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Frankreich

Die Frage des Generalstreiks

Martin Suchanek, Neue Internationale 211, Juli/August 16

Am 14. Juni hatte die Bewegung gegen die Arbeitsmarktreformen der Regierung einen neuen Mobilisierungshöhepunkt erreicht. Laut Gewerkschaften waren 1,3 Millionen Menschen auf den Straßen. Nach wie vor ist die „Reform“ so unpopulär wie Hollande und seine Regierung.

Die letzten Wochen verdeutlichen, dass der Protestbewegung eine politische Strategie fehlt, die über landesweite Aktionstage und den Streik in den gewerkschaftlich organisierten Bereichen hinausgeht. Die Regierung Hollande/Valls mag sich mit ihrer Linie, das Gesetz mit einigen kosmetischen Reformen und unter Ausnutzung aller Mittel der Verfassung, demokratische Abstimmungen selbst im Parlament zu umgehen, zwar ihr eigenes politisches Grab schaufeln. Falls die Protestbewegung jedoch selbst auf den politischen Generalangriff nicht rasch mit einem Generalstreik antwortet, falls deren Führungen nicht Kurs auf eine entscheidende Kraftprobe nehmen, wird die Zeit der Regierung in die Hände spielen.

In der letzten Ausgabe der Neuen Internationale haben wir uns mit diesen Fragen schon ausführlich auseinandergesetzt und auch mit den Fehlern der „radikalen Linken“ in Frankreich. Wir haben dabei besonders Lutte Ouvrière (LO), die Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) wie auch deren linke Strömung Courant Communiste Révolutionnaire, die international der FT/RIO nahesteht, einer Kritik unterzogen. Ein Kernpunkt unserer Kritik war, dass sie die Generalstreiklosung nicht oder nicht konsequent verwenden würden. Vor allem kritisierten wir, dass diese Forderungen nicht an die Führung der Bewegung, die aus sieben Verbünden bestehende Gewerkschaftskoordinierung „Intersyndicale“ und vor allem nicht an die CGT als kämpfstärkster und führender Kraft gestellt wurden. Einige Linke meinten, wir hätten „übertrieben“, „eigentlich“ wären sie auch für den Generalstreik.

Die weitere Entwicklung und eine Durchsicht ihrer Propaganda und Agitation, v. a. der im Internet veröffentlichten Publikationen, bestätigen leider unsere Kritik. LO hat zwar in einem Journal einen längeren Artikel über den Generalstreik veröffentlicht. In den Betriebsflugblättern und der Zeitung, also allem, das sich an die Masse der Streikenden wendet, kommt das  aber nicht vor. Die NPA hat in ihrem „theoretischen Magazin“ einen Text über den Generalstreik von 1968 veröffentlicht - aber auch hier fehlt jedes Verwenden in der Agitation, gegenüber der Masse der Streikenden. „Courant Communiste Révolutionnaire“ nennt ihre Unterseite zwar „Grève Générale“. Aber auch sie stellt diese Losung nicht an die politische Führung des Kampfes, die Gewerkschaften und erst recht nicht an die CGT. Genau das haben wir aber kritisiert: „Gleichwohl erhebt die FT die Generalstreiklosung nicht als Forderung an die bestehende Führung, sondern betrachtet die Verbreitung von Vollversammlungen und ‚Arbeiterselbstverwaltung' als Voraussetzung für die Entwicklung, sieht sie letztlich als Resultat der spontanen Entwicklung.“ (http://www.arbeitermacht.de/ni/ni210/frankreich.htm)

Nach der Demonstration vom 14. Juni ist die Bewegung jedoch abgeflaut. Die Streikbewegung weitete sich nicht mehr aus, sondern ist eigentlich rückläufig. Auch die folgenden Aktionstage am 24. und 29. Juni kamen nicht mehr an den Höhepunkt heran. Die Regierung hat erste Verhandlungen mit den Gewerkschaften eröffnet. Während sich die CGT-Spitze (noch?) hart gibt, signalisiert Force Ouvrière (FO) Kompromissbereitschaft, nachdem die Regierung erste, kleinere Zugeständnisse gemacht hat. So schändlich ein solcher Kompromiss ist, so entspringt ein wahrscheinlicher Verrat nicht nur dem reformistischen Charakter der Bürokratie von FO, sondern auch einem grundlegenden Problem der gesamten Strategie der Bewegung.

Strategischer Angriff - gewerkschaftliche Antwort

Der Angriff der Regierung, die „Arbeitsmarktreform“, stellt eine strategische Attacke auf die gesamte Klasse ähnlich der Agenda 2010 dar. Die Gewerkschaften begegnen dieser jedoch letztlich als einem „normalen“ Angriff auf sie. Dem entspricht erstens, dass sie (und das schließt auch die CGT ein) auf eine Verhandlungslösung mit der Regierung hoffen, zweitens die Beschränkung des Kampfes auf eine Streikbewegung der gewerkschaftlich organisierten Avantgarde. An keiner Stelle wollte die Führung der CGT den Kampf zu einem Generalstreik gegen die Arbeitsmarktreform ausufern lassen.

Genau das wäre aber notwendig gewesen, um die Regierung in die Knie zu zwingen und die Lohnabhängigen zum Sieg zu führen. Die Regierung Hollande hat bislang diese Schwäche zu nutzen gewusst und setzt angesichts der kommenden Sommerferien jetzt umso mehr darauf, dass die Bewegung auseinanderläuft, dass es zu Teilabkommen mit Streikenden oder einzelnen Gewerkschaften kommt.

Ein Teil der „radikalen Linken“ hat sich hingegen mit einem Abfeiern der CGT und des Kampfes begnügt. Kritischere Stimmen haben die Ausweitung der Aktionen, die Schaffung von Streikkomitees und Koordinierungen gefordert, zum Teil auch selbst in Angriff genommen. Die „radikalsten“ haben die Ausweitung (nur) von unten zum Generalstreik befürwortet. Dazu gehören in gewisser Weise die FT, zum anderen auch Kräfte aus der radikalen Basisgewerkschaft SUD oder die Anarchosyndikalisten.

Aber alle haben es verabsäumt, die Agitation beim Aufschwung und am Höhepunkt der Mobilisierung darauf zu konzentrieren, den unbefristeten politischen Generalstreik von jenen zu fordern, die ihn konkret organisieren und durchführen hätten können: von der Intersyndicale und v. a. von der CGT.

Dieses Versäumnis hat mehrere Auswirkungen. Erstens wurde so die Führungsrolle der CGT, ihre Verantwortung für die Verallgemeinerung des Kampfes nicht auf die Probe gestellt. Damit, dass der Streik sich „von unten“ auszuweiten hätte, kann die Bürokratie gut leben. Es bedeutet nämlich, dass sie auch keine Verantwortung dafür trägt, dass der Streik sich nicht weiter ausdehnt (was an irgendeinem Punkt unvermeidlich der Fall ist). Jetzt, wo die Bewegung im Rückfluten und es fraglich ist, ob sie sich über den Sommer halten kann, fällt es der Bürokratie umso leichter, die Verantwortung für diesen Rückgang auf die Basis abzuschieben, die eben nicht mehr weiter streiken will (auch wenn die Führung nichts dagegen hätte).

Zweitens war es somit sehr schwer, den Streik dauerhaft über die gewerkschaftlichen Kernsektoren überhaupt hinaus auszudehnen. Um Massen in schlecht organisierten oder prekären Verhältnissen, bei Mehrheiten konservativer Gewerkschaften usw., in den unbefristeten Streik zu ziehen und dazubehalten, braucht es eine Politik, die signalisiert, dass der Kampf bis zum Ende ausgefochten werden soll. Ein Generalstreik gegen die Arbeitsmarktreform hätte genau das vermittelt.

Drittens hätten in diesem Kontext die Fragen nach gemeinsamen, überbetrieblichen Streikkomitees und deren lokaler und regionaler Verbindung erst ihre Wirkung entfalten können. Für die Mitglieder der CGT und auch anderer Gewerkschaften war diese Losung in der bisherigen Auseinandersetzung nur bedingt attraktiv. Warum? Es gab ja schon eine landesweite Koordinierung. Die Intersyndicale und letztlich die CGT selbst stellten für große Teile der Streikenden schon eine solche dar. Natürlich war diese nicht im Kampf gewählt. Sie aber auch nicht zufällig gebildet worden. Martinez und die CGT-Spitze genossen und genießen wohl auch jetzt noch viel Vertrauen bei den kämpfenden ArbeiterInnen. Wozu sollen sie also eine weitere landesweite Struktur aufbauen, wenn sie mit der bestehenden Führungsstruktur einigermaßen zufrieden sind. Warum Martinez in Frage stellen, wenn ihn das Kapital als „Terroristen“ angreift?

Versagt

Natürlich hätten RevolutionärInnen immer deutlich machen müssen, dass Martinez und andere linke GewerkschaftsführerInnen noch immer linke ReformistInnen waren und sind. Wenn es in Frankreich einen Generalstreik hätte geben sollen, so hätten sie dafür agitieren müssen, dass ihn die CGT und die Intersyndicale durchführen. In diesem Kontext hätte die Losung der Streikkomitees, der betriebsübergreifenden Verbindungen greifen können als Mittel, den Generalstreik gegen die unvermeidlichen Angriffe von staatlichen Repressionsorganen und/oder rechten Banden zu verteidigen.

LO und NPA haben angesichts dieser Klassenkampfbewegung politisch versagt. Dabei hätten sie mit einer gezielten, landesweiten Agitation für den Generalstreik, für Aktions- und Selbstverteidigungskomitees wirklich Gehör finden und einen politischen Attraktionspol für die klassenbewussteren ArbeiterInnen darstellen können. Heute findet sich die Bewegung in einer schwierigen Situation. Falls es noch möglich sein sollte, sie zu verallgemeinern, ihr Rückfluten zu stoppen, so würde das auch für eine revolutionäre Partei überaus schwierig. Die Zeit spielt heute leider Hollande und der Regierung in die Hände.

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Nr. 211, Juli/Aug. 2016

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*  Kampf gegen Rassismus: Welche Taktik brauchen wir?
*  Kampf der Frauenunterdrückung: Weg mit § 218 und § 219!
*  Mahle-Konzern: Vor der Kapitulation?
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