzu kommt: parallel zur Anhebung des allgemeinen Renteneintrittsalters wird der abschlagsfreie Rentenzugang auf das vollendete 65. Lebensjahr angehoben. Jahr für Jahr wird also bis dahin trotz 45 Beitragsjahren das Eintrittsalter für eine abschlagsfreie Rente höher gesetzt, also ab 1. Juli 2015 zunächst für einen Monat, später in Zweimonatsschritten.

Nachdem die SPD jahrelang vorgab, die Rente mit 67 wieder abschaffen oder auf den „Prüfstand“ stellen zu wollen, und die Gewerkschaftsführungen ebenso lange versucht haben, ihre Mitglieder mit diesem Thema zur Wahl „ihrer“ Partei zu bewegen, schreibt der Koalitionsvertrag jetzt die Rente mit 67 erneut fest.

Noch unter Rot-Grün hat die SPD federführend die Rentengegenreformen eingeläutet: das Renteneintrittsalter für Frauen wurde auf 65 Jahre heraufgesetzt, die Rentenformel um den „demographischen Faktor“ „bereichert“ und damit die Renten gekürzt. Auch in der Großen Koalition von 2005-09 trug die SPD die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre eifrig mit.

Unterm Strich bedeutet daher heute abschlagsfreie Rente eine Senkung ihres Durchschnitts (Eckrente) auf 42 Prozent! Vor dem Hintergrund dieses generellen Rentendumpings lässt sich dann natürlich eine kleine, „kosemetische“ Verbesserung für gerade einmal 3% der RentnerInnen durchführen, ohne dass damit Koalition oder Kapital ernsthaft belastet würden.

SPD-Wahlversprechen beerdigt

Die Rentenpolitik trägt die gleiche durch und durch neoliberale Handschrift wie das gesamte Koalitionsvertragswerk. Selbst die von der FDP vor gut 4 Jahren durchgedrückte steuerliche Entlastung für Hoteliers bleibt erhalten.

Mit ihrem Eintritt in die Große Koalition führte die SPD gleich ihr erstes Wahlversprechen ad absurdum: keine Koalition mit Merkel. Weitere Forderungen blieben leere Worte: von einer Reichensteuer ist ebenso keine Rede mehr wie von der Ablehnung des Betreuungsgelds (Herdprämie) oder der Autobahnmaut für Ausländer.

Der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro ab 2015 (!) wird von zahlreichen Ausnahmen, die erst 2017 wegfallen sollen, wie ein Schweizer Käse durchlöchert. Ab dann soll er im Dialog zwischen Arbeit„gebern“ und Arbeit„nehmern“ in den Branchen, wo er eingeführt werden soll, „erarbeitet“, „fortgeschrieben“ also tatsächlich verwässert werden, z.B. bei der Saisonarbeit. Das kann auch bedeuten: nach unten angepasst! Außerdem: wie viel sind 8,50 Euro 2017 noch wert?

Milde Schelte statt harscher Kritik

Der Sozialverband Deutschlands (SoVD) schreibt richtig: „Heute ist festzustellen, dass eine ausgewogene Balance nicht mehr gegeben ist: Während das Beitragssatzziel in den letzten Jahren deutlich übererfüllt und der Bundeszuschuss immer wieder gekürzt wurde, mussten Rentnerinnen und Rentner massive Kaufkraftverluste erleben, die auch die Rentenanwartschaften der heutigen Versicherten erheblich schmälern.“

Vor diesem Hintergrund bemängelt der SoVD auch das eine oder andere bereits oben erwähnte Detail: zu gering sei der Kreis derjenigen, die von dieser Leistungsverbesserung profitieren würden; die rentenrechtlich wirksamen Zeiten der Arbeitslosigkeit seien zudem „unklar“, Zeiten des Nichtbezugs bzw. von ALG II müssten ebenfalls Berücksichtigung finden.

Doch siehe da: sein Urteil spricht dem Koalitionsvertrag ein Lob aus. „Mit den im Koalitionsvertrag vereinbarten Leistungsverbesserungen in der Rente wird der richtige Weg eingeschlagen. Zu bedauern ist aus Sicht des SoVD, dass sich die Koalitionsparteien nicht auf eine Abkehr vom langfristigen Abbau des Rentenniveaus verständigen konnten.“ Hüh und Hott - zwei Sätze, die Perlen dialektischer Denkkunst gleichkommen!

Ähnlich die IG Metall: auch sie übt Kritik an Details. Statt einer starren Einheitsrente mit 67 brauchten Arbeit„nehmer“ einen flexiblen und abschlagsfreien Übergang. Trotz geringfügiger Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente (bessere Zurechnungszeiten mit 62 statt bisher 60 Jahren) bleiben Abschläge bestehen und die Zugangshürden zu hoch. Die Einführung einer Lebensleistungsrente von rund 850 Euro sei ein Fortschritt für GeringverdienerInnen und Menschen, die Kinder erzogen bzw. Angehörige gepflegt haben, aber der Zugang mit 40 Beitragsjahren (bzw. bis 2013 35 Jahre) und die danach nötig werdende Zusatzvorsorge schwerlich.

Verbesserungen bei der Mütterrente für vor 1992 geborene Kinder begrüßt die IGM ebenso wie die Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge und das Bemühen um altersgerechte Arbeitsplätze. Für letztere stehe die Fortführung der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“, die aber wenig mehr ist als ein unverbindliches Schwatzgremium.

Ver.di hat v.a. etwas an der Anrechnung von Zeiten der Arbeitslosigkeit auszusetzen. Weder Deutsche Rentenversicherung noch Bundesanstalt für Arbeit seien überhaupt in der Lage, die von der Politik verlangten Daten zu liefern, also Zeiten des Bezugs von ALG II (bzw. davor  Arbeitslosenhilfe) von Zahlungen nach ALG I zu unterscheiden, denn nur letztere werden ja als Beitragsjahre angerechnet. Doch ver.di-Bundesvorstandsmitglied Eva Welskop-Deffaa weiß Abhilfe: sie hält „Nachbesserungen“ für dringend erforderlich und schlägt die „Möglichkeit (vor), eine begrenzte Zeit von Arbeitslosigkeit für den Anspruch auf vorzeitigen Rentenbezug anzurechnen, egal, welche Leistung bezogen wurde.“

Eine „begrenzte Zeit“ ohne Jahreszahlen, das klingt wie Mindestlohn ohne Lohnhöhe!

Ablenkungsmanöver

Diese seichten kritischen Töne sollen natürlich weniger die SPD angreifen als sie gegen Angriffe von links in Schutz nehmen. Hieran zeigt sich der Wert des politischen Monopols dieser Partei in den DGB-Gewerkschaften, die heute ihr Hauptstandbein in der organisierten Arbeiterbewegung darstellen, schlechthin das organische Bindeglied des sozialdemokratischen Reformismus an Lohnarbeiterschaft und Angestellte. Doch auch der SoVD ist ein solches, wenn auch weniger gewichtiges. Dieser Nachfolgeverband des Reichsbunds ist nach wie vor eine Vorfeldmassenorganisation wie auch die Arbeiterwohlfahrt oder der Mieterschutzbund.

Alle drei schweigen über den Verrat der SPD an ihren eigenen Versprechen: mit uns zukünftig keine Rente mit 67, das sie als Lehre aus ihrer ersten Koalition mit Merkel im letzten Bundestagswahlkampf verkaufen wollte. Erst recht stumm bleiben sie zur Riesterreform mit ihrer Rentenabsenkungsformel, die schon etliche Jahre vor der Rente mit 67 in Kraft trat.

Somit stellt der Koalitionsvertrag zur Rente nur im Vergleich zu den letzten beiden Bundesregierungen einen - winzigen - Fortschritt dar, fällt aber immer noch hinter Schröder-Fischer-Riester zurück.

Deren Politik löste damals unter vielen Gewerkschaftsmitgliedern breite Empörung aus und führte zu vereinzelten Protestaktionen. Bei den beiden größten DGB-Gewerkschaften findet man natürlich auch kein Wort über ihre Verantwortung für die Rentenabsenkungen. Es ist ihre zumindest in den letzten 20 Jahren praktizierte zurückhaltende Lohnpolitik, welche neben der Rentenkürzung der letzten 4 Bundesregierungen verantwortlich für ein Leben in Armut nach der Lohnarbeit steht. Duldung von prekärer Beschäftigung, Leiharbeit, Hartz IV für die unteren Schichten des Proletariats und bestenfalls Stagnation der Realeinkommen bei der Arbeiteraristokratie - dafür danken dem DGB die MillionärInnen, nicht seine Millionen Mitglieder, Zigmillionen Beschäftigte, Arbeitslose und RentnerInnen!

SozialistInnen aller Couleur, ja alle Arbeiterorganisationen müssen mindestens dafür eintreten, die diversen Konterreformen auf dem Feld der gesetzlichen Rente wieder abzuschaffen!

Leserbrief schreiben   zur Startseite


Nr. 188, April 14
*  Kapitalistische Krise in Türkei, Brasilien, Indien, Russland: Vom Boom zum Bumerang
*  Heile Welt
*  Rente mit 63: Viel Lärm um fast nichts
*  Charité Berlin: Klinikleitung erzwingt Schlichtung
*  Streikrecht: Widerstand gegen Nahles wächst
*  Bsirske zur Tarifeinheit: Die Wort hör'n wir wohl
*  Öffentlicher Dienst: Tarifrundenritual planmäßig zu Ende geführt
*  Augenzeugenbericht: Die Massenbewegung in der Ostukraine
*  Kiew, Charkow, Damaskus: Zum Klassencharakter von Bewegungen
*  Venezuela: Ein Land am Scheideweg
*  Pakistan: Pflegerinnen erkämpfen Erfolg
*  Türkei: Die Gezi-Bewegung und neue Proteste
*  Neue anti-kapitalistische Organisation: NaO-News
*  Schlüsselfragen der Refugee-Bewegung: Teile und herrsche