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Venezuela

Ein Land am Scheideweg

Rico Rodrigues, Neue Internationale 188, April 2014

Ein Jahr nach dem Tod von Hugo Chávez sieht sich die Regierung von dessen Nachfolger Nicolas Maduro einer Welle von Protesten gegenüber.

Maduro gewann die Wahlen nur knapp gegen den rechten Oppositionskandidaten Henrique Capriles. Dessen Koalition, die MUD, die von den USA unterstützt wird, erkannte die Wahlergebnisse nicht an und forderte Neuwahlen. Die Regionalwahlen im Dezember 2013 stilisierte die Partei mit einer Kampagne zu einer Art Referendum über die Präsidentschaft von Maduro. Diese Taktik ging aber nicht auf: die Koalition der „Chavistas“ (Polo Patriótico) gewann über 70% der Wahlkreise.

Nach diesen Wahlen und den gescheiterten Protesten des letzten Jahres ist die Macht der Chavistas also auch nach dem Tod ihres „Commandante“ vorerst gesichert. Die nächsten Wahlen - zur  Nationalversammlung - stehen erst Dezember 2015 an, und auch das Abwahlreferendum für den Präsidenten - noch unter Chávez in die Verfassung aufgenommen - kann nicht vor 2016 erfolgen.

Unter diesen Voraussetzungen will der radikalere Teil der Opposition nicht mehr länger warten und rief zu Protesten auf, um die Regierung zu Fall zu bringen. Ihre Proteste finden allerdings vor dem Hintergrund schwerer wirtschaftlicher Probleme statt.

Die Proteste

Die prominentesten Führer der aktuellen Proteste sind Leopoldo López von der Partei „Voluntad Popular“ (VP) und die Abgeordnete Maria Corina Machado. Sie riefen zu  landesweiten Demonstrationen am 12. Februar auf, mit dem Ziel, die Regierung zu Fall zu bringen. Bereits am 4. Februar begannen studentisch geprägte Proteste im Westen Venezuelas.

Die Regierung reagierte auf einige Provokationen - u.a. wurde der Regierungssitz des Bundesstaates Táchira in San Cristóbal angegriffen - mit Repression und verhaftete einige TeilnehmerInnen. Am 12. Februar fanden dann Demonstrationen in 18 Städten statt. In der Hauptstadt Caracas eskalierte die Lage dann. Nach dem Abschluss der Demo kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen DemonstrantInnen und Polizei, wobei drei Menschen umkamen. Zwei davon wurden vom Sicherheitsdienst SEBIN erschossen.

Nach diesem Vorfall, der viele schockierte, gewannen die Proteste noch an Intensität und Radikalität. DemonstrantInnen setzten u.a. Steine, Gasmasken und Molotowcocktails gegen die Sicherheitskräfte ein.

Die Opposition selbst ist jedoch über die Proteste gespalten. Der radikalere Flügel um López und Machado will die Regierung jetzt zu Fall bringen. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Capriles hingegen setzt auf Verhandlungen mit dem Regime. Während der Proteste schwankte er zwischen Unterstützung und offener Verurteilung der Gewalt und der Barrikaden.

Die Gewalt und die Rolle der Medien

Nach dem 12. Februar kam es im ganzen Land zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Bis zum 17. März gab es 30 Tote, mehr als 300 Verletzte und 1.600 Verhaftungen (von denen die meisten aber wieder frei gelassen wurden).

Folgt man der internationalen Presse, gibt es keinen Zweifel daran, dass diese Gewalt allein von Maduros Regime ausging.

In einer Kolumne in „El Pais“ vom 17. März bezeichnet der Autor die Regierung als „Venezolanische Diktatur“, wie es auch die Opposition in Venezuela tut. Seit Chávez die Wahlen 1998 gewonnen hat, war die Denunzierung der Regierung als „Diktatur“ ein anhaltendes Element der rechten, US- und EU-Propaganda. In Wirklichkeit gab es seit 1998 19 Wahlen in Venezuela, darunter vier Präsidentschaftswahlen, zwei Referenden über eine neue Verfassung und ein Referendum zur Abberufung von Chávez. Die Chavistas haben 18 davon gewonnen.

Der Artikel in „El Pais“ erklärt weiter: „Man hätte von der brasilianischen Regierung eine klarere Verurteilung der Repression der Maduro-Regierung gegen die oppositionellen Demonstranten erwartet, die von dessen Milizen ermordet wurden.“

In der Tat gibt es viele Berichte über die Gewalt der Sicherheitskräfte. Jedoch gibt es mindestens genauso viele über Gewalt, die von der Opposition ausging. Das Internetportal „Venezuelanalysis“ hat die 30 bekannten Todesfälle recherchiert und kam zu dem Ergebnis, dass davon 5 auf das Konto der Sicherheitskräfte gehen, die bereits recherchiert würden (14 Beamte wurden bislang verhaftet). 17 stehen dagegen im Zusammenhang mit den Barrikaden der DemonstrantInnen, und über 8 Fälle gibt es noch keine Klarheit oder sie sind nicht den Protesten zuzuordnen.

Es gibt Berichte, dass sich mehrere AnwohnerInnen, meist aus ärmeren Vierteln, über Behinderungen durch die Barrikaden beschwert haben. Sie kommen nicht zur Arbeit, können manchmal ihr Viertel nicht verlassen oder müssen Geld bezahlen, um die Barrikaden zu passieren. Mindestens eine Person, die Studentin Gisela Rubilar Figueroa, wurde bei dem Versuch eine unbewachte Barrikade abzubauen, erschossen.

In der Stadt Mérida versuchten DemonstrantInnen nach Berichten, einen Streik im öffentlichen Busverkehr zu erzwingen. Dazu entführten sie zwei Busse, in einem Fall mit Busfahrer, der später vor der Presse ausgesagt hat, dass er von den Entführern bewusstlos geschlagen wurde.

Der pensionierte General und radikale Regierungsgegner Angel Vivas hat per Twitter dazu aufgerufen, Stacheldraht über die Straße zu spannen, um vermeintlich angreifende Motorradfahrer zu „neutralisieren“. Dabei wurde ein Motorradfahrer regelrecht geköpft und mehrere verletzt. Nach diesem Vorfall wurde ein Haftbefehl gegen Vivas erlassen.

Die Ergebnisse von „Venezuelanalysis“, inklusive einer Liste mit allen Todesfällen, können hier gefunden werden: http://venezuelanalysis.com/analysis/10474

Maduro hat zu zwei "Friedenskonferenzen" aufgerufen, die von der Opossition bisher aber boykottiert wurden.

Wir wollen die Polizeirepression nicht herunterspielen. Der Sicherheitsdienst hat am 12. Februar zwei Menschen erschossen (darunter nach Berichten einen Regierungsbefürworter) und dadurch weitere Gewalt provoziert. Maduro hat gesagt, dass der Sicherheitsdienst an diesem Tag Befehl hatte, nicht auszurücken, und dagegen verstoßen hat. Drei Beamte wurden deshalb verhaftet.

Die Sicherheitskräfte gehören in jedem Fall zum Apparat eines bürgerlichen Staates und nicht etwa um einen der Arbeiterklasse. Es ist auch klar, dass bei der Aufklärung der Vorfälle weder der Regierung noch der Opposition vertraut werden kann. Es muss eine unabhängige Aufklärungskommission gebildet werden, die von der Arbeiterklasse und deren Organisationen kontrolliert wird, um die Vorfälle aufzuklären und die Schuldigen zu verurteilen.

Auch die Urteile der internationalen Presse, ihr Bild von den friedlichen Demonstranten, die gegen  ein brutales Regime aufbegehren würden, sind mehr als fraglich. Alle linken AktivistInnen, die schon einmal von Polizeirepression betroffen waren, kennen solche Art von Berichterstattung.

Die wirtschaftliche Situation ...

Die rechte Opposition stützt ihre Kritik auf die schweren Probleme der venezolanischen Wirtschaft. Die Hauptprobleme sind die ausufernde Inflation, die 2013 über 50% betrug, Versorgungsprobleme und die hohe Kriminalität.

Die Wirtschaft ist offensichtlich in einer schweren Krise. Diese ist Ergebnis der Chávez-Politik, die gegen alle Rhetorik nicht sozialistisch, sondern staatskapitalistisch ist. Während das Öl dem Land sichere Einnahmen gewährt (und einen Zusammenbruch der Wirtschaft unwahrscheinlich macht), führte die Konzentration auf diesen Wirtschaftszweig zur vollständigen Abhängigkeit von Importen, v.a. für Lebensmittel. Das macht das Land anfällig gegenüber dem internationalen Kapital und für Spekulation.

Die hohe Inflation entsteht durch die hohe Abhängigkeit von Importen, die Regulierung der Preise von Grundnahrungsmitteln und dem Schwarzmarkt für den Doller, der wiederum Ergebnis der Regulierung des Wechselkurses ist. Hinzu kommen eine ineffiziente Staatsbürokratie, hohe Korruption und Probleme mit illegalen Ausfuhren.

Von der internationalen Presse weniger erwähnt wird, dass Maduro in dieser Situation zu Zugeständnissen an die Kapitalisten tendiert. Bereits letztes Jahr wurden die Preise für einige Grundnahrungsmittel um bis zu 20% erhöht, wie von der Wirtschaft gefordert. Ebenso hat er Verhandlungen mit Wirtschaft und Opposition über die Erhöhung der Benzinpreise begonnen.

Das hat Maduro auch Kritik von der eigenen Basis eingebracht. Es gibt Stimmen, die von einem "Rechtsruck" der neuen Regierung sprechen. Es gab auch Demonstrationen von ArbeiterInnen gegen diese Politik. Am 3. März wurden 10 Gewerkschafter der Ölindustrie verhaftet, als sie für den Abschluss und die Einhaltung eines neuen Tarifvertrages der staatlichen Ölfirma demonstrierten. Und das war nicht das erste Mal.

... und ihre Ursachen

Die wirtschaftlichen Probleme Venezuelas resultieren letztlich daraus, dass Maduro wie sein Vorgänger Chávez die Grundlagen und Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie (Privateigentum, Marktbeziehungen) nicht zerstört und durch eine auf demokratischer Planung beruhende Gebrauchswertproduktion ersetzt hat. Es gab lediglich einige begrenzte Eingriffe wie Verstaatlichungen und Subventionen. So begrüßenswert diese auch hinsichtlich der sozialen Verbesserungen sind, so haben sie dennoch keine qualitativ neue Art von Ökonomie geschaffen. Die Widersprüche, die aus dem "Nebeneinander" von bürgerlicher Ökonomie und einer in einigen Bereichen anderen sozialen Zwecksetzung (soziale Maßnahmen) entstehen, werden zunehmend größer. So war es z.B. absehbar, dass die Bauern versuchen, ihre Waren im Ausland anzubieten, weil die subventionierten Lebensmittelpreise auf ihre Einkommen drücken oder sich die Produktion für sie nicht mehr lohnt.

Perspektiven

Die Politik der Chavistas war immer von einem großen Abstand zwischen Rhetorik und Realität geprägt. Während sie unumstritten Millionen Unterdrückte und Ausgeschlossene aus der Armut geführt hat, ist sie andererseits nie über den Kapitalismus hinaus gegangen. Die Regierungspartei, die PSUV, ist eine Volksfront, wie das ganze Chávez-Projekt, die auf einem Bündnis zwischen der städtischen Armut, der Arbeiterklasse und den "fortschrittlichen" Teilen der Bourgeoisie beruht.

Deshalb muss das Projekt zwangsläufig in immer größere Widersprüche geraten, wie jeder Versuch der Versöhnung von gegensätzlichen Klassen in einer Klassengesellschaft. Die wirtschaftlichen Probleme sind Resultat davon.

Die aktuellen Proteste sind jedoch eine reaktionäre Antwort auf die Probleme des Landes. Die Opposition steht für ein Programm der Re-Liberalisierung, was zu noch höherer Inflation führen und Millionen zurück in die Armut werfen würde. Sie wollen die Hegemonie des US-Imperialismus über Venezuela wieder herstellen und den Öl-Sektor wieder komplett privatisieren. Das sind die wirklichen Gründe, warum sie von den USA und vielen internationalen Medien unterstützt werden. Der Sturz der Regierung durch diese Kräfte würde zu einem gefährlichen Rechtsruck führen.

Deshalb verteidigen wir die Regierung Maduro gegen die reaktionären Proteste, ohne unsere Kritik an ihr einzustellen. Wir sagen klar, dass die chavistische Politik keine nachhaltige Lösung der Probleme der Massen darstellt.

Nach 15 Jahren hat sich in Venezuela eine neue, chavistische Bürokratie gebildet, die sich bereichert und der Hort von Ineffizienz und Korruption ist. Die Versprechungen der Regierung von Kontrolle von unten, einem Sozialismus, der der ganzen Bevölkerung dient etc. erweisen sich mehr und mehr als leere Worthülsen.

Die "Bolivarische Revolution" ist einem Wendepunkt angelangt. Entweder sie wird vertieft, zu einer wirklichen Revolution, die den kapitalistischen Staats- und Repressionsapparat zerschlägt und die korrupten Bürokraten auch aus den eigenen Reihen entmachtet, oder sie wird von reaktionären Kräften letztendlich niedergeschlagen werden.

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Nr. 188, April 14
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