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Russland 1917

Februarrevolution

Bruno Tesch, Neue Internationale 216, Februar 17

Russland erlebte in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts allein drei Revolutionen, deren zweite die vom Februar 1917 war.

Die Lage in Russland

Nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 herrschte ein Jahrzehnt politisch scheinbare Ruhe. Doch unter der Oberfläche des Zarenreiches gärte es weiter. Russland war neben Japan als jüngstes imperialistisches Land auf der Weltbühne erschienen, kränkelte jedoch von Beginn an. Nirgendwo war die Kluft zwischen einigen wenigen hoch entwickelten Zentren mit Industrie und den übrigen Riesengebieten, in denen vorkapitalistische Zustände die Landwirtschaft prägten, so groß wie dort. Krasseste Klassengegensätze machten sich in Lebensform und -standard bemerkbar.

Das Bürgertum hatte sich zwar ökonomisch emanzipieren können. Das politische Geschehen jedoch bestimmte immer noch die privilegierte Adelskaste, an deren Spitze der Zar thronte. Das zaristische Regime stützte seine Macht auf den Großgrundbesitz, der im Verein mit der russisch-orthodoxen Kirche die armen Bauern ausbeutete, sowie in Verwaltung und Exekutive auf einen großen unterdrückerischen Militär- und Sicherheitsapparat.

Russland war seit Ende des 19. Jahrhunderts zunächst vom französischen, ab 1905 auch vom britischen Finanzmarkt abhängig. 1914 befanden sich 80 % aller russischen Auslandsanleihen in französischen und etwa 15 % in britischen Händen. Die deutsche Industrie erhielt über den Handelsvertrag von 1904 eine führende Stellung auf dem russischen Markt, insgesamt fielen die deutschen Investitionen jedoch hinter belgische, französische und britische zurück. Die russische Handelsbilanz wies mit den übrigen imperialistischen Mächten passive Salden auf.

Zwar hatte die Zarenherrschaft sich im Laufe der Jahrhunderte weit nach Asien vorschieben und damit über das größte Staatsterritorium der Welt gebieten können. Seine Militärgewalt, mit der das Regime nationalistische Aufstände im 19. Jahrhundert an seiner Westflanke (u. a. Polen) niederschlug, machte Russland zum gefürchtetsten reaktionären Ordnungsfaktor in Europa. Doch zwischen Anspruch der Staatsführung und der Wirklichkeit klaffte eine immense Lücke. Die morsche Gesellschaftsordnung war den Herausforderungen des modernen imperialistischen Zeitalters nicht gewachsen. Ökonomisch hinkte Russland hinterher und selbst als Militärmacht mussten seine Hegemonialpläne zuletzt empfindliche Schlappen einstecken, so 1905 bei der Niederlage im Seekrieg gegen das aufstrebende Japan im Osten sowie 1907, als sich Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina auf europäischem Boden einverleibte. Russland war nur ein Koloss auf tönernen Füßen.

Weltkrieg

Der Weltkrieg als Konsequenz des innerimperialistischen Ringens um die Neuaufteilung der Welt beschleunigte die Verwerfungen und Zersetzung der alten Ordnung in Staat und Gesellschaft. Neben äußeren Niederlagen und einem unermesslichen Blutzoll - allein 5 Millionen EinwohnerInnen Russlands starben im Verlauf des Krieges - war auch das Leben im Land stark beeinträchtigt. Rasch breiteten sich Hungerunruhen aus. Streiks, die schon in Vorkriegszeiten ausgebrochen waren, erhielten eine stärkere politische Zuspitzung und drängten auf demokratische Reformen, Veränderung der politischen Verhältnisse und Sturz des zaristischen Systems. Die verwaisten kleinbäuerlichen Betriebe konnten nicht mehr bewirtschaftet werden, da das Rückgrat der Armee aus einfachen Bauern und LandarbeiterInnen bestand, was wiederum mit Fortdauer des Krieges dramatische Versorgungsengpässe heraufbeschwor. Als Folge desertierten die Rekruten scharenweise - allein 1916 anderthalb Millionen -, um in die brachliegende Landwirtschaft zurückzukehren. Die Abzweigung des Hauptgüterstroms an Nahrungsmitteln für das Heer und die sprunghaft angeheizte Inflation, 1916 betrug sie 400 %, bedingten einen Teufelskreis, der die Wechselbeziehung Nahrungsmittel vom Land in die Städte und im Gegenzug die Verbringung von Fertiggütern aus der Stadt aufs Land unterband.

Die Ereignisse

Die kriegswichtige Industrie war, wie erwähnt, in Ballungszentren zusammengefasst und teilte sich in etliche Großbetriebe mit 10000 Beschäftigten auf. An hervorragendster Stelle stand die Petrograder Region. Dort hatten auch die politischen Parteien der Menschewiki und Bolschewiki und die bewussteste ArbeiterInnenschaft ihre Hochburgen. Gegen Ende 1916 kam es besonders in der Maschinenbau- und metallurgischen Industrie zu Versammlungen, politisch motivierten Streiks und schließlich der Organisation in ArbeiterInnenräten. Am 18. Februar legten die ArbeiterInnen des wichtigsten Rüstungswerks in Petrograd die Arbeit nieder. Die Direktion verhängte eine Aussperrung von 30.000 Belegschaftsmitgliedern. Die Antwort der ArbeiterInnen waren Solidaritätsstreiks in weiteren Betrieben und Demonstrationen. Die sozialistischen Organisationen zauderten unter den Bedingungen des Kriegsrechts jedoch, zu einem Massenstreik aufzurufen, weil sie ein Eingreifen von in der Nähe stationierten Soldateneinheiten befürchteten.

Dennoch traten am 23. Februar auch andere Bereiche wie die Textilfabriken im Wyborg-Bezirk spontan in den Ausstand. Während des Krieges war der Anteil weiblicher Arbeitskräfte v. a. im Textilsektor stetig gestiegen und betrug allein in Petrograd 129.000. Mit der Zeit wuchs auch ihr Selbstbewusstsein. Die hervorstechendste Eigenschaft war die Unerschrockenheit, mit der die Arbeiterinnen die Quartiere der Soldaten aufsuchten und sie zur Schießbefehlsverweigerung aufforderten und so die Verbindung von ArbeiterInnen und Soldaten überhaupt erst möglich machten (siehe auch Revolutionärer Marxismus 38, Auf dem Weg zum Roten Oktober, Kapitel 1, http://www.arbeitermacht.de/rm/rm38/oktoberfrauen.htm). Die Frauen führten auch eine Demonstration mit der Losung „Gebt uns Brot!“ an, der sich viele BewohnerInnen der Arbeiterviertel anschlossen.

In den folgenden Tagen schwoll die Streikbewegung an. Zwar war die Regierung bestrebt, Ordnung zu schaffen, doch die Kräfte des Vollzugs schritten zunehmend weniger ein und verbrüderten sich sogar mit den Protesten. Schon am 27. Februar hatten sich die meisten Soldaten auf die Seite der Aufständischen geschlagen. Dies griff tags darauf auf andere Zentren wie Moskau über. Die ArbeiterInnen entwaffneten mit Hilfe von übergelaufenen Soldateneinheiten die zarentreue Polizei, stürmten die Waffenarsenale und formierten sich ihrerseits in ArbeiterInnenmilizen, die auch zaristische Würdenträger verhafteten. Die Revolutionäre besetzten zentrale Schaltstellen wie Bahnhöfe und Telegrafenämter. In den Betrieben fanden Wahlen zu ArbeiterInnenräten statt, Auftakt zu einer Bewegung von ArbeiterInnen- und Soldatenräten, die den Petrograder Sowjet als Regierung anerkannten.

Diese Vorkommnisse ließen auch das bürgerliche Lager nicht ruhen. In der Duma, dem russischen Parlament, hatte sich bereits ein Jahr zuvor ein sogenannter „Progressiver Block“ gebildet, in dem sich verschiedene liberale Parteien und moderate Monarchisten zusammenfanden, die eine Lockerung der strengen Herrschaft befürworteten. Dem Zarendekret vom 26. Februar, womit die Duma aufgelöst werden sollte, leisteten die meisten Abgeordneten keine Folge mehr.

Am 27. Februar konstituierte der Ältestenrat der Duma ein Provisorisches Komitee zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und übernahm praktisch die Regierungsgeschäfte. Eine Niederschlagung der Revolution durch die Armee hatte kaum noch Aussicht auf Erfolg. Am 1. März wurde Zar Nikolaus II. vom Duma-Präsidenten und vom Militäroberbefehlshaber zur Abdankung aufgefordert, der er durch Regentschaftsübergabe an seinen Bruder Michail nachkam, der seinerseits am 3. März den Thron- und Machtverzicht vollzog.

Am 2. März hatten Duma und ArbeiterInnen- und Soldatenrat vereinbart, dass eine provisorische Regierung gebildet werden sollte. Das neue Kabinett unter Vorsitz des Fürsten Lwow bestand zur Hauptsache aus Vertretern der bürgerlichen Partei Konstitutionelle Demokraten, jedoch keiner ArbeiterInnenpartei. Die Räte billigten die Regierungsbildung und verstanden sich als zweites Machtzentrum mit Kontrollfunktion über die Regierung als Institutionalisierung einer klassenmäßigen Doppelmacht.

Die Haltung der ArbeiterInnenparteien

Menschewiki und Bolschewiki hatten in der allerdings nur eingeschränkt handlungsfähigen Duma als SDAPR eine parlamentarische Vertretung. Ab 1912 hatten sich die Bolschewiki als selbstständige Partei getrennt von den Menschewiki organisiert. Trotz dieser Duldung auf der politischen Bühne wurden ihre Mitglieder vom Staatsapparat verfolgt, eingekerkert und in die Verbannung geschickt.

Die Menschewiki verfolgten das Ziel einer Beendigung der Selbstherrschaft und der Schaffung einer verfassunggebenden Versammlung für das Land und glaubten an ein historisches Etappenmodell, wonach sie Russland als dem Wesen nach feudalistisch einstuften. Dem müsste eine mehr oder minder längere Phase der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung folgen, die erst nach ihrer Ausreifung einen Übergang zum Sozialismus möglich machen würde. Die Menschewiki setzten auch durch, dass die neue provisorische Regierung unter bürgerlicher Führung geduldet wurde, ein Vierteljahr später traten sie sogar in das umgebildete Kabinett ein. Sie verfügten zunächst als organisierte Kraft bei den Rätewahlen über den stärksten Rückhalt unter den ArbeiterInnen. Den Sowjets hatten sie bereits 1905 die Rolle von Arbeiterkongressen zugesprochen, „revolutionären Druck auf den Willen der liberalen und radikalen Bourgeoisie“ auszuüben, wie es Martynow, einer ihr Führer, formulierte. Nach menschewistischer Vorstellung könnten die Räte in der Form lokaler Regierungen und Kongresse dazu dienen, eine Massenpartei aufzubauen, in der alle Richtungen der ArbeiterInnenklasse vertreten wären.

Auch die Bolschewiki waren anfangs von der Wucht der Erhebung überrascht worden. Sie waren gezwungen gewesen, teilweise verdeckt zu arbeiten. Es kam ihnen aber zugute, dass sie stets eine straffe Organisation aufrechterhalten und versucht hatten, in Massenorganisationen Fuß zu fassen, und im Heer durch Agitation Soldaten von der Sinnlosigkeit des Krieges überzeugen konnten.

In Bezug auf die Einschätzung der Doppelmachtlage gab es jedoch uneinheitliche bis widersprüchliche Positionen in der damaligen Führung und den verschiedenen Komitees. Sie reichten von dem passiven „der Macht der provisorischen Regierung nicht entgegenzutreten, sofern deren Aktivitäten den Interessen des Proletariats und der breiten demokratischen Volksmassen entsprächen“ (Petrograder Komitee) bis zur Auffassung, dass die Provisorische Regierung aus von im Exekutivrat der im Sowjet vertretenen Parteien gebildet werden sollte (russisches Büro der Exilierten). Im von Stalin redigierten Parteiorgan Prawda stand am 7. März gar zu lesen: „..was jetzt zählt, (ist) nicht der Sturz des Kapitalismus, sondern der Sturz der Autokratie und des Feudalismus.“ Programmatisch verharrten die Bolschewiki bei Forderungen nach 8-Stundentag, Beschlagnahme der großen Landgüter zugunsten der armen Bauern sowie der Vorbereitung einer verfassunggebenden Versammlung.

Die Schlussfolgerungen Lenins

Parteiführer Lenin weilte zur Zeit der Februarrevolution im Exil, analysierte aber von dort aus messerscharf die Verhältnisse und kam zu dem Schluss, dass die bolschewistische Partei eine klare Kursänderung einschlagen müsse, was ihn zur Veröffentlichung seiner Aprilthesen 1917 führte. Die Grundlage für diese Ausarbeitung eines vorwärtstreibenden Programms bildete seine Erkenntnis, die er im Zuge der Erarbeitung von „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ gewonnen hatte. In Russland herrschte demnach nicht der Feudalismus, sondern das Land war ein, wenn auch schwaches Kettenglied des imperialistischen Systems. Darum durfte das Programm einer revolutionären Partei nicht auf eine national bestimmte demokratische Etappe abheben, sondern musste auf die bewusste Machteroberung durch die ArbeiterInnenklasse lossteuern. Die treibende Kraft der Februarrevolution war das Proletariat, deshalb mussten eine bürgerliche Regierung abgelehnt und die elementarsten Forderungen aufgestellt werden, hinter denen sich die ArbeiterInnenklasse zu scharen vermochte und die die provisorische Regierung nicht erfüllen konnte und wollte: sofortige Beendigung des Krieges, Enteignung der wichtigsten Industrien, Plan für die Versorgung mit Gütern und Enteignung des Großgrundbesitzes und Verteilung des Landes an die arme BäuerInnenschaft. Das Programm für eine sozialistische Revolution konnte nur eine ArbeiterInnenregierung, ruhend auf der Rätemacht, durchführen. Damit nahm Lenin den Gedanken der permanenten Revolution, den Trotzki schon 1906 geäußert hatte, auf.

Die „eigentliche“ Revolution?

Bürgerliche HistorikerInnen und ReformistInnen stellen oft die These auf, dass die Februarrevolution die wahre Revolution gewesen sei, die Oktoberrevolution hingegen ein Putsch. Diese Ansicht stützt sich rein äußerlich auf die Anzahl und Schichtenbreite der Beteiligten und die Auseinandersetzungen. Sicher ist, dass die Februarereignisse größtenteils spontan vonstattengingen, während es sich bei der Oktoberrevolution um einen planmäßig durchgeführten Aufstand unter Führung der Bolschewiki gehandelt hat. Hier wirft man also den Bolschewiki paradoxerweise noch vor, dass sie wenig Blut vergossen haben.

Zweitens abstrahiert die These von den Entwicklungen, die sich von Februar bis Oktober vollzogen haben, von Problemstellungen wie der ungelösten Doppelmacht, den Spaltungen innerhalb der Menschewiki, den Veränderungen selbst im Lager der bürgerlichen Gegner, den Rückschlägen für die Revolution im Juli und den Massen, die zum Herbst hin nicht länger bereit waren, die bürgerliche Regierung zu dulden. Die VerfechterInnen dieser Idee reißen eindeutig die geschichtlich folgerichtigen Zusammenhänge beider Revolutionen auseinander.

Schließlich verkennen AnhängerInnen dieser These, dass eine Parallele etwa mit Deutschland 1918, wo die bürgerlich-demokratische Konterrevolution gesiegt hat, an der entscheidenden Stelle aushakt, dass die Bourgeoisie in Russland die drängenden Forderungen, den Hunger der Massen nach Frieden, Brot und Land zu stillen nicht fähig war, und dort eine entschlossene politische Kraft in Gestalt der bolschewistischen Partei auftrat, die sich an die Spitze der sozialistischen Revolution setzte und ihre konterrevolutionäre Integration ins bürgerliche Lager vereitelte.

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Nr. 216, Februar 17

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