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Frankreich

Bewegung am Scheideweg

Martin Suchanek, Neue Internationale 154, November 2010

Am 28. Oktober gingen erneut zwei Millionen gegen Sarkozys Rentenreform auf die Straße. Auch wenn es weit weniger waren als bei den letzten sechs Aktionstagen, die bis zu 3,5 Millionen auf die Straße brachten, muss das aber noch lange nicht das Ende Bewegung bedeuten. Schließlich fiel die letzte Demonstration in die Herbstferien. Die Schulen, ein wichtiger Sektor der Mobilisierung, sind geschlossen, viele Lohnabhängige sind im Urlaub.

Die Phase der ersten, fast naturwüchsigen Ausweitung der Bewegung gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist vorbei.

Seit Mitte September, als sich die LKW-FahrerInnen den Aktionstagen anschlossen, streikten und Straßenblockaden organisierten, ist kein großer Sektor der Arbeiterklasse mehr neu in Streik getreten, auch wenn natürlich immer wieder einzelnen Betriebe oder Belegschaften den Kampf suchen.

Die Bewegung ist nach wie vor populär. Eine klare Mehrheit der Bevölkerung lehnt nicht nur die Erhöhung des Renteneintrittsalters - de facto massive Kürzungen der Altersversorgung - ab, sondern unterstützt nach wie vor die Aktionen. Daher sollte auch niemand in den vorschnellen Abgesang der bürgerlichen Medien sowie der Regierung einstimmen, die seit Wochen ein „Abbröckeln“ und das Ende der Bewegung verkünden, einstimmen. Jede Verschlechterung der Unterstützung der Bewegung, sei es, dass sie von 71 auf 69% sinkt, wurde sofort als „Popularitätsbeweis“ der Regierung hingestellt.

Aber es gibt ein grundlegendes Problem: Die Massenbewegung in Frankreich hat das ganze Projekt der Regierung zwar in Frage gestellt, sie hat bewiesen, dass Millionen bereit sind, gegen eine solche Reform nicht nur zu demonstrieren, sondern auch zu kämpfen. Sie zeigt jedoch auch, dass die Fähigkeit, eine entschlossene bürgerliche Regierung bei einem strategischen Projekt des Angriffs auf die Arbeiterklasse in die Knie zu zwingen, unmittelbar mit der Frage der politischen Strategie der Bewegung verbunden ist.

Nun ist die Bewegung an einen kritischen Punkt angelangt, wo sie den Sieg über Sarkozy nur erringen kann, wenn es ihr rasch gelingt, die Streiks zu einem unbefristeten Generalstreik gegen die Reformen zu bündeln und gegenüber der Regierung die Machtfrage aufzuwerfen. Ansonsten droht, dass sich die Bewegung trotz der Militanz der ArbeiterInnen und Jugendlichen in den nächsten Wochen zersplittert, zersetzt - und damit den Gewerkschaftsführern, die an der Spitze der Bewegung stehen, den Vorwand liefert, sie „abzubrechen“ oder auslaufen zu lassen. Und das, obwohl unter den Lohnabhängigen, den Jugendlichen, ja der Masse der Bevölkerung die Losung des „greve general“, des Generalstreiks enorm populär war und ist.

Ursachen der Bewegung

Zweifellos liegt das daran, dass die Bevölkerung des ganzen Landes versteht, dass es sich beim Kampf um die Rente mit 60 nicht um irgendeine Reform handelt. Es handelt sich um eine zentrale Errungenschaft der französischen Arbeiterklasse, die auf Massenstreiks in den 30er Jahren zurückgeht.

Hinzu kommt, dass selbst dem Naivsten klar ist, dass diese Reform nur der Auftakt zu weiteren umfassenden Kürzungen auf Kosten der LohnarbeiterInnen - der beschäftigten wie erwerbslosen -, der Jugend, der MigrantInnen, ja auch großer Teile der Mittelschichten und des Kleinbürgertums ist. Der französische Staat hat zur Rettung der Banken, Versicherungen und großen Konzerne (z.B. in der Autoindustrie) wie alle europäischen Staaten eine gigantische Staatsverschuldung angehäuft. So beträgt die Neuverschuldung Frankreichs 2009 schon 7,7% des Bruttoinlandsprodukts. Diese soll mit mehr Leistungskürzungen im Sozialbereich und mit Massenentlassungen von der Bevölkerung gezahlt werden. So plant die Regierung u.a., die Eigenbeteiligung für Krankenhausaufenthalte sowie für Medikamente zu erhöhen. Die Rente mit 62 (bzw. bei weniger Beitragsjahren mit 67) ist ein bedeutender Teil davon.

Hinzu kommt, dass es in Frankreich keine konjunkturelle Erholung einzelner Sektoren der Wirtschaft gibt und sich diese noch immer in der Stagnationsphase der Konjunktur befindet.

Kurz, die Krise und ihre Folgen zeigen, dass der französische Kapitalismus an Konkurrenzfähigkeit insbesondere gegenüber Deutschland massiv verloren hat. Darum zeigten sich die Regierung Fillon und Präsident Sarkozy von Beginn an hart und unnachgiebig, trotz ihre Verhasstheit in der Bevölkerung. Auch der massive Korruptionsskandal Woerth-Betancourt, der die Regierung erschütterte und deren enge Verwicklung in die Machenschaften des Großkapitals der Bevölkerung drastisch vor Augen führte, ändert nichts an ihrer Entschlossenheit. Vielmehr illustriert die Tatsache, dass die Rentenreform gerade im Ministerium des Arbeitsministers Woerth entwickelt wurde, die Entschlossenheit der herrschenden Klasse Frankreichs, die Lohnabhängigen die Kosten der Krise zahlen zu lassen.

Die Entwicklung der Bewegung

Dabei wollten die Führungen der großen Gewerkschaften CGT (Confédération générale du travail CGT = Allgemeiner Gewerkschaftsbund, KP-nahe), CFDT (Confédération française démocratique du travail =Französischer Demokratischer Gewerkschaftsbund), SP-nahe) und FO (Confédération générale du travail-Force ouvrière, CGT-FO = sinngemäß Arbeitermacht; SP-nahe) ganz sicher keine grundlegende Konfrontation. Vielmehr hofften sie auf Einladungen zu Gesprächen und Verhandlungen über die Gesetzentwürfe. Doch es kam keine Einladung. Die Regierung wollte von den „Ratschlägen“ der Bürokratie nichts wissen.

Daher sahen sich diese gezwungen, massiver vorzugehen. Im Juni fanden erste landesweite Aktionstage statt, die ein über Erwarten großer Mobilisierungserfolg wurden.

Im September ging es weiter. Die Bewegung hatte sich massiv ausgedehnt. Auch die Hetze gegen die Roma und Muslime konnte sie nicht - wie von Sarkozy erhofft - spalten. Hinzu kam, dass viele Betriebe schon vor der und unabhängig von der Bewegung gegen das Rentengesetz im Kampf waren, teils mit Streiks und Besetzungen über mehrere Wochen. Seitdem wuchs die Bewegung bis Mitte Oktober enorm.

Es war anders als bei „normalen“ Aktionstagen gegen Gesetze, die in Frankreich unter Führung der Gewerkschaftsbürokraten immer wieder stattfinden - und allzu oft damit enden, dass die Regierung einen Teil ihres Gesetzes zurücknimmt, die Bürokraten an den Tisch holt und einen großen Teil der Verschlechterungen mit deren „sozialer Begleitung“ durchsetzt.

In den radikaleren Gewerkschaften wie SUD, aber auch von Teilen der CGT-Basis wurde diese Strategie der bürokratischen Gewerkschaftsführungen schon lange heftig kritisiert. Seit August trat SUD dann mit der Forderung nach einem unbegrenzten Streik gegen die Rentenreform auf.

Trotz dieses Drucks von unten hofften die Führungsspitzen von CGT und der rechteren CFDT oder von FO, weiterhin mit ihrer Taktik der Aktionstage durchzukommen. V.a. zur Generalstreikforderung verhielten sie sich ablehnend. So erklärte CGT-Chef Thibault noch am 7. Oktober:

“Das ist ein Slogan, der für mich völlig abstrakt, unverständlich ist: Es entspricht nicht der Praxis, durch die man es erreichen kann, das Kräfteverhältnis zu verbessern.“

Das Kräfteverhältnis hatte sich in dieser Phase jedoch schon massiv verschoben. Die EisenbahnerInnen, die städtische Müllabfuhr, Flughäfen, Seehäfen und Raffinerien wurden mehr und mehr bestreikt. Nach dem Aktionstag vom Oktober sahen sich die Gewerkschaftsführungen genötigt, dem Druck der Basis ein Stück weit entgegenzukommen. Sie erklärten den täglich „erneuerbaren Streik“. Das hieß, dass jede Assamble general (AG; Belegschaftsversammlung, allg. Versammlung) im von einer im Streik befindlichen Gewerkschaft legal und sofort in Streik treten kann, wenn sich eine Mehrheit auf der AG findet.

Damit war die Fortsetzung der Streiks über die Aktionstage hinaus ermöglicht und eine Tendenz, die sich unter den kämpferischsten Sektoren spontan entwickelte, auch legalisiert. Im Gefolge dieses Drucks weiteten sich die Streiks aus. Einzelne Städte wurden praktisch lahmgelegt, insbesondere Marseille, der fünftgrößte Hafen Europas.

Alle 12 Raffinerien waren im Ausstand. Hinzu kam, dass Mitte Oktober auch die LKW-FahrerInnen, die v.a. vom linken Flügel der CDTD organisiert werden, streikten.

Die andere entscheidende Ausweitung des Kampfes war der Eintritt der SchülerInnen in die Bewegung. Hunderte Schulen wurden bis zu den Ferien Ende Oktober besetzt, Hunderttausende SchülerInnen brachten weitere Dynamik in die Bewegung.

Der unbefristete politische Generalstreik lag in der Luft. Es gab eine spontane Tendenz der Bewegung zum Generalstreik. Eine vorrevolutionäre Situation entwickelte sich, die nicht nur die Rentenreform, sondern im Falle eines politischen Generalstreiks auch die Machtfrage gestellt hätte.

Warum kam es nicht dazu?

Die entscheidende Antwort liegt in der Politik und Strategie der Führung der Bewegung. Trotz des Drucks von unten lag die Führung im wesentlichen in den Händen der CGT und ihres Apparats, der bekanntlich nie einen Generalstreik und eine Generalabrechnung mit der Regierung wollte.

Hinzu kommt, dass sich die CGT durch die „Intersyndicale“ (ein Verbindungsgremium aller im Kampf befindlichen Gewerkschaften) absicherte, die formal die Führung innehatte, auch wenn die CGT den weitaus größten Einfluss und vor allem das Gros der Streikenden stellte.

Der CGT-Führung war und ist aber der „Druck“ des rechten Flügels unter diesen Gewerkschaften durchaus nicht unrecht, weil er zur Beschwichtigung der eigenen Basis u.a. radikaleren Kräften dient. So kann die CGT immer darauf verweisen, dass sie eigentlich mehr wolle, aber dass zur Wahrung der Einheit der Bewegung ein Konsens aller Gewerkschaften notwendig sei - womit sie den Konsens einer der Basis nicht verantwortlichen Schicht von BürokratInnen meint.

Die CGT hoffte, gestützt auf eine überwältigende Sympathie in der Bevölkerung, mit der Lahmlegung von Schlüsselsektoren des Landes die Regierung zum Einlenken zu bewegen.

Doch diese Strategie war von Beginn an zum Scheitern verurteilt, auch wenn sie radikaler war als jene der meisten anderen Gewerkschaften. Warum? Die Regierung Fillon/Sarkozy sah und sieht die Reform als einen zentralen Angriff auf die Arbeiterklasse und ihre Widerstandsfähigkeit. Die CGT hofft hingegen, dieser politischen Konfrontation aus dem Wege gehen zu können und die Machfrage zu umschiffen. Die Regierung aber stellte sie ihrerseits ganz bewußt - zuerst mit Provokationen bei den SchülerInnen und Jugendlichen. In mehreren Städten kam es zu Straßenschlachten. Die CRS verletzte Viele schwer. Vor „bekannten“ Schulen wurden extra Einheiten der Bullen geschickt, um SchülerInnen zu kontrollieren, teils drangen sie auch in Schulen ein.

Räumung von Grandpuis

In der Nacht vom 21. zum 22. Oktober räumten Polizeieinheiten den Zuggang zur  Raffinerie Grandpuis bei Paris. Die Regierung erklärte, dass es sich dabei um einen nationalen Notstand handle. Nach mehreren Stunden Kampf und zahlreichen verletzten ArbeiterInnen konnte die Polizei den Zugang zur Raffinerie erzwingen und Benzin abtransportieren. Die Regierung drohte außerdem damit, dass die Streikenden wegen „nationalen Notstands“ zur Wiederaufnahme ihrer Arbeit gezwungen werden sollten.

Was taten die Führungen der Gewerkschaften? CGT-Funktionär Charles Foulard erklärte:

„Das ist ein schwerwiegender Augenblick für unsere Demokratie. Niemals zuvor sind streikende Arbeiter zwangsverpflichtet worden.“

Doch was folgte daraus? Die „Intersyndicale“ hatte schon vor der Räumung zwei weitere Aktionstage beschlossen, einen am 28. Oktober, einen für Samstag, den 6. November. Das änderte sie auch angesichts des Angriffs des Staates nicht. Sie macht so der Regierung deutlich, dass sie gegen deren Provokationen zwar protestieren, keineswegs aber wirklich kämpfen wolle!

Notwendig wäre eine unmittelbare Antwort der gesamten Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung gewesen, ein unbefristeter Generalstreik gegen die Rentenreform und zur Verteidigung von Streiks und Streikrecht. Notwendig gewesen wären Massenblockaden vor den Raffinerien und organisierte Selbstverteidigungseinheiten der ArbeiterInnen - also Keimformen einer Arbeitermiliz - zur Sicherung der Aktionen gegen die Polizei.

Doch die Bürokratie wich der Konfrontation bewusst aus. Die Bewegung war an einem entscheidenden Wendepunkt, wo sie, statt mutig vorwärts zu schreiten, von den Bürokraten der Gewerkschaftszentralen, also der politischen Führung ohne Aktionsplan gelassen wurde. So verdeutlichten die Apparatschiks noch einmal gegenüber der Regierung, dass sie es auf keine Entscheidungsschlacht ankommen lassen wollten, dass sie keineswegs jenseits der bürgerlichen Legalität, jenseits des vom bürgerlichen System gesetzten Rahmens agieren wollten.

Es ist bezeichnend, dass die Intersyndicale auf Druck von CGT und CFDT beschloss, „eine Distanzierung von allen außerhalb ihrer Reichweite stehenden Kräften und Aktionsformen vorzunehmen. So wurde in der Abschlusserklärung (die den Aufruf zu den neuerlichen Demonstrationen am 28.10. und 6.11. enthielt) ausdrücklich geschrieben, man fordere die Leute dazu auf, nur 'im Respekt vor Personen und Gütern' zu demonstrieren." (Bernhard Schmid, Heute ist nicht alle Tage - wir komm'n wieder, keine Frage, Labournet.de, 29.10.10)

Schon am 25. Oktober zeigten sich die Ergebnisse dieser Politik geradezu plastisch im französischen Fernsehen. Dort debattierten Wirtschaftsministerin Christine Lagarde und die Vorsitzende des Unternehmerverbandes MEDEF, Laurence Parisot, mit dem CFDT-Vorsitzenden Chérèque und Thibault von der CGT. Dort schlug der CFDT-Chef - Gesetz, Räumung und Angriff auf das Streikrecht hin oder her - Gespräche zwischen Regierung und Gewerkschaften vor. „Natürlich“, erklärte er, wäre die Bewegung noch lange nicht zu Ende und es gebe weitere Aktionstage. Chérèque machte deutlich, wohin der Hase seiner Meinung laufen soll und erntete auch prompt Zustimmung von Parisot und Lagarde für den „konstruktiven Vorschlag“. Bezeichnend war aber die Reaktion von Thibault, der während der Debatte meist schwieg und Chérèque die Wortführerschaft überließ.

Diese Politik des Rückzugs und Ausverkaufs durch die Apparate droht nach Wochen des Anstiegs nun die Bewegung zu zersetzen. Die „erneuerbaren Streiks“ werden zwar weiter zugelassen und gedeckt. Aber immer weniger streiken. Mittlerweile arbeiten viele Raffinieren wieder. Auch im Verkehrsektor ist der Arbeitskampf nur noch lückenhaft. Es zeichnet sich ab, dass die Spitzen der Gewerkschaften den Kampf jetzt ins Leere laufen lassen, ohne mit ihrer Basis eine offene Konfrontation eingehen zu wollen. Sprich, die Streiks werden erneuert, sobald aber immer weniger ArbeiterInnen teilnehmen, ist das eben „Schicksal“, „Wille der Basis“ und nicht Ausdruck einer untauglichen Führung und Strategie.

Daher kombinieren die Gewerkschaftsführungen in ihren Stellungnahmen ein Beschwören der Bewegung, der Streiks und ihrer Fortsetzung mit „neuen Formen“ mit Passivität und Initiativlosigkeit, wenn es um jeden realen Schritt geht, die sich zerfasernde Bewegung wieder zu bündeln. Dazu wäre ein entschlosser Bruch mit der bisherigen Strategie nötig! Es wäre ein klarer Aufruf zum gemeinsamen, unbefristeten Kampf nötig, der in jedem Sektor aktiv herbeigeführt wird, statt es pseudo-demokratisch jedem einzelnen, jeder einzelnen Belegschaft „zu überlassen“, ob sie sich in ihrem Betrieb in der Lage sieht zu streiken, ohne dass es eine gemeinsame Strategie und Taktik gibt.

Der spontane Charakter der Bewegung, der im September und Anfang Oktober noch einen Teil ihrer Stärke ausmachte, weil er die Führungen zwang, dem Druck nachzugeben, offenbart nun seine Grenzen angesichts des Stockens der Bewegung und angesichts eines zu allem entschlossenen Staatsapparates, des politischen, medialen udn polizeilichen Apparats der herrschenden Klasse.

Linke Parteien

Die Politik der Gewerkschaftsführungen wird „selbstverständlich“ von den Reformisten, von den drei bürgerlichen Arbeiterparteien Frankreichs gedeckt und unterstützt.

Die Parti Socialiste (PS) wollte nie wirklich die Protestwelle. Viele ihrer Funktionäre und Parlamentarier gehen davon aus, dass „vernünftige Kürzungen“ unvermeidbar wären. Es sollten eben nur „weniger“ und alles gut verhandelt sein. Ansonsten hofft die PS darauf, dass die Protestwelle und der Hass auf Sarkozy sie 2012 zurück in den Präsidentenpalast spült und eine weitere „Links“regierung zusammen mit KP, Parti de Gauche und Grünen zustande kommt.

Die KP und die Parti de Gauche (Schwesterorganisation der dt. Linkspartei) haben auch nie ein kritisches Wort zu den Gewerkschaftsführungen verlauten lassen. Vielmehr halten sie sich an die Arbeitsteilung, dass Streiks und Arbeitskämpfe sowie soziale Rechte „Gewerkschaftssache“ seien, während sie für die „Politik“, d.h. Wahlen, zuständig seien.

Die schwächer werdende Dynamik der Bewegung führt aber auch dazu, dass sie nunmehr ihre eigenen Forderungen nach einem Referendum über die Rentenreform als Alternative zu einer landesweiten Streikbewegung auspacken, die das Gesetz noch immer kippen könnte.

Die radikalen Kräfte

Doch was tun die radikalen Kräfte, was tut die „radikale“, anti-kapitalistische Linke in diese Situation? Was tat sie in der Bewegung?

Die Gewerkschaft SUD hatte schon als erste für den Generalstreik agitiert und hat sicher einen großen Anteil daran, dass das eine populäre Losung wurde und ein realer Generalstreik auch wirklich nahe lag.

Aber die SUD zeigt auch die Grenzen radikalen, links-syndikalistischen Gewerkschaftertums auf. Der Kampf um die Rente ist nämlich keine rein gewerkschaftliche, sondern eine politische Frage, ein politischer Klassenkampf.

SUD zeigt hier mehrere Schwächen. Erstens hat sie die anderen Gewerkschaften nie zum Ausrufen und Organisieren des politischen Generalstreiks aufgerufen. Zweitens hat auch sie sich bis vor kurzem hinter dem Intersyndicale versteckt, diese zu vorsichtig und nicht klar genug kritisiert.

Zwar hat die SUD kritisiert, dass der Beschluss vom 21. Oktober, sich auf zwei Aktionstage zu beschränken, keine Strategie zum Siegen darstelle. Aber eine Strategie zum Sieg verfolgten CGT und CFDT auch davor nicht. Die SUD hatte die falsche Hoffnung, dass die Dynamik der Bewegung zu einer immer größeren Radikalisierung führen würde. Und selbst wenn sie und ihre Mitglieder gegenüber den Bürokraten der anderen Gewerkschaften skeptisch waren, so haben sie das nicht offen genug formuliert.

Das betrifft neben der Losung des Generalstreiks v.a. die Frage der Basiskontrolle über den Kampf. Die Tatsache, dass CGT und CFDT die dominierenden Kräfte unter den streikenden ArbeiterInnen waren, bedeutete auch, dass diese von ihnen kontrolliert wurden. Es gab zwar AGs, aber es gab auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene keine von unten gewählte Koordinierungen, welche die Bürokratie hätte kontrollieren oder abwählen können.

Die Tatsache, dass die SUD auf eine Kampagne für solche gewählten Koordinierungen von Beginn bis Ende der Bewegung „verzichtete“, ist ein vernichtendes Urteil über den linken Syndikalismus. Dazu kommt, dass es auch keine Behandlung der Frage gab, wie denn ein Generalstreik zu organisieren sei. Dabei ist es sonnenklar, dass ein solcher die Machtfrage aufgeworfen hätte, die Notwendigkeit der Bildung von Räten und deren landesweite Zentralisierung, der Schaffung von Selbstverteidigungsorganen der Klasse und der Bildung einer Arbeitermiliz, der Bildung von Aktionskomitees und Räten nicht nur in den Betrieben, sondern auch in den Stadtteilen, den Arbeiter- und Migrantenvierteln. Er hätte die Frage aufgeworfen, welche Regierung, welches Programm gegen die Krise auf Basis eines solchen Streiks nötig wäre. Es wäre dabei um die Schaffung einer Arbeiterregierung gegangen, die sich auf die Organe des Generalstreiks stützt.

Die NPA

Zeigt die Politik der SUD die Grenzen und Mängel des Syndikalismus angesichts einer vor-revolutionären Krise auf, so demonstriert die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) - wie praktisch alle größeren Organisationen der „radikalen Linken“ - das Versagen des Zentrismus angesichts dieser Krise.

Das Schlimmste, was man vielleicht über die NPA sagen kann, ist, dass praktisch alle Kritikpunkte an SUD auch auf die NPA zutreffen. Wenn überhaupt, war die NPA zögerlicher und verspätet beim Aufstellen der Generalstreiklosung.

In entscheidenden Wendepunkten des Kampfes agierte die NPA zwar deutlich radikaler als die Reformisten, aber ohne klare Zuspitzung ihrer Forderungen. So veröffentliche Besancenot, Sprecher der Neuen Antikapitalistischen Partei, folgende Erklärung zu Grandpuis:

„Die Streikenden von Grandpuis sind soeben im Namen der nationalen Verteidigung zwangsverpflichtet worden. Die Einsatztruppe der Polizei hat die Postenkette der Bürger angegriffen und mehrere Menschen verletzt. Zum Schutz der Beschäftigten im Streik und zum Schutz des Streikrechts schlage ich vor, dass alle Führer von politischen Parteien, Verbänden und Gewerkschaften gemeinsam gegen diesen gewissenlosen Anschlag auf die Arbeiterbewegung und ihre Rechte antworten.“

Besancenot hatte Recht, als er die Führungen von Gewerkschafts- und Arbeiterparteien zum Handeln aufrief. Aber er hätte weiter gehen und sich schärfer ausdrücken  müssen. Er hätte klar aussprechen müssen, dass Sarkozy nicht nachgeben wird, sondern die volle Staatsgewalt nutzen will, um die wirkungsvollsten Teile des Streiks zu brechen, nämlich jene, die die Benzin- und Energievorräte treffen, weil sie die kapitalistische Ökonomie zum Stillstand bringen können.

Er hätte darlegen müssen, dass die großen Bataillone der organisierten und unorganisierten ArbeiterInnen in den nächsten Tagen ins Treffen geführt werden müssen - oder die große Bewegung wird zurückweichen.

Ein umfassender, unbefristeter Generalstreik muss von allen Gewerkschaftsverbänden ausgerufen werden, wenn nötig, von CGT und SUD allein, wenn CFDT und FO sich aus der Front zurückziehen. Nur so können Sarkozy und der Staat unter den derzeitigen Umständen schachmatt  gesetzt werden.

Noch sind die Voraussetzungen günstig. 70% der Bevölkerung sind gegen die Reformen der Regierung. Falls die Regierung die Nationalpolizei CRS gegen die Millionen auf den Straßen einsetzt, könnte das eine Revolution auslösen.

Die NPA gibt aber keine konsequent revolutionäre Linie vor. Sie verallgemeinert vielmehr nur, was fortgeschrittene Teile der Bewegung und Gewerkschaften ohnedies vertreten. Sie betreibt Nachtrabpolitik. Die Aufgaben einer revolutionären Partei und Organisation besteht jedoch darin, in der Bewegung auf Grundlage einer gemeinsamen Strategie, Programmatik und Disziplin für ein Programm einzutreten, das die Bewegung voranbringt und zum Sieg führen kann. Ihre Aufgabe besteht darin, die vorrevolutionäre Lage zu einer revolutionären zu machen!

Sie müsste versuchen, kämpferische Gewerkschaften wie SUD, die oppositionellen Kräfte in CGT und CFDT, die anti-kapitalistischen Organisationen, VertreterInnen der SchülerInnen und Studierenden um sich zu scharen.

Sie müsste die Organisierung einer landesweiten Konferenz vorschlagen und in Angriff nehmen - mit Delegierten der streikenden Betriebe, von SchülerInnen- und StudentInnen, der Gewerkschaften und linken Parteien, die für eine klassenkämpferische Perspektive eintreten und gegen den drohenden Ausverkauf der Bürokratie und Reformisten Widerstand leisten wollen.

Doch v.a. braucht es einen Kurswechsel in der NPA, eine offene Debatte über ihre Rolle und Strategie und ein Ende der Nachtrabpolitik. Das muss unserer Meinung nach um folgende Perspektive geschehen:

Generalstreik JETZT! Diese Forderung muss an alle Gewerkschaften und Parteien gestellt werden, die die Bewegung unterstützen!

Für einen sofortigen unbefristeten Generalstreik, bis die gesamte Rentenreform bedingungslos zurückgezogen worden ist!

Formierung von Arbeiter- und Jugendschutzverbänden zur Verteidigung der Streiks und massenhafte Streikposten in allen Betrieben gegen die Polizei!

Aufbau von Aktionsräten (Koordinationen) zur Organisierung des Generalstreiks, bestehend aus Abordnungen aus jedem Betrieb und jeder Stadt!

Bündelung der Forderungen von ArbeiterInnen, Jugendlichen, Erwerbslosen in einem Arbeiteraktionsprogramm gegen die Krise!

Nieder mit Sarkozy und der UMP-Regierung! Für eine Regierung aus Gewerkschaften und Arbeiterparteien, die den Aktionsräten verantwortlich sind!

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Nr. 154, Nov. 2010
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