Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Politische Lage

Regieren in der Krise

Hannes Hohn, Neue International 151, Juli/August 2010

Die im Flutlicht sieht man, die im Dunkeln nicht. Das dachte sich offenbar auch die Bundesregierung, als sie im Schatten der WM-Euphorie den Haushalt auf den Weg brachte und die Gesundheitsreform beschloss.

Wer - gemäß den Medien oder den Kabarettsendungen - dachte, dass die Merkel-Regierung nichts zustande bringe oder vor der Auswechslung stehe, sieht sich getäuscht. Sicher: das Kabinett aus CDU/CSU und FDP wird immer unpopulärer und ist über fast jede Frage zerstritten. Doch in einer Sache sind sie sich einig: die Kosten der Krise sollen die Massen bezahlen, um den Riesenberg aufgehäufter Staatsschulden abzutragen, sollen die Arbeiterklasse zur Kasse gebeten und ihre sozialen Errungenschaften geschleift werden.

Röslers Reform

Die Gesundheitsreform zeigt im Kleinen, was Regierung und Kapital auch im Großen planen. Sie stopft die Löcher der Krankenkassen auf Kosten der sozial Schwachen.

So steigt der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung von 14,9 auf 15,5%. Gesetzlich Versicherte müssen dafür künftig 8,2 statt 7,9% ihres Bruttoeinkommens aufwenden. Zwar steigt auch der Arbeit“geber“anteil von 7,0 auf 7,3%, doch langfristig wird er bei 7,3% eingefroren. So werden alle künftigen Kostensteigerungen im Gesundheitswesen auf die Versicherten abgewälzt. Dies erfolgt mittels des „Zusatzbeitrags“. Lag dieser bisher bei 1% des Bruttolohns, können ihn die Kassen künftig unbegrenzt erhöhen.

Obzwar sowohl das Gros der Ärzte als auch die Pharmaindustrie bei Röslers Reform ungeschoren davon kamen und sich weiter auf Kosten von PatientInnen und BeitragszahlerInnen mit geringerem Einkommen bereichern können, mangelt es nicht an Kritik aus dem Unternehmerlager. Warum? Erstens, weil die Wirtschaft nicht genug entlastet wurde; zweitens, weil die Reform nur Flickschusterei wäre und nicht der von der FDP versprochene „Systemwechsel“. Hier wurde, wie Unternehmerverbände und viele Medien betonen, nur gekleckert, statt zu klotzen. Mit anderen Worten: Lohnabhängige, Arbeitslose, RentnerInnen und Jugendliche sollen noch stärker zur Kasse gebeten werden.

Die Aufgabe von Schwarz/Gelb

Mit der Wahl von Schwarz/Gelb hatte das deutsche Kapital seine Wunschregierung bekommen. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP schien am besten geeignet, der Wirtschaft durch die Turbulenzen der Wirtschaftskrise zu helfen und die Kosten der Krise auf die Massen abzuwälzen. Zwar hatte auch die Vorgängerregierung, die Große Koalition aus CDU und SPD, das Kapital mit milliardenschweren Hilfspaketen, der Abwrackprämie und der Ausweitung der Kurzarbeit beglückt, doch dieses Krisenmanagement hatte mit dem astronomischen Anstieg der Staatsverschuldung auch seinen Preis.

Aus dieser Situation ergaben sich für die Bourgeoisie zwei zentrale Aufgaben: Erstens sollte das deutsche Kapital die Krise nutzen, um seine Stellung gegenüber den Konkurrenten zu verbessern, zweitens musste die weitere Verschuldung begrenzt werden. Letzteres ist - wie das Beispiel Griechenland u.a. aktuelle Entwicklungen der Finanzsphäre zeigen - umso wichtiger, als Wohl und Wehe der EU und des Euro als den zentralen Projekten des deutschen Imperialismus auf dem Spiel stehen.

Schwarz/Rot hatte die Rettung der Banken durch eine enorme Neuverschulung finanziert. Nun sollten die Massen durch Sparmaßnahmen dafür aufkommen. Hatte die Große Koalition v.a. mit der Kurzarbeiterregelung noch versucht, heftigere Attacken und massenhaften Widerstand der Belegschaften zu vermeiden, so war klar, dass das auf Dauer nicht möglich, weil nicht bezahlbar war. Zudem wurde so auch ein Gesundschrumpfen des deutschen Kapitals, also die Vernichtung unproduktiverer Kapitale, erschwert. Doch diese Vernichtung von Überkapazitäten muss früher oder später stattfinden, wenn man nicht bald in die nächste Rezession rutschen will: entweder in Deutschland selbst oder indem die kapitalistischen Konkurrenten aus dem Feld geschlagen werden. In jedem Fall sollen die Lohnabhängigen bluten - durch verschärfte Ausbeutung und Vernichtung zigtausender Arbeitsplätze.

Speerspitze FDP

Zur Durchführung der weit heftigeren Angriffe sollte die FDP mit ihrer offen neoliberalen und kapitalfreundlichen Politik die Speerspitze der Regierung und ihrer Attacken dienen. Und Westerwelles Liberale ließen sich auch nicht lumpen. Sie plädierten für massive Steuerentlastungen für Reiche und die Wirtschaft und hetzten zugleich gegen Arbeitslose.

Doch ganz offensichtlich hat sich die Regierung Merkel nicht als die geschlossene Phalanx gegen die Arbeiterklasse und deren soziale Errungenschaften erwiesen, die sich das Kapital gewünscht hatte. Das Problem ist dabei nicht, dass die Regierung die vom Kapital erwarteten Angriffe nicht durchführen will; es besteht eher darin, dass sie Widerstand gegen ihren Crashkurs befürchtet.

Dass dieser Widerstand bisher nur so schwach war, erklärt sich v.a. daraus, dass durch die Verlängerung der Kurzarbeit Massenentlassungen verhindert wurden. Dabei und bei der Bewilligung der Milliardenhilfen für die Banken erhielt Schwarz/Rot immer Unterstützung von der reformistischen Arbeiterbewegung, also der Gewerkschaftsführung und die der SPD. Die Linkspartei präsentierte sich zwar linker, zugleich vermied sie aber jede offene Kritik an der sozialpartnerschaftlichen Politik der Gewerkschafts- und Betriebsratsspitzen.

Weitere massive Angriffe könnten aber dazu führen, dass der DGB, die LINKE und die nun „oppositionelle“ SPD sich gezwungen sehen könnten, stärkeren Protest zu organisieren, um sich nicht total unglaubhaft zu machen. Sollten dann noch mehr betriebliche Kämpfe aufgrund von Schließungen oder Entlassungen entstehen, ergäbe sich eine brisante Situation, die zudem die Gefahr in sich bergen würde, dass der Widerstand nicht so leicht von der reformistischen Bürokratie kontrolliert werden könnte. Hinzu kommt, dass die Angriffe auf das Gesundheitssystem sowie das Kaputtsparen der Kommunen den Unmut der Bevölkerung weiter steigern werden.

Vor einer neuen Großen Koalition?

Auch die Wahl des Bundespräsidenten offenbarte das Regierungs-Problem. Die Nominierung von Gauck war auch ein Probelauf um zu testen, wie groß das Potential im Unions-Lager für eine Neuauflage der Großen Koalition ist.

Auch die Reaktion auf die Gesundheitsreform zeigt, dass wachsende Teile des bürgerlichen Lagers unzufrieden mit Merkel sind und auf diese Option setzen. Schwarz/Rot hätte für sie mehrere Vorteile. Es gäbe klare Mehrheiten, v.a. im Bundesrat. Mit der Einbeziehung der SPD - wofür sich die Sozialdemokratie ständig selbst anbietet - könnte gewährleistet werden, dass auch die Gewerkschaften indirekt wieder mit im Boot sitzen.

Wie die Entwicklung weitergeht, wird v.a. davon abhängen, ob sich die Wirtschaft global wieder etwas erholt oder ob sie erneut in eine Rezession rutscht (double dip). Sie wird stark davon abhängen, welche Herausforderungen sich aus der Krise des Euros für die weitere Entwicklung oder gar die Existenz der EU in ihrer jetzigen Form ergeben. Diese Umstände entscheiden darüber, wie massiv künftige Angriffe sein werden und wie schnell sie erfolgen müssen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das deutsche Kapital unter bestimmten Umständen auf Neuwahlen drängt und erneut auf eine Große Koalition setzt. Doch diese Option ist keine Lösung für die Arbeiterklasse und die Massen! Im Gegenteil: eine Orientierung auf Neuwahlen würde auf den sich gerade neu formierenden Widerstand demobilisierend wirken und nur neue Illusionen in die SPD schüren.

Widerstand aufbauen!

Bisher unterstützten DGB, SPD und auch die Linkspartei - trotz partieller Kritik - das Krisenmanagement der Regierung. Es blieb bei wenigen zahnlosen Protesten, alle Möglichkeiten, aufbrechenden Widerstand in einzelnen Betrieben zu verallgemeinern, wurden abgewürgt. Auch die Mobilisierungen der Anti-Krisen-Bewegung wurden nicht oder kaum unterstützt. So konnten Regierung und Kapital ihre Angriffe durchziehen.

Die Anti-Krisen-Bündnisse hatten es versäumt, nach den Demos im März 2009 weitere Aktionen zu setzen und die Bewegung kontinuierlich aufzubauen. Nach einer langen Mobilierungs“pause“ waren nun am 12. Juni erneut Zehntausende gegen die Krise auf der Strasse. Nun geht es darum, diese (Neu)Anfänge von Widerstand auszubauen! Was ist dazu notwendig?

Der Protest auf der Strasse muss mit betrieblichen Aktionen verbunden werden. In diesem Sinn muss die Anti-Krisen-Bewegung z.B. mit der Bildungsstreikbewegung oder den Montagsdemos wie gegen S 21 verzahnt werden.

In allen Städten müssen dazu Aktionskomitees aufgebaut und bundesweit wie auch international koordiniert werden. Massenaktionen in Ländern wie Griechenland oder die zu erwartenden Massenproteste gegen Sarkozys Rentenpläne in Frankreich können zu Initialzündern europaweiter Proteste werden. Darauf müssen wir uns vorbereiten!

Doch es geht nicht einfach um mehr Aktionismus. Es geht für die Anti-Krisen-Bündnisse auch um eine politische Klärung. Die durchaus ernüchternde Bilanz ihres Bestehens resultiert eben auch daraus, dass sich viele Kräfte in ihr nicht als Initiator, nicht als Vorhut des Widerstand sehen, sondern eher mit der Bewegung mitschwimmen oder ihr gar hinterher laufen.

Vor allem muss klar sein, dass Proteste allein nicht ausreichen, um Regierung und Kapital zu stoppen. Das ist nur mit politischen Massenstreiks bzw. mit einem unbegrenzten Generalstreik möglich. Um solche Massenaktionen zu ermöglichen, ist es auch notwendig, jene Organisationen, die sich auf die Arbeiterklasse stützen, also den DGB, die SPD und die LINKE, zu zwingen, Widerstand zu unterstützen, ja selbst zu organisieren. Natürlich werden deren Führungen - wie bisher - alles tun, um weiter passiv zu bleiben und den Widerstand auf dem Level bloßen Protests zu halten. Doch gerade darum müssen ihre Führungen unter Druck gesetzt werden!

Eine Bewegung ist nur dann attraktiv, wenn sie Klarheit über ihre Ziele und Methoden vermittelt. Es ist also ein Aktionsprogramm mit klaren Forderungen nötig! Eckpunkte eines solchen Programms wären z.B.:

Kampf gegen alle Entlassungen! Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich!

Weg mit den Hartz-Gesetzen! Mindestlohn von 11 Euro/Std. netto und steuerfrei, Arbeitslosengeld/Mindesteinkommen für RentnerInnen, Studierende, SchülerInnen ab 16 von 1.600 Euro/monatlich!

Nein zu Kopfpauschale, Rente mit 67 und allen anderen Angriffen auf Sozialleistungen: Zwingt die Unternehmen und Vermögensbesitzer zur Kasse! Progressivsteuer auf Einkommen, Kapital und Eigentum!

Die Kapitalisten müssen zahlen! Entschädigungslose Eineignung der großen Konzerne und Banken unter Arbeiterkontrolle!

Nächste Schritte

Um neue Kräfte in die Bewegung zu ziehen müssen überall Kundgebungen, Infostände oder Aktionen auf zentralen Plätzen, vor Betrieben oder Arbeitsagenturen stattfinden.

Auch in Betrieben und Unternehmen müssen Vertrauensleute, aktive GewerkschafterInnen und ArbeiterInnen die Initiative zur Mobilisierung ergreifen, indem Belegschaftsversammlungen über die Lage und nächste Aktionen diskutieren und von den Gewerkschaften, von den Betriebs- und Personalräten politische und finanzielle Unterstützung fordern!

Um den Widerstand zu popularisieren, zu koordinieren und weitere Aktionen zu planen, schlagen wir die Einberufung einer bundesweiten Konferenz der Bewegung vor.

Der internationale Charakter der Krise bedeutet auch, dass auch der Kampf dagegen nur international erfolgreich geführt werden kann. Die Beteiligung am europaweiten Streik- und Aktionstag am 29. September muss ein sichtbarer Schritt in diese Richtung werden!

Leserbrief schreiben   zur Startseite


Nr. 151, Juli/Aug. 2010
*  Politische Lage: Regieren in der Krise
*  Heile Welt
*  Krisenfolgen: Kommunaler Kollaps
*  Alternative: Gewerkschaftsbürokratie fordert Ausschluss
*  Protest gegen Stuttgart 21: Oben bleiben!
*  6.-8. August: Bildungsstreikkonferenz
*  NRW und die Politik der Linkspartei: Bock oder Gärtner?
*  Frauenunterdrückung und Hausarbeit: Aschenputtels Arbeit
*  Kolonialpolitik: Weisse Herrinnen
*  China: Ein neuer Imperialismus
*  Europäisches Sozialforum: Verwesung oder Genesung?
*  Wahlen in Belgien, Ungarn und den Niederlanden: Stoppt den Vormarsch der Rechten in Europa!