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Schlüsselfragen der Refugee-Bewegung

Teile und herrsche?

Georg Ismael, Neue Internationale 188, April 2014

Der Leitsatz „divide et impera“ (teile und herrsche), der einst von dem florentinischen Philosophen Niccolò Machiavelli geprägt wurde, scheint zu einem Leitsatz der SPD geworden zu sein. Aktuell versucht sie, die Flüchtlingsbewegung in Berlin durch „Verhandlungslösungen“ zu befrieden und so zugleich eine „demokratische“ Alternative zur CDU darzustellen. Auf diese Politik, die letztlich auf die Spaltung der Refugees hinausläuft, haben die Linke, die Flüchtlinge und die UnterstützerInnen jedoch noch keine wirkliche Antwort.

Kurzer Abriss der Bewegung

Als sich im September 2012 aktive Flüchtlinge in Würzburg auf den Weg machten, um ihren Protest gegen ihre katastrophalen Lebensumstände nach Berlin zu tragen, war das der Beginn einer breiten Bewegung. Proteste von und für Flüchtlinge hat es immer wieder gegeben, doch die Dynamik und Größe der Bewegung, schienen diesmal groß genug, um zumindest medial den Eindruck zu erwecken, als wären die Forderungen der Flüchtlinge aus der Flüchtlingsbewegung selbst heraus realisierbar. Der Auslöser der bundesweiten Protestwelle, der mit dem symbolischen Bruch der Residenzpflicht verbunden war, war der Selbstmord eines Geflüchteten in einem Würzburger Lager im Januar 2012.

Ende 2012, als der Marsch in Berlin ankam, wurde dort der Oranienplatz u.a. zentrale Plätze in vielen Großstädten besetzt. Es folgten Hungerstreiks, Großdemonstrationen und militantere Aktionen, wie die kurzzeitige Besetzung von Botschaften in Berlin oder Bürgerämtern. In kurzer Zeit fand die Bewegung Gehör unter Linken, insbesondere bei jungen Menschen, die sich von der himmelschreienden Ungerechtigkeit gegenüber den Geflüchteten besonders zur Aktion verpflichtet fühlten.

Die Ankunft der Lampedusa-Flüchtlinge und die Schiffsunglücke im Mittelmeer, bei denen Ende 2013 rund 500 Flüchtlinge bei einem einzigen Schiffsunglück starben, führten zu viel öffentlicher Aufmerksamkeit.

Zuckerbrot und Peitsche

Doch zu diesem Zeitpunkt waren viele der Protestcamps schon wieder geräumt. Die Hochburgen der Bewegung waren Hamburg und Berlin. Während in Hamburg besonders die Frage der Lampedusa-Flüchtlinge im Vordergrund steht, ist es in Berlin das Camp am Oranienplatz. Die Erfahrung, die die SPD machen musste, als sie in Hamburg zu öffentlichkeitswirksamer Repression gegen die Geflüchteten griff, hat zu einem Strategiewechsel - zumindest in Berlin - geführt. Das Vorgehen ist subtiler geworden. Es heißt in Berlin „Verhandlung“ und tritt in Form von Senatorin Dilek Kolat (SPD) auf.

Denn nach dem Räumungsversuch durch die grüne Bezirksbürgermeisterin und mehr als einem Jahr, in dem das Camp in Berlin besteht, war klar, dass die Geflüchteten nicht von allein in absehbarer Zeit gegangen wären. Eine gewaltsame Räumung schien der SPD ebenfalls unklug, ohne vorher nicht zumindest die Öffentlichkeit von der „Unbelehrsamkeit“ der Geflüchteten zu überzeugen.

Die Verhandlungen, so wie sie geführt wurden, hatten von Beginn an diesen Charakter, verbunden mit der Drohgebärde des Innensenators Henkel (CDU), der für die Option der gewaltsamen Drohung steht. Er betonte auch während der Verhandlungen immer wieder, dass es keine „Sonderbehandlung“ der Flüchtlinge und damit keine Zugeständnisse in den Verhandlungen geben würde. Ein gutes Argument für die SPD also, warum sie keine der aufgestellten Forderungen tatsächlich umsetzt. Denn mittlerweile sind die Verhandlungsergebnisse verkündet worden. Der ausgehandelte Deal besagt grob eine Einzelfallprüfung, Duldung für den Zeitraum der Prüfung, Anerkennung der Ausbildung der Flüchtlinge, Unterbringung sowie die Einrichtung von Unterstützungsteams, die die Geflüchteten während der Prüfung begleiten. Doch was sich auf den ersten Blick gut anhört, ist nichts als die Beibehaltung des Status Quo mit einem vermutlich etwas schnelleren Prozedere.

Die Bewegung und das Symbol

Doch der Samen der Zwietracht, der mit den Verhandlungen gesät werden sollte, scheint zu keimen. Nicht nur die Unterstützung in der Bevölkerung für das Camp am Oranienplatz scheint laut Umfragen zu sinken. Die Presse versucht seit Monaten die Zustände am Camp und der besetzten Schule als katastrophal darzustellen, mit dem Ziel eine Räumung ohne Umsetzung von Forderungen herbeizuführen. Nun hat sie auch noch das Pfand in die Hand bekommen, einen kompromissbereiten Flügel um „Lampedusa in Berlin“ gefunden zu haben, den sie gegen die anderen Flüchtlinge, insbesondere der besetzten Schule in der Ohlauer Straße, ausspielen kann.

Der Grund dafür ist, dass ein Teil der Geflüchteten zu erschöpft zu sein scheint, um weiter um das Camp kämpfen zu wollen. Zudem erhofft sich der Flügel um die Lampedusa-Flüchtlinge durchaus positive Ergebnisse von dem Deal, da sie einen anderen Status genießen. Eine wirkliche demokratisch organisierte Debatte, die von allen betroffenen Flüchtlingen  geführt wird, scheint es allerdings aktuell eben sowenig zu geben.

Das Ergebnis ist Desinformation, nicht nur unter den UnterstützerInnen, sondern den Flüchtlingen selbst. Ebenfalls ermöglicht es denjenigen, die Fakten schaffen wollen, dies gegen die anderen durchzusetzen. Doch fast noch schlimmer wiegt die Spaltung, die in die Bewegung getragen wurde. Denn der Vorschlag des Senats greift nur, wenn die Geflüchteten alle den Vorschlag annehmen und das Camp selbstständig räumen. Was auf den ersten Blick in der Öffentlichkeit als freundschaftliche Geste dargestellt wird, ist in Wirklichkeit ein Keil, der unter die Geflüchteten getrieben wird. Ein Teil der Geflüchteten will das Angebot verständlicherweise nicht annehmen. Einerseits weil es nicht die politischen Forderungen im Bezug auf die bundesweiten Asylgesetze aufgreift. Andererseits, weil es auch kein Asyl für alle protestierenden Flüchtlinge bedeutet.

Das führt unweigerlich dazu, dass der andere Teil, der nicht mehr kämpfen will, zum Teil mit allen Mitteln, die Verhandlungsergebnisse gegen den radikaleren Flügel der Bewegung durchzusetzen versucht. Während die bürgerliche Presse aufgrund dieser Tatsache ihre Hetzkampagne zusätzlich steigern kann, ist die Bewegung paralysiert. Der Senat muss einfach nur warten. Im Falle, dass man die Verhandlungsergebnisse durchsetzen kann, ist Dilek Kolat zur Siegerin geworden. Falls nicht, wird Henkel gewaltsam räumen können. In jedem Fall, sind die Geflüchteten und die Bewegung gegen die Asylgesetze die VerliererInnen.

Wie kann die Taktik durchkreuzt werden?

Die Taktik des Senats, wie alle Spaltungsmanöver der Herrschenden, können nur auf politischer Ebene durchkreuzt werden. Dass die Bewegung nach mehreren Jahren an innerer Dynamik verliert,  ist nicht verwunderlich. Als Bewegung der Refugees hatte sie nie die Machtmittel, ihre grundlegenden Ziele wie uneingeschränktes Asylrecht und Bleiberecht, Abschaffung des rassistischen Grenzregimes der EU und Deutschlands durchzusetzen.

Das war und ist nur möglich, wenn die Arbeiterklasse als zentrales Subjekt des Kampfes gewonnen wird. Ein grundlegender Schritt wäre dabei die Verbindung des Kampfes der Flüchtlinge mit jenem der ArbeitsmigrantInnen.

Das schließt eine umfassende Aufklärungskampagne unter den Lohnabhängigen ein, in den Betrieben und Stadtteilen, die die Lügen der Medien über die Refugees und deren rassistischen Charakter entlarven. Insbesondere geht es darum, verständlich zu machen, dass die Solidarität mit den Flüchtlingen nicht ein Gebot allgemeiner, selbstloser „Menschlichkeit“ ist, sondern auch im ureigensten Gesamtinteresse aller Lohnabhängigen liegt. Die Spaltung in MigrantInnen und Deutsche, die Entrechtung der Flüchtlinge usw. - all das spaltet letztlich nur die ArbeiterInnen und erleichtert es, sie im Konkurrenzkampf gegeneinander auszuspielen.

Eine solche Kampagne kann von den Refugees, linken AktivistInnen und kritischen GewerkschafterInnen begonnen werden. Sie müssen aber zugleich von den Massenorganisationen der Arbeiterklasse, den Gewerkschaften und auch den reformistischen Parteien wie DIE LINKE und selbst von der SPD fordern, für die elementaren Rechte der Flüchtlinge einzutreten.

Wenn z.B. Frau Kolat vorgibt, den Refugees helfen zu wollen und sich zusammen mit der grünen Bezirksbürgermeisterin als „menschliche“ Alternative zu Henkel aufspielt, so soll sie das auch beweisen, indem sie allen Flüchtlingen das Bleiberecht und das Recht auf Asyl sowie ausreichenden Wohnraum garantiert, statt den Status Quo als „Kompromiss“ zu verkaufen.

Durch solch eine Taktik wäre es möglich, einen Keil in die „etablierten“ reformistischen Organisationen zu treiben, manche zu gewinnen oder jedenfalls deren Basis aufzuklären und in die Aktion zu ziehen.

Letztlich ist der Berliner O-Platz jedoch nur ein Ausdruck einer bundesweiten, politischen Frage. Um eine bundesweite, in der Arbeiterklasse verankerte Bewegung aufzubauen, braucht es jedoch auch klare politische Forderungen (siehe Kasten), auf deren Basis eine breite, bundesweite, ja europaweite Mobilisierung aufgebaut werden kann.

Nächste Schritte

Eine erste Möglichkeit ist der „Marsch nach Brüssel“, der in Deutschland am 17. Mai aus Berlin starten wird. Die Linke sollte eine zentrale Großdemonstration in Berlin organisieren und weitere Demonstrationen in allen Städten, von wo Flüchtlinge sich auf den Weg machen oder wo der Marsch vorbei kommt. Ebenfalls sollten die Gewerkschaften und die LINKE, insbesondere in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, dazu aufgefordert werden, und die radikale Linke sich verpflichtet fühlen, Busse für die zentrale Demonstration im Juni in Brüssel zu organisieren.

Auch die Schulstreiks, wie wir sie in Berlin und Hamburg in Solidarität mit den Geflüchteten gesehen haben, und an denen sich auch die Gruppe Arbeitermacht und die GenossInnen von REVOLUTION beteiligt haben, sind eine Form des Widerstands, die sich bewährt hat, wenn die Kraft reicht, derartige Aktionen zu organisieren. Falls es möglich sein sollte, müsste diese Erfahrung verallgemeinert werden und im Frühjahr oder Sommer zu einem bundesweiten Streik führen, der mit Demonstrationen verknüpft werden sollte.

Doch um all diese Dinge zu diskutieren und zu planen, ist es wichtig, dass es bundesweite und lokale Konferenzen aller AktivistInnen, Initiativen und Organisationen gibt, die verbindliche Beschlüsse für die Bewegung treffen. Sollte dies umgesetzt werden, könnte die Bewegung notfalls auch den Fall wichtiger, wenn auch symbolischer, Fixpunkte der Bewegung, wie den Oranienplatz verkraften. Sie könnte der „Teile und Herrsche“-Politik der Landes- und Bundesregierung entgegenwirken und einen großen Beitrag dazu leisten, dass die Erfüllung der Forderungen der Bewegung näher rücken. In jedem Fall hätte sie aber nachhaltig dazu beigetragen, der Linken und der Arbeiterbewegung neue Schlagkraft zu verleihen und ihr erneut einen internationalistischen Geist zu geben.

Forderungen im Kampf gegen Rassismus

Volle Staatsbürgerrechte inkl. des passiven und aktiven Wahlrechts für alle, die in Deutschland leben! Weg mit allen „Ausländergesetzen“ und Einschränkungen für MigrantInnen!

Schluss mit jeder offenen oder versteckten Diskriminierung von MigrantInnen bei Einstellungen, Wohnungssuche usw.! Für Kontrollausschüsse von MigrantInnen und Arbeiterorganisationen gegen diese Diskriminierung!

Für das Recht aller MigrantInnen auf Verwendung ihrer Muttersprache bei allen Behörden, Ämtern und in Verträgen! Für mehr Zweitsprachen-Unterricht in Sprachen, die von MigrantInnen am Ort gesprochen werden! Für die verstärkte Einstellung migrantischer LehrerInnen! Kostenloser Deutschunterricht für alle MigrantInnen, insbesondere im Vorschulbereich!

Volles Asylrecht für alle Flüchtlinge! Weg mit dem Asyl- und Ausländergesetz von 1993! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen! Weg mit den Abkommen von Schengen und Trevi!

Gemeinsamer Kampf der ArbeiterInnen aller Nationalitäten! Kein Platz für rassistische Positionen in den Gewerkschaften! Keine Rassisten in Gewerkschaftsfunktionen, in Betriebs- und Personalräten!

Legalisierung aller MigrantInnen! Enteignung aller Unternehmen, die MigrantInnen entrechten, ihnen Lohn und Einkommen vorenthalten! Unbefristete, tariflich gesicherte Arbeitsplätze für alle, die hier arbeiten! Sofortige Angleichung der Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen für alle MigrantInnen! Mindestlohn von 12 Euro netto für alle!

Statt Standortkonkurrenz: Europaweiter Kampf gegen Rassismus und koordinierter gewerkschaftlicher Kampf für Arbeitszeitverkürzung, Anhebung der Sozialleistungen und Transferzahlungen an das höchste Niveau!

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Nr. 188, April 14
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