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Türkei

Nein zur Verfassungsänderung!

Svenja Spunck, Neue Internationale 216, Februar 17

Im Kampf um die absolute Macht setzt Recep Tayyip Erdogan seine Aufgriffe auf die Opposition fort. Das Referendum, für Anfang April erwartet, soll entscheiden, ob 18 Artikel in der türkischen Verfassung geändert werden sollen. Dies würde den bisherigen Machtmissbrauch nachträglich legalisieren, während eine Mehrheit von Gegenstimmen die Gefahr birgt, Erdogan und die AKP-Regierung genau dafür strafrechtlich zu verurteilen. So scheint es zumindest die Hoffnung vieler Oppositioneller zu sein, die eine Hayir (Nein)- Kampagne gestartet haben. Doch um welche Artikel der Verfassung handelt es sich und was wären die Konsequenzen?

Neue Verfassung

Laut der neuen Verfassung geht es grundlegend um die vollständige Kontrolle durch den Präsidenten. Dieser soll dann alle fünf Jahre gleichzeitig mit dem Parlament gewählt werden. Die nächste Wahl wäre für 2019 angesetzt. Er könnte dann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, was sogar eine Ausweitung seiner aktuellen Befugnisse im Ausnahmezustand darstellt. Momentan müssen diese Dekrete zumindest formell vom Parlament bestätigt werden, in Zukunft soll das einfacher fallen. Zur Not kann er auch jederzeit das Parlament auflösen, falls es nicht ausreicht, dass er Parteichef der Regierungsfraktion sein darf.

Misstrauensanträge gegen Kabinettsmitglieder und selbst parlamentarische Anfragen wird es nicht mehr geben. Falls damit jemand vor das Verfassungsgericht zieht, wird er auf die von Erdogan persönlich ausgesuchten RichterInnen treffen; die Mitglieder des Hohen Richterrates, welche alle anderen Richterstellen im Land mit Leuten ihrer Auswahl besetzen, sind von ihm ernannt. Daneben stehen eher nebensächliche Reformen wie die Absenkung des passiven Wahlrechts von 25 auf 18 Jahre oder die Erhöhung der Zahl der Abgeordneten von 550 auf 600.

Das Ziel dieser Verfassungsreform ist de facto die Abschaffung der Gewaltenteilung und die Konzentration der Macht beim Präsidenten. Die Position des Ministerpräsidenten wird abgeschafft und das Kabinett wird vom Präsidenten bestimmt. In seiner Rolle als Alpha-Lemming stellt sich der aktuelle Ministerpräsident Yildirim besonnen hinter diese Maßnahme, denn ein einziger Mann an der Spitze sei ein besserer Führer.

Warum ein Referendum?

Obwohl laut Umfragen über 70 Prozent der Bevölkerung nicht wissen, worum es sich bei der Verfassungsänderung handelt, wird nun die Propagandamaschinerie in Gang gesetzt. Die Strategie der AKP ist ihr Erfolgskonzept aus den letzten Wahlen: Angst und Erpressung. Der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmus sprach die Drohung klar aus: „Wenn das Ergebnis des Referendums mit Gottes Erlaubnis ein eindeutiges Ja sein wird, dann werden diese Terrororganisationen an einen Punkt gelangen, an dem nichts mehr von ihnen zu hören ist”. Das geflügelte Wort „Terrororganisation“ führte allein in den letzten Tagen zu Festnahmen von Oppositionellen, die sich an einer Hayir-Kampagne beteiligten. Sollte sich die Verfassung tatsächlich ändern, ist mit einer weiteren Verschärfung der Repressionen zu rechnen, es könnte auch zu einer Diktatur kommen.

Warum findet überhaupt ein Referendum statt? Um dieses umgehen zu können, wäre eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament notwendig gewesen. Obwohl die AKP schon ihren Hauptgegner, die HDP, größtenteils hinter Gitter gebracht hat, schloss sich auch die kemalistische CHP der Hayir-Kampagne an und verhinderte somit diese Mehrheit. Die AKP ist angewiesen auf die Unterstützung durch die faschistische MHP, doch diese ist innerlich zerrissen. Während sich Parteichef Bahçeli hinter Erdogan stellt, fürchtet ein Teil der Mitgliedschaft, dass Erdogan nach dem Referendum wieder in einen „Friedensprozess“ mit der kurdischen Bewegung eintreten könnte, was eigentlich jeglicher Realität entbehrt. Im Parlament kam also nur eine Dreifünftelmehrheit zu Stande, die das Referendum ermöglicht. Um Druck auf die eigenen Abgeordneten, aber auch auf die MHP auszuüben, setzten einige der AKP-Abgeordneten kurzerhand das Gebot der geheimen Abstimmung außer Kraft und drohten mit Neuwahlen. Die geheim oder mit Nein Abstimmenden hätten dann ihre gut bezahlte Position im Parlament verloren.

Es scheint, als bestehe für viele die einzige Hoffnung darin, dass AKP- und sogar MHP-Mitglieder ihre Position doch noch ändern. Das ist ein klarer Ausdruck, wie schwach die Opposition in der Tat aufgestellt ist. Die politische Ausrichtung der Hayir-Kampagne bestätigt dies leider. Anstatt diese mit einem sozialen Programm oder progressiven, konkreten Forderungen zu verbinden, stehen moralische Überlegenheit und ein abstrakter Freiheitsbegriff im Mittelpunkt. Der aktuelle Krieg gegen die kurdische Bevölkerung und die Festnahme Tausender, die Entlassung zehntausender Beschäftigter und zahlreiche andere Maßnahmen zur Ausschaltung der „Demokratie“ werden nicht thematisiert. Selbsterklärtes Ziel dieser Ungenauigkeit sei es, alle möglichen Leute aus der Bevölkerung für ein „Nein“ zu gewinnen, auch die MHP-AnhängerInnen. Die Gewerkschaften TMMOB, DISK und KESK unterstützen die Kampagne, stellen jedoch einen marginalen Teil in der mittlerweile mehrheitlich AKP-verbundenen Gewerkschaftslandschaft dar. Die HDP und der Großteil der Linken rufen offen zum Nein auf. Bisher vertritt nur Halk Cephesi (Volksfront, DHKP-C Vorfeldorganisation) die Position eines Boykotts.

Für Erdogan und die AKP ist das Risiko gering, ja unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen fast vernachlässigbar, dass sie bei einem Referendum keine Mehrheit erringen. Sie haben praktisch alle Medien in der Hand und die demokratischen Kräfte werden massiv unterdrückt. Das Regime kontrolliert nicht nur die Wahlkampagne, sondern auch die Urnen. Erdogans Ziel ist klar: Ein „Ja“ soll seine Präsidialdiktatur weiter festigen, indem sie vom Volk plebiszitär abgesegnet ist.

Zugleich zeigen jedoch Umfragen, dass eine Mehrheit keineswegs sicher ist.

Perspektive

Die Frage des Kampfes gegen die Verfassungsänderung und die immer offenere Errichtung einer Präsidialdiktatur kann jedoch nicht auf das Referendum beschränkt werden - zumal Erdogan wohl selbst im Falle eines Nein nicht von seinen Zielen abrücken würde.

Die Frage ist vielmehr, wie eine starke Bewegung gegen die AKP-Herrschaft selbst etabliert werden kann.

Die letzten Jahre in der Türkei, beginnend mit den Gezi-Protesten 2013, waren gekennzeichnet von starken Jugendbewegungen sowie feministischen, säkularen und kurdischen Protesten. Was jedoch ausblieb, waren beispielsweise Solidarität mit den demokratischen Aufständen im Nachbarland Syrien oder eine progressive Flüchtlingspolitik seitens linker Parteien wie der HDP. Die reaktionäre Diktatur Assads sowie des Islamischen Staates machen nicht Halt vor der Türkei. Vor allem die Sicherheitslage ist so instabil geworden,  dass islamistisch motivierte Anschläge eine reale Gefahr für linke AktivistInnen darstellen, wobei das Ausmaß der staatlichen Beteiligung daran unklar ist und Untersuchungen nicht stattfinden. Der lange Arm des türkischen Staates reicht bis nach Europa, wo vor allem KurdInnen von deutschen Gerichten der Mitgliedschaft in vermeintlichen Terrororganisationen beschuldigt werden. Seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 nutzt Erdogan den verhängten Ausnahmezustand, um jegliche politische FeindInnen zu eliminieren. Die Führung der HDP wurde mundtot gemacht und dieses Drohszenario paralysiert große Teile der vorher aktiven Opposition. Kurze Versuche von Einheitsfrontprojekten scheiterten, da innerpolitische Konflikte oder Vorwürfe von „zu harten Forderungen“ zum Austritt verschiedener Gruppen führten, zuletzt der Gewerkschaft TMMOB aus der Demokrasi Cephesi (Demokratiefront). Ebenfalls problematisch ist das sektiererische Verhalten der linken Partei ÖDP (Partei der Freiheit und Solidarität), die eine gemeinsame Arbeit mit der kurdischen Bewegung ablehnt. Dadurch würde man den Kontakt zu der muslimischen Bevölkerung oder zu den Menschen aus der Schwarzmeerregion verlieren, wo überwiegend eine türkisch-nationalistische Einstellung vorherrsche.

Die Überwindung ethnischer und religiöser Konflikte ist eine nach wie vor scheinbar unlösbare Aufgabe für die türkischen Linken. Wer mit den KurdInnen kämpft, verliert die TürkInnen, und wer AlevitInnen verteidigt, macht sich angreifbar für Muslime und Muslima. Doch wie in unseren vorherigen Artikeln bereits beschrieben, ist die Unterdrückung durch die AKP eine Unterdrückung durch eine bestimmte Kapitalfraktion gegenüber der gesamten Bevölkerung und damit der ArbeiterInnenklasse, der BäuerInnen, der AtheistInnen sowie der religiösen und ethnischen Minderheiten. Ein Programm, welches an den ökonomischen Sorgen der Menschen ansetzt und den Kampf darum mit dem gegen Terror und Unterdrückung verbindet, statt diese beiden Seiten des Kampfes gegen das Regime einander entgegenzustellen, wäre ein erster Schritt in Richtung einer Vereinigung der Unterdrückten gegen die reaktionär-islamistische, ausbeuterische Politik der AKP.

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Nr. 216, Februar 17

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