Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Frankreich

ArbeiterInnen und Jugend machen mobil gegen die „sozialistische“ Regierung

Marc Lassalle, Infomail 872, 21. März 2016

Ein Jahr nach den 12 Todesopfern des terroristischen Überfalls auf das Büro des Satiremagazins Charlie Hebdo ist vergangen. Seit den Terrorattacken im November 2015, bei denen 130 Menschen in Paris ums Leben kamen, wurde von der französischen Regierung der Ausnahmezustand verhängt. Sie war überzeugt, so könne sie das Tempo ihrer neoliberalen Reformen relativ risikolos anziehen. Ihre imperialistischen Interventionen in Syrien und Afrika gehen bisher praktisch ohne nennenswerten Widerstand im eigenen Land vonstatten. Dasselbe lässt sich auch von dem Ausnahmezustand und der Verfassungsänderung sagen, mit deren Hilfe die MigrantInnen ihrer Bürgerrechte beraubt werden können. Dazu zählt ebenso die Unterdrückung der Flüchtlinge in Calais sowie weitere „Reformen“, die demokratische und ArbeiterInnenrechte beschneiden.

Doch das jüngste Reformprojekt, das nach der neuen Arbeitsministerin Myriam El Khomri benannt ist, hat einen ernsthaften Widerstand im Land entfacht. Eine Online-Petition gegen diese Reform erhielt in nur wenigen Wochen mehr als eine Million Unterschriften, und der erste Aktionstag dagegen, am 9.März 2016, organisiert von ArbeiterInnen und Jugendlichen, war ein Erfolg.

Generalangriff

Diese „Reform“ ist im Kern ein Generalangriff auf die gesamte ArbeiterInnenklasse. Nach einer fast ganzjährigen Medienkampagne, in der die Propaganda verbreitet wurde, dass die gegenwärtigen Arbeitsgesetze (Code du Travail) unerträglich für die hart bedrängte Unternehmerschaft seien, hat dieses Projekt nun eine groß angelegte Deregulierung der Arbeitsverhältnisse zum Inhalt. Der neoliberale Wirtschaftsminister Emmanuel Macron hat erklärt, dass die 35 Stunden-Woche abgeschafft werden müsse. Die Bezahlung für Arbeit über mehr als 35 Stunden müsste gekappt werden und die überschüssige Arbeitszeit erst in einem Zeitraum von 3 Jahren abgerechnet werden. Die gesetzlich festgelegten Ruhepausen von 11 Stunden binnen 24 Stunden sollen nun über mehrere Tage verteilt werden können.

Vielfach soll der Boss künftig einseitig über Arbeitszeiten und Urlaubnahme entscheiden können. Firmen, die in „wirtschaftlichen Schwierigkeiten“ stecken, würden leichter ihre ArbeiterInnen feuern können. Die Entschädigung für illegale Entlassungen darf 11 Monatsgehälter nicht übersteigen. Obwohl die UnternehmerInnen im Betrieb sowieso schon enorme Macht haben und auch davon Gebrauch machen, klagen sie, dass die bestehenden Arbeitsrechte und -bestimmungen sie daran hindern würden, das zu tun, was notwendig ist, um die Wirtschaft in Gang zu halten.

Ähnliche Attacken sind in ganz Europa durchgeführt worden, zuletzt in Italien mit dem „Arbeitsplätzegesetz“ von Premierminister Matteo Renzi. Alle diese Reformen wurden mit der lachhaften Begründung auf den Weg gebracht, wenn die Bosse ihre Belegschaften leichter entlassen könnten und diese bei weniger Rechten und geringeren Löhnen länger arbeiten würden, dann würde sich die Arbeitslosigkeit auf wundersame Weise vermindern.

Es überrascht nicht, dass die ArbeiterInnenklasse und die Jugend gegen diese neuerlichen Attacken Widerstand leistet. Viele von ihnen hatten 2012 Hollande gewählt, als er versprach, dass er der Feind der Macht des Finanzkapitals wäre. Sie haben jedoch keine oppositionelle Bewegung aufgebaut, als er, der Ministerpräsident von der Sozialistischen Partei, die Mehrwertsteuer anhob, den Bossen 40 Milliarden Euro in den Rachen warf und den Abbau im öffentlichen Dienst fortführte, v. a. an Schulen und Krankenhäusern. Die neueste Reform ist aber offensichtlich eine zuviel.

Der Widerstand regt sich zu einer Zeit, da die ArbeiterInnen erkennen, dass keine der vorangegangenen Reformen die Arbeitslosenquote gesenkt oder gar die Arbeitsbedingungen verbessert hat. Infolgedessen ist Hollande in den Umfragewerten wieder abgesackt, nachdem er sich diese kurzzeitig nach den Terrorakten, der Welle patriotischen Eifers und der Beschwörung der nationalen Einheit erholt hatten.

Der Vertrauensverlust der Regierung war bereits in dem erschreckenden Abschneiden der Sozialistischen Partei bei den Regionalwahlen im November 2015 spürbar, auch wenn viele WählerInnen sich stattdessen der Front National als Ausdruck ihrer Verärgerung zuwandten. Die Attacken auf das Arbeitsrecht kommen nur ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, und verschiedene politische FührerInnen sind sich darüber im Klaren.

Die Linke

Der neue Vorsitzende der CGT-Gewerkschaft Philippe Martinez beabsichtigt, die Bewegung zur Vereinheitlichung in den eigenen Reihen zu nutzen und stellt sich als radikalen linken Führer dar, um seine eigene Wiederwahl auf dem CGT-Kongress im April zu sichern.

Die Linksfront, die Wahlplattform aus der französischen KP und Jean-Luc Mélenchons Linkspartei, ist praktisch erledigt. Vor kurzem hat Mélenchon angekündigt, er wolle sich zur Präsidentenwahl unabhängig von irgendeiner Partei stellen. Er und Pierre Laurent, der nahezu unbekannte KP-Chef, waren auf der Pariser Demonstration anwesend. Jeder von beiden versuchte sich als politischer Führer der „Linken innerhalb der Linken“ darzustellen und der Bewegung gegen die Reformen der Regierung eine Wahlalternative an der Stimmenurne anzubieten.

Eine weitere neue Entwicklung vollzieht sich in der PS selbst. Ihr erster Sekretär Jean-Christophe Cambadelis hat sich für einen Neuentwurf der Reform ausgesprochen. Jack Lang, einst Minister unter Mitterrand, hat den „kollektiven Selbstmord“ seiner Partei gebrandmarkt. Die historische PS-Führerin Martine Aubry, Bürgermeisterin von Lille, hat einen Aufruf in der Zeitung Le Monde unterzeichnet, der als „bissiger und schwerer Angriff“ auf Francois Hollande und Kabinettschef Manuel Valls bezeichnet wird. Er beginnt mit „Genug ist genug“, und beklagt „eine anhaltende Schwächung Frankreichs und der Richtung der Linken.“ Mit dieser neuen Reform werde „das gesamte Gefüge der gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem Land zerstört. Nicht dies, nicht uns, nicht die Linke.“ Es verwundert schon, denn es ist kaum 10 Monate her, als Aubry ein Orientierungsdokument für die PS-Parteikonferenz gemeinsam mit Manuel Valls unterzeichnete.

Trotz all diesem Opportunismus bedeutet der Linksschwenk einer Fraktion von PS-FührerInnen, dass SchülerInnen- und StudentInnen-Organisationen UNL, FIDL und UNEF, die zwar ganz von PS-BürokratInnen kontrolliert werden, sich dennoch in die großen Mobilisierungen gegen die Arbeitsreformen eingeschaltet haben statt auf die Bremse zu treten und die Regierung zu unterstützen. In Paris konnten 30 Schulen in verschiedener Form für Aktionen am 9. März gewonnen werden;100 waren es im ganzen Land. In ähnlicher Weise bereiten die StudentInnen eine große Bewegung vor. Die Jugend war fast 4 Jahre lang politisch nicht mehr auf der Straße gewesen, aber Gründe für ein Auftreten haben sich aufgestaut: Rassismus, Polizeigewalt, Prekarisierung und Arbeitslosigkeit. Diese Unzufriedenheit war in den jüngsten Demonstrationen greifbar.

Natürlich ist Valls nicht der erste Premier in Frankreich, der einer Opposition von ArbeiterInnen und Jugend gegenübersteht. Die Massenbewegungen gegen Chirac 1986 und Balladur 1994 zeugen davon. Am frischesten bleibt aber der Eindruck von der riesenhaften CPE-Bewegung 2006 haften, die Jacques Chirac und seinen Premierminister Dominic de Villepin eine Niederlage bereitete.

Die Opposition gegen die El Khomri-Reform begann mit einem erfolgreichen Demonstrations- und Streiktag, an dem sich mehr als 400.000 Menschen beteiligten. Er könnte und sollte sich zu einer massiven Bewegung gegen alle Offensiven von Hollande, auch den Ausnahmezustand, ausweiten. Allerdings dürfen sich ArbeiterInnen und Jugendliche, die zwar die Unordnung in der PS und die sich daraus ergebenden Vorteile nutzen können, nicht auf die neu gewonnenen „Freunde“ verlassen, die plötzlich ihr linkes Wesen wieder entdecken, nachdem sie jahrelang diese Regierung unterstützt haben. Sie sollten auch „radikalen“ Führern wie Mélenchon oder den KP-Bürokraten misstrauen, die außerstande waren, der neoliberalen PS einen wirkungsvollen Widerstand entgegenzusetzen und nur versuchen, für die Wahlen glaubwürdig zu erscheinen. Keiner von ihnen hat die ernsthafte Absicht, die Ursache aller Unterdrückung und gesellschaftlichen Niedergangs, das kapitalistische System, ins Herz zu treffen.

Zur Erlangung der Kontrolle über ihre eigene Bewegung müssen ArbeiterInnen und junge Leute ihre eigenen Vollversammlungen und Fabrikausschüsse aufbauen und ihre eigenen Forderungen aufstellen und sich nicht auf das verlassen, was ihnen Gewerkschaften und reformistische FührerInnen vorformulieren. Zum Gewinnen hat sich die Strategie von getrennten, vereinzelten Aktionstagen in der Vergangenheit als unwirksam erwiesen. Die UNEF hat bspw. jetzt für den 17. März einen weiteren Aktionstag anberaumt, während die CGT und andere Gewerkschaften den 31. März dafür ausersehen haben.

Sicher ist ein umfassender unbefristeter Generalstreik schwierig zu vereinbaren, doch er ist der einzige Weg, die Bewegung den Bürokraten aus der Hand zu nehmen und die Regierung zum Rückzug zu zwingen. Heute müssen wir den Ausbau der Bewegung in diese Richtung durch größere und häufigere Maßnahmen vorantreiben. Noch bedeutsamer daran ist, dass die Bewegung die Front National und ihre nationalistischen und rassistischen Parolen damit an den Rand drängen kann. Wenn einmal der Klassenkampf und ArbeiterInnenforderungen wieder in den Mittelpunkt des politischen Lebens rücken, könnte eine Alternative für die ArbeiterInnenklasse auf Grundlage eigenen Handelns und nicht als passive Unterstützung für erzopportunistische FührerInnen entstehen, die nur darauf aus sind, den nächsten Verrat vorzubereiten.

Weg mit der El Khomri-Reform, keine „Nachbesserungen“, sondern eine völlige Rücknahme des Projekts!

Weg mit dem Ausnahmezustand! Ein Ende aller polizeilichen Brutalität gegen Muslime und AktivistInnen!

Kein Euro, keine Person für die Armee und ihre imperialistischen Unternehmungen in Afrika und Nahost!

Öffnung der Grenzen für alle MigrantInnen und Flüchtlinge, nein zum Abbau des Lagers von Calais und der Vertreibung von Flüchtlingen!

Leserbrief schreiben   zur Startseite


Nr. 208, April 2016

*  Anschläge in Belgien und Pakistan: Die Täter sind dieselben
*  Erdrutschsiege der AfD bei Landtagswahlen: Eine schockierende Warnung
*  Bundesweiter Schulstreik am 27. April: Alle auf die Straße!
*  Leiharbeit und Werkverträge: Gesetz auf Eis
*  IG Metall Tarifrunde 16: Kleckern oder doch klotzen?
*  Tarifrunde Öffentlicher Dienst: Forderungen mit Anti-Rassismus verbinden
*  Reaktion zum AfD-Wahlsieg: Wohin geht die Linkspartei?
*  Krise der EU und die sog. "Flüchtlingsfrage": Internationale Solidarität statt Nationalismus und Festung Europa!
*  Frankreich: ArbeiterInnen und Jugend gegen die Regierung
*  Bernie Sanders: Die "politische Revolution" geht weiter - aber eine Revolution braucht eine Partei
*  Brasilien: Wir wollen keinen Putsch, wir wollen kämpfen!
*  Referendum in Britannien: Was auf dem Spiel steht?
*  Großbritannien: Das EU-Referendum und die ArbeiterInnenklasse



Wöchentliche E-News
der Gruppe Arbeitermacht

:: Archiv ::

Nr. 207, März 2016
*  Flüchtlingsfrage: Test für die EU
*  Drohender Rechtsruck: Antirassismus konkret
*  Internationaler Frauentag: Rassismus und Frauenunterdrückung
*  Tarifrundenritual: IG Metall will 5 Prozent
*  Internationalismustage der NaO: Durchgeführt trotz Repression
*  Landtagswahlen am 13. März: Referenden über Rassismus und Große Koalition?
*  Politisch-ökonomische Perspektiven: Deutsche Imperialismus, Klassenkampf und die "radikale" Linke
*  China: Krisenverschärfungen
*  Britannien: Die Labour Party und revolutionäre Taktik
*  Polen: Unaufhaltsam nach rechts?
*  Türkei: Hände weg von Kurdistan!
*  Syrien zwischen Waffenstillstand und Eskalation: Reaktionärer Vormarsch oder permanente Revolution?