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Tunesien

Ben Alis Ende ist der Anfang

Theo Tiger, Neue Internationale 156, Februar 2011

Der tunesische Präsident Zine al-Abidine Ben Ali ist nach Saudi Arabien geflohen. Zuvor übergab er die Macht an Premier Mohammed Ghannouchi und der Notstand wurde verkündet. Die Gewerkschaften - früher dem Regime treu ergeben - haben den Generalstreik ausgerufen. Auch das macht klar, dass das Regime die Krise nicht überstehen würde.

Am 13. Januar ging Ben Ali ins Fernsehen und entschuldigte sich wortreich für die Gewalt der Sicherheitskräfte. Er hätte die Klagen verstanden und der Polizei befohlen, nicht mehr in die Menge zu schießen. Er verkündete, dass er nicht mehr zur Präsidentschaftswahl 2014 antreten will und jetzt die Korruption bekämpfen will. Auch Pressefreiheit versprach er. Doch all das kam den Massen zu spät und war ihnen zu wenig.

Die Demonstrationen wurden noch größer als zuvor. Die Hauptforderung war die nach dem sofortigen Rücktritt von Ben Ali. Eine Revolution entfaltete sich in Tunesien.

Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Premier Ghannouchi mit seinem Mix aus Tränengas und Verhandlungen mit der Opposition die Situation beruhigen kann. Der tunesische Aufstand hat längst Auswirkungen auf die gesamte Region, wo die ArbeiterInnen, Bauern und die Jugend vor ähnlichen Problemen stehen.

Beginn und Ursachen der Proteste

Der Auslöser der Proteste war der Fall des 26jährigen Mohammed Bouazizi. Am 17. Dezember hatte er sich selbst verbrannt, nachdem die Polizei seinen Handelsstand beschlagnahmt hatte, weil er keine ausreichende Bestechung zahlen konnte. Ohne festen Job war Mohammed gezwungen, als Gemüseverkäufer auf der Straße zu arbeiten.

Sein Fall war kein Einzelfall. In letzter Zeit gab es dutzende solch tragischer Proteste. Sie offenbaren das Elend einer ganzen Generation.

Tausende Jugendliche identifizieren sich mit dem Schicksal Mohammeds und skandieren bei den Protesten seine letzten Worte: „Keine Armut mehr und keine Arbeitslosigkeit!“

Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei 14%, bei unter 20jährigen ist sie dreimal so hoch. Es gibt allein 200.000 Jugendliche mit Schulabschluß ohne Job. Deshalb verbreitete sich der Protest so schnell im ganzen Land, die Bevölkerung hat genug von Armut und Arbeitslosigkeit. Die Revolte richtete sich auch direkt gegen die Diktatur Ben Alis, die früher alle Proteste gegen brutal unterdrückt hatte. Ben Ali war 23 Jahre im Amt und immer mit großen Mehrheiten wiedergewählt worden. Doch die 99% Zustimmung noch in den 1990ern zeigt eher den korrupten und diktatorischen Charakter des Regimes als wirkliche Zustimmung.

Die Protestierenden wenden sich gegen die Einschränkungen elementarer Grundrechte, gegen die galoppierende Korruption und gegen die Kontrolle der Wertschöpfung im Land durch einen kleinen Kreis um den Clan von Ben Ali.

In Sidi Bouzid, wo Mohammed starb, organisierte die Bevölkerung einen „sit-in“ mit der Forderung „Recht auf Arbeit“. Das Regime entsandte Polizei, die mit Gewalt vorging. Bei den anschließenden Massenprotesten wurde auf die Demos, ja sogar auf Begräbnisfeiern geschossen.

Viele AktivistInnen wurden inhaftiert, die Regierung versuchte, alle möglichen Informationsquellen still zu legen. Alle Visa von ausländischen Journalisten wurden abgelehnt, ausländische Websites gesperrt, Blogger verfolgt und bestraft.

Das sind nicht die ersten Massenrevolten in Tunesien, schon 2008 und 2010 gab es Arbeitslosenproteste, speziell in der Bergbauregion um die Städte Gafsa, Shkira und Ben Gourdans.

Die Übergangsregierung

Nach dem Verschwinden von Ben Ali wählte das Parlament seinen Präsidenten, Fouad Mebazza, zum neuen Interimspräsidenten, um die nächsten Wahlen vorzubereiten. Dieser beauftragte den noch von Ben Ali zum Premierminister ernannten Ghannouchi mit der Regierungsbildung, einer „Regierung der nationalen Einheit“. Drei oppositionelle Parteien, die Demokratische Fortschrittspartei (PDP), das Forum für Arbeit und Freiheit (FDTL) und die Erneuerungspartei nahmen das Angebot der Regierungspartei, der Konstitutionellen Demokratischen Versammlung (RCD) an. Diese Parteien dürfen jeweils ein Ministerium übernehmen, die entscheidenden Posten wie Innen, Wirtschaft und Armee bleiben jedoch in der Hand der RCD.

Die Minister der Opposition stammen alle aus den Gewerkschaften. Nur einen Tag nach ihrer Ernennung traten sie zurück und forderten, dass keine Minister aus der alten Regierung Ben Alis in der Übergangsregierung vertreten sind. Islamistische Parteien sowie die Arbeiterkommunistische Partei Tunesiens traten nicht in die Regierung ein. Die Proteste gegen die Regierung gehen indessen weiter, richtigerweise fordern sie das Ende der Regierung Ghannouchi.

Inzwischen gibt es eine Zeltstadt vor dem Amtssitz von Ghannouchi. Die AktivistInnen wollen solange weiter machen, bis auch er gegangen ist. Als die Opposition und der Widerstand auf der Straße ein Ende der Regierungspartei forderten, trat Ghannouchi gemeinsam mit anderen alten Weggefährten aus der Partei aus. Ein Ende der Proteste bedeutet dies aber nicht.

Ghannouchi forderte inzwischen alle verbotenen Parteien auf, bei den Parlamentswahlen in zwei Monaten anzutreten. Auch alle im Exil lebenden AktivistInnen wurden aufgefordert, zurückzukehren. Inhaftierte AktivistInnen wurden inzwischen freigelassen. All das zeigt, welchen Druck die Massenbewegung entfalten kann. Gleichzeitig sind diese Versprechen aber auch blanker Hohn - wie soll eine Parlamentswahl in zwei Monaten stattfinden, wenn alle relevanten Parteien jahrzehntelang verboten waren? Wie soll Pressefreiheit stattfinden, wenn es auch heute kaum möglich ist, unabhängige Informationen zu bekommen?

Die Übergangsregierung bezifferte die Zahl der Toten bei den Gewaltakten von Polizei und Armee auf 78 und mehrere hundert Verletzte. Die alte Führungsschicht aus Militär und Bürokratie will einen schnellen Übergang zu einer neuen Regierung, in der wieder die alten Kräfte die Strippen ziehen und den gesellschaftlichen Reichtum ausbeuten. Dafür braucht die Übergangsregierung schnell „freie“ Wahlen und neues Personal, welches vom EU- und US-Imperialismus akzeptiert wird.

Die Opposition fordert Wahlen in sechs Monaten, doch sie hat keinen genauen Plan, was in der Zwischenzeit passieren soll, außer dass keine Minister der alten Regierung an einer Übergangsregierung teilnehmen sollen. Für die Massenbewegung ist es daher notwendig, die Forderung nach einer Verfassunggebenden Versammlung aufzustellen. Sie wäre keine von der Übergangsregierung arrangiertes Parlament, sondern würde eine offene gesellschaftliche Debatte über die Grundlagen und Ziele des Landes anstossen.

Anstatt einer pseudodemokratischen „Übergangsregierung“ braucht die Massenbewegung gewählte Rätestrukturen, die ein gemeinsames Programm gegen Armut und Arbeitslosigkeit erarbeiten.

Tunesien gilt lange als Musterschüler bei der Umsetzung imperialistischer Interessen und als Beispiel für die Umsetzung der IWF-Politik, z.B. bei der Privatisierung von Staatsunternehmen. Tunesien ist eine führende Exportmacht in Afrika, speziell in den Bereichen Textilindustrie und Lebensmittelverarbeitung. Grund dafür sind v.a. die niedrigen Löhne, die Unterdrückung der Gewerkschaften und jeglicher Opposition. Dafür hat Tunesien 80.000 Polizisten - bei 10 Millionen EinwohnerInnen.

Für die Protestbewegung wird es entscheidend sein, ob sie Teile der Armee für den Widerstand gewinnen und überall Selbstverteidigungsorgane und Milizen aufbauen kann, wie in den südlichen Landesteilen bereits begonnen. Wenn der Widerstand sich in Räten und Volksmilizen organisiert, es den ArbeiterInnen, Arbeitslosen, den Bauern und der städtischen und ländlichen Armut sowie der Jugend gelingt, eigene Machtstrukturen aufzubauen, können sie ganze Regime wegfegen!

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Nr. 156, Februar 2011
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