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Kapitalistische Krise in Türkei, Brasilien, Indien, Russland

Vom Boom zum Bumerang

Markus Lehner, Neue Internationale 188, April 2014

Seit Mitte Januar gibt es ein neues Schreckensszenario in der Entwicklung der globalen Krise nach 2008: nach Bankenkrise, folgender Rezession und Euro-Krise sind es jetzt die Währungsturbulenzen der „Schwellenländer“, die zu Befürchtungen eines neuen weltweiten ökonomischen Einbruchs führen. Nachdem diese Länder jahrelang im Gefolge der Finanzkrise Ziele großer Kapitalzuflüsse waren, fährt jetzt der Zug abrupt in die andere Richtung - ein Szenario, das sehr stark an die Erscheinungen der Asien/Russland-Krise Ende der 1990er erinnert. Damals kam es zur Zahlungsunfähigkeit einer Reihe von „Tigerstaaten“ und in Folge letztlich auch zum Zusammenbruch Argentiniens. Nach der Erholung und im Gefolge der lockeren Geldpolitik der US-Notenbank entwickelte sich ein langjähriger „Schwellenländer“-Boom, der durch die Krise 2008/09 nur schwach gedämpft und seither sogar zu einem wesentlichen Motor der Weltkonjunktur wurde. Dieser Boom ist offensichtlich seit einem Jahr ins Stocken geraten und droht derzeit zu einem globalen Krisenbeschleuniger zu werden.

Währungsturbulenzen

Oberflächlich betrachtet ist das auffälligste Merkmal in diese Richtung der Absturz mehrerer Währungen, besonders jener der Türkei, Indiens, Indonesiens, Brasiliens, Argentiniens, Süd-Afrikas und Russlands, um nur die wichtigsten zu nennen (dass sich die Ukrainische Hrywna derzeit im freien Fall befindet, ist nicht weiter verwunderlich). Dabei ist der dramatischste Absturz sicher der des Argentinischen Peso, der innerhalb eines Jahres nur noch die Hälfte wert sein könnte. Angesichts der besonderen Umstände der „Erholung“ vom letzten Zusammenbruch Anfang des Jahrtausends ist die Kapitalfluchtbewegung hier nicht besonders verwunderlich - die ökonomische Abwärtsbewegung dort verschärft aber die Probleme Brasiliens, für das Argentinien ein wichtiger Absatzmarkt ist.

Was die Märkte weitaus mehr beunruhigt, ist die Entwicklung der Türkei, die bis vor Kurzem noch als Top-Kandidat für die „emerging market“-Anlagen gehandelt wurde. Dort gab es einen Wertverlust der türkischen Lira gegenüber dem Euro innerhalb eines Jahres um fast 40% (von 2,3 Lira pro Euro auf über 3,2). Auch die dramatische Erhöhung des Zentralbankzinssatzes von 4,5% auf 10% im Januar konnte die Lira bis heute nicht wieder unter 3:1 bringen. Mit den jüngsten politischen Entwicklungen in der Türkei hat sich der Abwertungsdruck sogar beschleunigt. Dies wird als umso bedrohlicher gesehen, als sich die Fremdwährungsreserven der Türkei inzwischen auf nur noch etwa ein Drittel der finanziellen Außenverpflichtungen reduziert haben - das niedrigste Verhältnis aller von den Währungsturbulenzen betroffenen Länder (selbst Argentinien hat drei Mal so große Währungsreserven als Verpflichtungen, die im schlimmsten Fall in diesen Fremdwährungen zu bedienen wären). Kein Wunder, dass Regierungschef Erdogan von einer internationalen Verschwörung faselt - aber Hedge-Fonds agieren momentan in Bezug auf die türkische Lira, wie sie eben in solchen Krisensituationen angesichts spekulativer Gewinne mit Währungsverfall zu agieren pflegen.

Zu diesen zwei besonders gebeutelten Ökonomien gesellt sich noch Indonesien mit 33% Wertverlust seiner Währung gegenüber dem Euro, auch wenn diese Entwicklung seit Dezember vorerst stabilisiert wurde. Danach folgen die anderen kriselnden Währungen mit jeweils um die 25% Wertverlust (Brasilien, Russland, Indien, Südafrika).

Hedge-Fonds

In diesem Zusammenhang gibt es seit Mitte Januar gezielte Spekulationen von Hedge-Fonds, ähnlich denen, die bei der Euro-Krise bekannt wurden. D.h. statt ihrem vorgeblichen Zweck der Absicherung von realwirtschaftlichen Transaktionen gegen Währungsschwankungen zu verfolgen, werden Optionsgeschäfte mit massiven Leerverkäufen getätigt. So werden im großen Stil Währungen der Krisenländer virtuell (in Wertpapierform) verkauft, die erst später, bei stark gesunkenen Kursen wirklich gekauft werden müssen, wodurch hohe Abitrage-Gewinne gemacht werden. Durch das hohe Gewicht der Verkäufe in einem sowieso abwärts zeigenden Markt werden solche Wetten auf Abwertungen zu „self-fulfilling prophecies“.

Zu den Hedge-Fonds kommen die großen institutionellen Anleger, die aus den „emerging market“-Fonds gehen, die daher in diesem Jahr schon bis zu 30% Kursrückgang erlebten. In den ersten beiden Monaten dieses Jahres, so wird geschätzt, sind bereits so viele Milliarden aus den Schwellenländern in die westlichen Zentren zurückgeflossen wie im gesamten vergangenen Jahr. Derzeit bemisst sich die Geschwindigkeit auf 7 Mrd. US-Dollar pro Woche - und schon längst überwiegen die Abflüsse die Zuflüsse. Ein Drittel des seit Ende 2008 in die Schwellenländer investierten Kapitals ist binnen der letzten drei Monate wieder abgezogen worden (SZ, 24.3.).

In der Betrachtungsweise der bürgerlichen Wirtschaftskommentatoren spielt hier die Politik zweier großer Zentralbanken eine entscheidende Rolle: die der amerikanischen (Fed) und die der chinesischen (PBOC). Hatte die Fed die Weltmärkte seit der Finanzkrise mit Dollar überschwemmt, so ist sie derzeit dabei, ihre lockere Geldpolitik zu „zügeln“. Die Politik des QE (quantitative easing = Geldmengenausweitung) hat den Banken und Anlegern in den imperialistischen Zentren die Liquidität gesichert, um weiter profitable Anlagen zu suchen. So konnten sie günstige Kredite in Dollar aufnehmen, um sie in beträchtlicher Zahl in Schwellenländern in dort möglichen viel höheren Renditen in den entsprechenden Währungen anzulegen.

Dies betraf sowohl spekulative „Carry Trades“ (die einfach von der enormen Zinsdifferenz profitierten), als auch Anlagen über Banken und Fonds „vor Ort“. Angesichts einer sich abzeichnenden Zinsumkehr in den imperialistischen Zentren und gestiegener profitabler Anlagemöglichkeiten dort werden derzeit offenbar die Gewinne eingestrichen und in Dollar/Euro zurück transferiert. Die „Erholung“ in USA, Japan und EU ist zumindest so gewichtig, dass sich die Anlage dort wieder lohnt. Dazu kommt, dass der Kapitalzufluss in vielen der Schwellenländer die an sich negative Handelsbilanz in der Kapitalbilanz ausgeglichen hat. Mit dem Kapitalabfluss muss sich das sofort negativ auf den Währungswert auswirken, was bei allen oben genannten Währungen der Fall ist, im Unterschied etwa zu Ländern wie Südkorea oder Mexiko. Mit der wirtschaftlichen Erholung im Zentrum steigen dort auch wieder die Exporte, während die Handelsbilanzen von Türkei, Brasilien & Co. abstürzen. Plötzlich entdecken die „Analysten“ jetzt überall in den Schwellenländern, die noch vor kurzem als „Zukunft der Weltwirtschaft“ gepriesen wurden, Probleme: „wirtschaftliche Ungleichgewichte“, Infrastruktur- und Regulierungsprobleme, Demokratie- und Korruptionsfragen etc. Alles Dinge, mit denen heute Abzug von Kapital aus einigen Ländern und der Hype neuer Lieblinge begründet wird. Für die anderen Schwellenländer steht der IWF schon wieder mit „guten“ Ratschlägen für „Reformen“ bereit, die im Wesentlichen aus Sozialkürzungen und autoritären Angriffen auf die Rechte der ArbeiterInnen bestehen.

Faktor China

Als neuer Faktor in der Welt der „Märkte“ ist das Gewicht Chinas und auch der „Peoples Bank of China“ deutlich zu spüren. Anders als die anderen Länder, die sich mit verzweifelten Zins- und Stützungsmaßnahmen gegen den Verfall ihrer Währungen stemmen, macht die POBC das genaue Gegenteil: seit Anfang Januar verkauft sie gezielt Yuan, d.h. betreibt die Abwertung der eigenen Währung. Hier kommen wir zum Zentrum des Problems des möglichen Platzens der QE-Blase. Auch wenn die genannten Schwellenländer von starkem Kapitalzufluss aus der QE-Liquidität profitierten, so war dies verschwindend im Verhältnis zur Masse, die nach China geflossen ist. Auslandskapital floss v.a. über Banken in Hongkong, Singapur und Australien nach China: allein die Hongkonger Banken haben Kredite nach Inland-China in der Höhe von 148% BIP von Hongkong vergeben (2008 lag dieses Verhältnis noch bei 18%).

Die ausstehenden Forderungen Chinesischer Banken liegen inzwischen bei 14 Billionen US-Dollar - und haben damit das Volumen der Geschäftsbanken der USA überholt! In der Folge haben sich die Immobilienpreise verdoppelt und ein unübersehbarer Schattenbankensektor ausgebreitet. Während die chinesische Regierung noch 2009/10 all dies mit dem weltweit größten Konjunkturprogramm befeuerte, steuert sie seit mehr als einem Jahr gezielt dagegen, insbesondere nach dem Fast-Kollaps einiger größerer chinesischer Banken vor einem Jahr. Was auch immer die Maßnahmen und die Erfolgsaussichten dieses Rückführungsprogramms sind: die Folgen tragen derzeit v.a. die Handels- und Finanzpartner Chinas in den Schwellenländern. Einerseits gibt es Einbrüche für den Export nach China (z.B. für Rohstoffexporteure wie Brasilien, Chile, Venezuela). Andererseits geht die Hebelwirkung von Anlagen in Schwellenländern, die zumeist mit dem Chinageschäft verbunden waren, verloren. Dies betrifft dann nicht nur Banken in Hongkong und Singapur, sondern in allen Schwellenländern.

Stagnationsgefahr

In allen betroffenen Ländern wirken sich Kapitalabfluss, Kredit-Klemme und Währungsverfall in steigenden Zinsen und stark steigender Inflation aus. Betroffen sind davon in erster Linie ärmere und Mittelschichten, für die sich Preise für die importierten Konsumgüter zum Teil dramatisch erhöhen bzw. die nicht mehr in der Lage sind, ihre Schulden bei steigenden Zinsen zurück zu zahlen. Reichere Bevölkerungsschichten reagieren mit starker Flucht in die „Hartwährungen“. Bei diesen Rahmenbedingungen - sinkender Konsum, sinkende inländische Investitionstätigkeit aufgrund von privater Überschuldung, sinkende ausländische Direktinvestitionen - ist klar, dass diese Länder in die Spirale der Stagflation abzusinken drohen und schon jetzt in eine rezessive Richtung tendieren.

Anders als in der Schwellenländerkrise Ende der 1990er findet dies jedoch nicht in einer Situation der hohen Dollar-Schulden in den Krisenländern statt - wie gesagt, sind im Gegenteil bis auf die Türkei die Krisenländer mit starken Devisenreserven ausgestattet. Das Problem ist vielmehr die enorme Privatverschuldung (zumeist in den eigenen Währungen) bei einheimischen und ausländischen Banken, gespeist aus internationalem Anlagekapital (natürlich mit vielfacher Hebelwirkung multipliziert).

Wie schon in der Euro-Krise wird sich auch diese Krise letztlich wieder als „Bankenkrise“ darstellen, in der diesmal im Schwellenländer-Geschäft verwickelte Banken „gerettet“ werden müssen, unter besonderer Beteiligung der betroffenen Staaten. Von daher greift die Analystenweisheit, dass sich die Asienkrise diesmal aufgrund der hohen Dollarreserven nicht wiederholen wird, zu kurz. Die für die Banken einspringenden Staaten werden sehr schnell durch den Umfang der Rettungsaktionen ebenso rasch in die Zahlungsunfähigkeit gedrängt, wie einst die unmittelbare Dollar-Verschuldung es bewirkte. Wie schon in Griechenland, werden diesmal weitaus größere Staaten von Agenturen des Imperialismus a la Troika/IWF „gerettet“ werden. Im Fall der Ukraine wurde sogar bereits demonstriert, wie man in solchen verzweifelten wirtschaftlichen Situationen sogar Massenunterstützung für imperialistische Krisenbewältigung organisieren kann: unter dem Slogan des Kampfes gegen „alle korrupten Politiker“ und für „westliche Demokratie“ und mit Hilfe faschistischer Stoßtruppen. Aber auch das Umschlagen der Proteste in Brasilien, Bulgarien bzw. in anderer Weise die Bewegung in Venezuela zeigen, wie schnell Bewegungen, die nicht zu den eigentlichen Ursachen der Krise vordringen und die organisierte Arbeiterklasse im Zentrum der Gegenwehr haben, letztlich zu pro-imperialistischen, nationalistischen oder pro-neoliberalen Instrumenten „umgedreht“ werden können.

Ukraine und Russland

Der Konflikt mit Russland um die Ukraine zeigt eine weitere Auswirkung der neuen Phase der Krise: die neuen imperialistischen Mächte China und Russland sind derzeit von Gewinnern zu Betroffenen der Krise geworden und werden nun v.a. von einem wieder erholten Dollar-Imperium herausgefordert. Es ist insbesondere die momentane wirtschaftliche Schwäche Russlands als dem schwächsten Glied der neuen imperialistischen Rivalen, die der US-Imperialismus in verschiedenen internationalen Krisenherden auszunutzen versucht. Tatsächlich deuten alle ökonomischen Indikatoren in Russland nach unten und mit der jüngsten politischen Krise hat sich auch der Kapitalabfluss dramatisch beschleunigt. Die westliche Sanktionspolitik könnte somit die russische Ökonomie tatsächlich an den Rand des Zusammenbruchs führen, nicht ohne negative Auswirkungen auf die gerade vor der Deflationsgefahr stehende EU-Ökonomie. Sollten russische Bankenzusammenbrüche im Verein mit zusammenbrechenden Exportmärkten und sowieso schon sinkenden Preisen für Industrieprodukte die EU in die Deflationsspirale bringen (analog zu Japan in den letzten Jahrzehnten), wäre die Euro-Krise sehr schnell wieder akut und von wirtschaftlicher Erholung im Euro-Raum würde niemand mehr sprechen.

Auch in der Ukraine waren die USA die treibende Kraft, die „Fuck the“-EU vor sich herschiebend, um Russland in seinem „ureigenen Hinterhof“ herauszufordern. Insofern ist die derzeitige Phase der Krise auch eine, in der die inner-imperialistische Auseinandersetzung um die Neuaufteilung der Welt in Einflusssphären eine intensivere Form, ökonomisch, politisch und teilweise auch militärisch („neuer Kalter Krieg“) annimmt. Und ganz deutlich ist: das US-Imperium schlägt wieder zurück. Insofern ist die Strategie der russischen Regierung klar: Was den russischen Imperialismus an wirtschaftlicher Stärke fehlt und in den Absturz zu führen droht, soll durch militärische Stärke wettgemacht werden. Dabei werden negative wirtschaftliche Folgen, die v.a. auch die EU mitbetreffen, bewusst in Kauf genommen, um hier den Keil zwischen die westlichen Herausforderer zu treiben. Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua hat das nach der russischen Krim-Annexion auf den Punkt gebracht: „Der Westen glaubte schon an einen großen Sieg im geopolitischen Kampf. Aber die Dinge entwickelten sich anders“.

Gerade die Krise in den aufstrebenden Halbkolonien und bei den Herausforderern der alten Mächte bedeutet, dass wir in eine Phase verstärkter imperialistischer Neuaufteilungskämpfe, von imperialistischen Einflussnahmen in Konflikte, Protestbewegungen, Bürgerkriege bis hin zu unmittelbaren militärischen Interventionen eintreten - vielleicht sogar unmittelbarer militärischer Auseinandersetzungen. 100 Jahre nach dem Versagen der internationalen Arbeiterbewegung angesichts des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges gilt es wieder, dass die Hauptbedrohungen für die friedliche, soziale und ökologische Entwicklung der Menschheit der imperialistische Monopolkapitalismus und seine Krisen sind. Eine Bedrohung, der nur die revolutionär organisierte internationale Arbeiterklasse entgegentreten kann.

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