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Türkei

Die Gezi-Bewegung und neue Proteste

Bericht aus Istanbul von Svenja Spunck, Infomail 738, 26. März 2014

Nach den Protesten gegen die Bebauung des Gezi-Parks im Sommer 2013 blieb es lange ruhig in Istanbul. Als Ministerpräsident Recep Tayyip Erdo?an jedoch vor einigen Wochen drohte, soziale Medien wie Facebook und Youtube sperren zu lassen - hauptsächlich, um den bekannt gewordenen Korruptionsskandal und das Abhören von Telefonaten zu vertuschen, in denen er lange Freiheitsstrafen für Oppositionelle forderte - gab es wieder Demonstrationen.

Am 11. und 12. März waren dann plötzlich Millionen Menschen auf der Straße, die sich heftige Schlachten mit der Polizei lieferten. Die Straßen Istanbuls waren voller Tränengas, Barrikaden brannten und viele fühlten sich zurück versetzt in den Juli 2013, als alle GegnerInnen der AKP-Regierung gemeinsam den Taksim-Platz verteidigten. Grund dafür war der Tod des 15jährigen Berkin Elvan, der nach 269 Tagen im Koma an den Verletzungen starb, die ihm Polizisten während der Gezi-Proteste zugefügt hatten. Er ist bereits das achte Todesopfer der Polizeigewalt, trotzdem bezeichnet Erdo?an ihn und alle anderen DemonstrantInnen als „Terroristen“. Nach einigen Recherchen und der Befragung seiner Eltern stellte sich jedoch sogar heraus, dass Berkin nicht einmal an den Demos teilgenommen, sondern nur Brot gekauft hatte.

Die Demonstration am 12. März, die von einem zentralen Platz im Stadtviertel Okmeydani zum alevitischen Friedhof in Feriköy ging, schien von keinem Bündnis oder einer bestimmten Struktur organisiert worden zu sein. Es wurde lediglich von vielen linken Gruppen aufgerufen, sich am Trauermarsch für Berkin Elvan zu beteiligen. Innerhalb von 24 Stunden waren dann aber so viele Menschen auf den Beinen wie seit dem Sommer nicht mehr.

Das zeigt, wie hoch der Grad der Politisierung ist, wie viele davon wussten, dass die Exekutive der AKP-Regierung ein weiteres Menschenleben auf dem Gewissen hat und wie wichtig es kurz vor den Kommunalwahlen am 30. März ist, sich als Opposition nicht einschüchtern zu lassen.

Doch dieser Tag zeigte auch, wie die türkische Linke organisiert ist - oder eben auch nicht. Der erste Schritt, viele Menschen zu informieren und zu versammeln, funktionierte. Auf der Demo sind nicht nur linke Gruppen, sondern auch Gewerkschaften, MenschenrechtsaktivistInnen und viele unorganisierte junge Menschen. Ganze Schulklassen bleiben an diesem Tag dem Unterricht fern, denn „es hätte jeden von uns treffen können“, sagen sie.

Solange die Demonstration friedlich verläuft, durchmischen sich die Gruppen, jede/r achtet auf andere und es ist eine große, vereinte Masse, die sich durch die Straßen Richtung Friedhof bewegt. Als es gegen Abend jedoch darum geht, sich aktiv gegen die Angriffe der Polizei mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern zu wehren und den Taksim wieder zu besetzen, zerstreut sich die Masse in kleine Grüppchen, die sich zwar noch gegenseitig helfen, wenn einer nichts mehr sieht oder nicht mehr atmen kann, aber eine geschlossene Gruppe bildet sich nicht mehr. Alles verteilt sich auf der ?stiklal Caddesi und ihren Nebenstraßen, während die Polizei den Taksim-Platz bewacht, der strategisch günstig am Ende dieser Straße etwas erhöht liegt.

Der zweite Schritt, die Energie der mobilisierten Leute zu bündeln und für den aktiven Kampf gegen die Polizei, gegen die AKP und gegen die Regierung zu nutzen, bleibt an diesem Abend aus. Einzelne Kämpfe ziehen sich bis spät in die Nacht hin, doch schon am nächsten Morgen gehen wieder ganz normale Menschen in Beyoglu shoppen, dem Stadtteil, in dem in der Nacht zuvor alle Gasmasken trugen und Steine auf die Polizei warfen.

Es ist skurril und frustrierend zugleich. Einerseits ist man neidisch darauf zu sehen, wie schnell und spontan sich derartig große Demos bilden und auch radikal aufgestellt sind, andererseits scheint alles im Nichts zu verpuffen, sobald die Sonne am nächsten Tag aufgeht. Dazu trägt leider bei, dass viele der DemonstrantInnen die kommenden Wahlen als große Chance sehen, die AKP auf kommunaler Ebene einfach abzuwählen und sie so für ihre Vergehen zu bestrafen.

Die etablierte stalinistische TKP (Kommunistische Partei der Türkei), schlägt sich kurzerhand als Wahlalternative vor und sieht den Kampf damit als beendet an. Andere Organisationen sind frustriert, weil sie am 12. März den Taksim-Platz nicht besetzen konnten und haben deshalb weitere Demonstrationen bis zu den Wahlen abgesagt.

Was alle jedoch zu vereinen scheint, ist die Ablehnung der Vereinigung zur gemeinsamen Aktion, zum Aufbau demokratischer, in der Arbeiterklasse und Jugend verankerten Koordinierungsstrukturen oder wenigstens das Herstellen einer dauerhaften Koordinierung der linken Organisationen, Gewerkschaften und AktivistInnen. Eine solche Einheitsfront will keine der Organisationen. Als Begründung für dieses Sektierertum werden die großen politischen Differenzen zwischen den Gruppen angeführt, so z.B. dass die anderen mit den türkischen Nationalisten kooperiert hätten. Einerseits betonen alle, wenn sie von den Erfahrungen aus dem Gezi-Park erzählen, wie sehr diese Proteste sie zusammen geschweißt haben, wie hilfreich es war, einen Ort zu haben, wo man politische Differenzen diskutieren und gemeinsame Aktionen planen konnte; andererseits scheinen sich aber alle davor zu verschließen, diese Diskussionen weiterzuführen, auch wenn man sich eben einen anderen Ort dafür suchen müsste.

Die Zersplitterung der türkischen Linken ist momentan ein zentrales Problem. Der Unmut gegen die Regierung und das politische Bewusstsein der Bevölkerung nehmen stetig zu, und Erdo?an versucht nicht einmal, beschwichtigende Rhetorik zu verwenden, sondern geht auf Konfrontationskurs. Die politischen Lager werden immer deutlicher, doch die Linke kann keine schlagfertige Gegenmacht entwickeln.

Die innerparteilichen Konflikte der AKP, die Aufdeckung einiger Korruptionsskandale, die sozialen Angriffe auf die Bevölkerung und die tiefer werdende Krise des vor kurzem noch als „Wirtschaftswunder“ hofierten türkischen Kapitalismus machen die Regierung immer angreifbarer. Aber die Linke ist nicht in der Lage, zum Schlag auszuholen und nicht Willens genug, politische Differenzen einerseits offen auszusprechen und solidarisch zu diskutieren, und andererseits in Aktionseinheiten gemeinsam gegen die Bourgeoisie und ihre Parteien zu kämpfen.

Doch genau diese Schritte sind jetzt, kurz vor der Wahl dringend notwendig, denn schon allein die 10%-Hürde im türkischen Wahlsystem macht es fast unmöglich, allein im bürgerlichen Parlament eine Opposition zu bilden. Natürlich muss aber Opposition vor Ort, über den Wahltag hinaus auch auf den Straßen, in den Schulen, an den Unis und in den Betrieben organisiert werden. Es müssen wieder Aktions- und Stadtteilkomitees gegründet werden, die wie im Gezi-Park die Möglichkeit bieten, in Diskussion zu treten und Aktionen zu planen.

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