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Perspektive

Wer kann Europa vereinen?

Hannes Hohn, Neue Internationale 172, September 2012

Nach dem 2. Weltkrieg wurde von der Bourgeoisie die (west)europäische kapitalistische Integration Europas forciert. Erstens sollte damit die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Ost-West-Integration gestärkt werden. Zweites galt es, nationalstaatliche Schranken für die Expansion der europäischen Großkapitale wie auch für US-Anleger zu überwinden, also günstigere Bedingungen für die Kapitalakkumulation zu schaffen. Drittens sollte durch die Einbindung Deutschlands verhindert werden, dass es wie nach dem 1. Weltkrieg isoliert und zu einem aggressiven Kurs auf Kosten seiner imperialen Konkurrenten gedrängt wird.

Mit der Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) verfolgten die USA und die europäischen Imperialisten (Frankreich, Deutschland, Italien) von Beginn an verschiedene  Interessen. Während die USA als dominierende Hegemonialmacht auf diese in der Ost-West-Konfrontation setzten und hofften, dass sie längerfristig die Bedingungen der europäischen Kooperation dominieren könnten, beinhaltete die europäische kapitalistische Integration auch immer schon das Element, der nach 1945 fast absoluten Vorherrschaft der USA entgegenzuwirken.

Es ist kein Zufall, dass dieses Moment mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der BRD schon in den 70er Jahren stärker wurde und nach 1990 zu einem dominierenden Moment des gesamten Prozesses wurde, dass die europäischen Kapitale global ein stärkeres wirtschaftliches und politisch-militärisches Gewicht erlangen.

Nach Zwischenschritten wie der Montanunion, der EWG oder der EG wurde schließlich die EU aus der Taufe gehoben. Der 2002 installierte Euro als gemeinsamer Währung schien dann die Krönung dieses Prozesses zu sein. Doch statt Jubel stellte sich im Gefolge der weltweiten Finanzkrise 2006 der große Katzenjammer ein. Das Europäische Haus samt dem Euro-Dach droht einzustürzen. Seit Jahren folgt ein Rettungspaket auf das andere, ein Kürzungsprogramm jagt des nächste und die Rettungsschirme werden immer größer. Doch eine Lösung der Krise ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: die Sparprogramme und sozialen Angriffe auf die Massen zugunsten der privaten Gläubiger, der Fonds und Großbanken verschlimmern die Lage noch.

Der Grundkonstruktionsfehler der Euro-Zone - eine Währung ohne politische und ökonomische Einheit - wirkt sich voll aus. Die u.a. durch systematisches Lohndumping erreichte ökonomische Vorherrschaft Deutschlands als Exportweltmeister ruiniert zugleich die schwächeren Ökonomien, die wegen des Euros ihre Währungen nicht mehr abwerten können. Daher leiden sie unter einem permanenten Handelsbilanz- und Staatshaushaltsdefizit, was durch die Banken-Rettungspakete und die Entsteuerung der Reichen noch verschärft wurde.

Die Euro-Einführung erweist sich als Bumerang. Der Traum vom geeinten, prosperierenden Europa scheint zu platzen. Doch war er überhaupt je real?

Lenins und Trotzkis Position

1915, mitten im 1. Weltkrieg, schrieb Lenin: „Vom Standpunkt der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus (…) sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär.“ (LW 21, 343)

Trotzki äußerte sich damals zur Frage der Vereinigung Europas so: Ein „wirtschaftlicher Zusammenschluss Europas (…) durch Verständigung der kapitalistischen Regierungen ist eine Utopie. Weiter wie zu Teilkompromissen und zu halben Maßnahmen kann hier die Sache niemals kommen. Um so mehr wird eine wirtschaftliche Vereinigung Europas, welche sowohl für den Produzenten wie für den Konsumenten und für die kulturelle Entwicklung überhaupt vom größten Vorteil ist, zu einer revolutionären Aufgabe für das europäische Proletariat ...“ (Friedensprogramm,  1917)

Wie recht hatten sie - auch und gerade, wenn wir die heutige Situation Europas betrachten. EU und Euro droht entweder der Zerfall oder aber sie bestehen in dieser oder jener Form weiter - dann aber unter der noch unverblümteren Führung des deutschen Kapitals und zu dessen Bedingungen. Schon jetzt zeigen die von der Troika diktierten Sparprogramme oder die Einsetzung von „Expertenregierungen“ in Italien und Griechenland, dass die Demokratie in diesen Ländern tw. ausgehebelt wurde. Die Einigung Europas erweist sich so einfach als Unterordnung vieler Staaten und der Masse ihrer EinwohnerInnen unter die dominanten imperialistischen Mächte, v.a. Deutschlands.

Dass das Europa der Verträge von Maastricht, Lissabon oder Schengen kein demokratisches, gleichberechtigtes, „humanes“ Gebilde ist, begreifen durchaus nicht nur die zehntausenden Bootsflüchtlinge, die nach Europa wollen und abgewiesen werden. Ein Europa, das auf Ausbeutung, Unterdrückung und Konkurrenz beruht, kann per se nicht human sein. Auch deshalb sprachen sich die FranzösInnen und HolländerInnen in den Referenden 2005 mehrheitlich gegen die EU-Verfassung aus.

Ein „Soziales Europa“?

Anstatt, wie etwa die Linkspartei, von einem „sozialen Europa“ zu fabulieren, müssen MarxistInnen klar den reaktionären, imperialistischen Charakter des EU-Blocks betonen. Die Losung vom „Sozialen Europa“ kann allenfalls dahingehend positiv aufgegriffen werden, dass ein wirklicher Kampf darum geführt werden muss, um die höchsten demokratischen und sozialen Standards in Europa durchzusetzen. Doch gerade davon, europaweit koordinierte Mobilisierungen durchzuführen, kann bei den Führungen der reformistischen Arbeiterorganisationen nicht die Rede sein, viel eher agieren sie als Standortverteidiger an der Seite ihrer nationalen Bourgeoisie.

Die Probleme mit EU und Euro und ihr mögliches Scheitern schaffen natürlich die Frage der europäischen Einigung nicht vom Tisch. Ohne Zweifel wäre eine enge Kooperation, wäre die Überwindung der national-staatlichen Niveau-Unterschiede, Egoismen und Rivalitäten ein fortschrittliches Ziel, nicht zuletzt und vor allem auch des europäischen Proletariats.

Europas Ökonomien sind wirtschaftlich immer enger verzahnt worden. Ein beträchtlicher Teil des Handels aller Staaten des Kontinents findet in der EU statt, Zollschranken und Grenzkontrollen sind gefallen. All das zeigt, dass die vom Kapitalismus geschaffene Entwicklung der Produktivkräfte über den nationalstaatlichen Rahmen hinausweist, dass die herrschende Klasse gedrängt wird, dem Rechnung zu tragen - doch sie kann es nur auf kapitalistischer Basis. Das heißt, dass die imperialistische Einigungsbestrebung untrennbar mit einer fortschreitenden Unterwerfung der schwächeren Länder verbunden ist - und so auch immer schon mit dem Sprengsatz für spätere Konflikte. Sie ist untrennbar verbunden mit der Abschottung des Kontinents an seinen Außengrenzen, einem rassistischen Grenzregime wie auch einer Abstufung der Bevölkerung und v.a. der Arbeiterklasse entlang nationaler und rassistischer Kriterien. Die kapitalistische Integration nimmt daher immer einen bürokratischen, unvollständigen, ja absurden Charakter an, wenn wir z.B. an so offenkundige Aufgaben wie die Schaffung eines europäischen Bildungswesens denken.

Wenn die Bourgeoisie sich unfähig zeigt, Europa zu einen, oder diese Einigung auf Kosten ganzer Länder und der Lebensinteressen von Millionen geht, so stellt sich die Frage, wer und wie diese Einigung dann vollzogen werden kann?

Ein geeintes Europa kann nur ein anderes Europa sein, es kann nur ein Europa sein, dass nicht auf Profit aus ist, das nicht untereinander und mit dem Rest der (imperialistischen) Welt wie eine Räuberbande um die Ausplünderung der Reichtümer streitet. Ein geeintes Europa kann nur das Ergebnis des revolutionären Klassenkampfes des europäischen Proletariats sein. Warum sollten wir dann aber nicht einfach die Losung „Für ein sozialistisches Europa aufstellen?“

Die Frage ist freilich, wie sich die Arbeiterklasse zu den Vereinheitlichungstendenzen verhalten soll, die vom Kapital vorangetrieben werden? Soll es ihnen die Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit entgegenhalten, den Austritt aus der EU oder aus dem Euro? Oder soll es nicht, wie Trotzki 1917 hypothetisch argumentierte, für die Vereinheitlichung auf einer demokratischen und sozialistischen Basis kämpfen?

“Was wäre dann die zentrale Parole des europäischen Proletariats? Wäre es die Auflösung des Zwangsbündnisses und die Rückkehr aller Völker unter die Obhut isolierter Nationalstaaten? Oder wohl die Wiederherstellung der Zollgrenzen, der »nationalen« Geldsysteme, der »nationalen« Sozialgesetzgebung und so weiter? Sicher nichts davon. Das Programm der revolutionären europäischen Bewegung wäre dann die Zerstörung der antidemokratischen Zwangsform des Bündnisses, bei der völligen Beibehaltung und Erweiterung seiner Basis in Form der völligen Aufhebung der Zölle, der Vereinigung der Gesetzgebung und vor allem der Arbeitsgesetze etc. Mit anderen Worten, die Parole der Vereinigten Staaten Europas »ohne Zölle, ohne ständige Heere« würde unter diesen Bedingungen die vereinigende und leitende Parole der europäischen Revolution.” (ebenda)

Diese strategische Ausrichtung muss auch heute, da die europäischen Ökonomien viel mehr miteinander verbunden sind als 1917, zur Richtschnur für eine revolutionäre, marxistische Politik werden.

Das „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“

Die Entwicklung des Kapitalismus ist für den Marxismus ein ungleichzeitiger und kombinierter Prozess. D.h. kein Land entwickelt sich losgelöst vom Weltmarkt und unabhängig von den globalen Kräftekonstellationen; die Entwicklung von Ländern und Regionen ist von großen Unterschieden und mitunter Sprüngen geprägt. Bezeichnenderweise hat die derzeitige „Einigung“ Europas auch die Unterschiede enorm anwachsen lassen, anstatt sie zu minimieren. Griechenland etwa erlebt derzeit einen sozialen Absturz wie kein Land Europas nach 1945.

Unter diesen Umständen wird auch die Entwicklung von Krisen und Klassenkämpfen in Europa sehr unterschiedlich sein. Während Griechenland und Spanien Massenkämpfe erleben, welche die Machtfrage tw. sehr direkt stellen, herrscht in Deutschland derzeit (noch) Ruhe.

So richtig die Losung vom „Sozialistischen Europa“ allgemein auch ist, so unzureichend ist sie aber, um diese Unterschiedlichkeit in der Entwicklung zu berücksichtigen. In Griechenland etwa ist es nicht nur möglich, sondern auch objektiv notwendig, eine Arbeiterregierung zu bilden, wenn die derzeitige Abwärtsdynamik der Gesellschaft gestoppt werden soll. D.h. die Bedingungen und die Klassenkräfte sind stark genug, allerdings fehlt es an einer revolutionären Führung. Es ist also durchaus möglich, dass gerade in Ländern wie Griechenland die imperialistische Kette an ihrem schwächsten Glied reißt.

So wie es klar ist, dass die sozialistische Revolution nicht auf einen Schlag in allen Ländern gleichzeitig ausbricht oder gar siegt, so liegt es auch auf der Hand, dass ein Land allein nicht den Sozialismus aufbauen kann. Entgegen etwa den Stalinisten der KP Griechenlands, die genau das vertreten, betonte schon Lenin die Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande, wie sie später von Stalin eingeführt wurde.

Die Revolution in Europa würde eher eine Situation schaffen, wie sie im Grunde schon nach 1917 bestand: ein Arbeiterstaat (der noch kein Sozialismus war!) musste sich im kapitalistischen Meer behaupten. Mehrere Revolutionen (Deutschland, Ungarn) scheiterten, aber immerhin führten die inner-imperialistischen Widersprüche und die Stärke und der Kampf der europäischen Arbeiterklassen dazu, das sich Sowjetrussland behaupten konnte. Dieser zeitweilige Status Quo, diese „Pause“ in den Gezeiten der Weltrevolution war dann damit verbunden, dass Sowjetrussland versuchte, „normale“ Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern herzustellen, z.B. 1922 in Form der Wirtschaftsverträge von Rapallo.

Würde z.B. die Revolution in Griechenland siegen oder aber eine Arbeiterregierung (die nicht unbedingt dasselbe wäre wie die Diktatur des Proletariats) sich gegen die Troika-Diktate zu behaupten versuchen, so wäre es die erste Aufgabe der Arbeiterbewegung und der Linken anderer Länder, das griechische Proletariat zu unterstützen und die eigenen Regierungen unter Druck zu setzen, „normale“ Beziehungen herzustellen.

Selbst der Sieg der Revolution in allen oder mehreren Ländern Europas würde natürlich nicht sofort die tw. riesigen Niveau-Unterschiede auf ökonomischem und kulturellem Gebiet überwinden; die nationalen Besonderheiten und die national-staatliche Verfasstheit selbst dieser Arbeiterstaaten müsste erst in einem längeren Entwicklungs-, Kooperations- und Angleichungsprozess „aufgehoben“ werden.

Für die Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa!

Diese Losung verbindet mehrere Aspekte: 1. die Tatsache der Unterschiedlichkeit und Kombination der Entwicklung der Länder im Kapitalismus und - daraus folgend - 2. die unterschiedliche Dynamik des Klassenkampfes und der Revolution sowie 3. die Notwendigkeit, den Klassenkampf, die Verteidigung seiner Errungenschaften und umso mehr von siegreichen Revolutionen international auszuweiten und zu kombinieren. Insofern ist diese Losung auch untrennbar verbunden mit der Idee der Permanenten Revolution, d.h. der internationalen Ausweitung der Revolution.

Ein zweiter wichtiger Aspekt der Theorie der Permanenten Revolution ist die Vorstellung, dass es keine „selbstständige“ demokratische Phase der Revolution gibt, wie sie das stalinistischen Etappen-Modell annimmt. Sollen die bürgerlich-demokratischen Aufgaben der Revolution wirklich erfüllt werden, muss die Arbeiterklasse die Führung der Revolution übernehmen und die Macht ergreifen - ansonsten wird die Konterrevolution siegen und nicht nur den Sozialismus verhindern, sondern auch die Umsetzung der demokratischen Aufgaben blockieren. In den arabischen Revolutionen ist genau diese Tendenz aktuell zu beobachten.

Der europäische Klassenkampf kann sehr unterschiedliche Ergebnisse haben und verschiedene  Stufen und Übergänge durchlaufen. Im Zuge der Krise und des Widerstandes der Massen gegen deren Auswirkungen wird es - und gibt es - verschiedene Antworten: reaktionäre, nationalistische, reformistische, sozialistische usw. Die Losung der Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa ist die einzige, in welcher die beiden Grundprobleme Europas verbunden sind: die Frage, welche soziale Ordnung - und damit auch, welche Klasse - die Probleme Europas, die Krise überwinden kann. Die Bourgeoisie hat ihre „Chance“ gehabt und bewiesen, dass sie  Europa nicht nach vorn bringt, sondern Millionen an den sozialen Abgrund führt. Die andere Frage ist die der Einigung Europas. Statt den Kontinent zu einen, driftet er immer weiter auseinander - Stichwort: Nord- und Südeuropa -; die Versuche der Troika, EU und Euro zusammenzuhalten, werden immer rabiater.

Europas Einigung, Europas Zukunft müssen zur Sache der Arbeiterklasse und ihres revolutionären Kampfes für den Sozialismus werden, oder aber Europa wird zum Hort von Krise und Verarmung, von Rassismus und Nationalismus.

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