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Betriebsbesetzungen

Arbeitermacht in Bellinzona

Helga Müller, Neue Internationale 139, Mai 2009

Das Beispiel der beabsichtigten Betriebsschließung des Werkes Alzenau von Mahle zeigt, wie beschränkt die traditionellen gewerkschaftlichen Mittel des Aushandels von Sozialplänen oder Standortsicherungsverträgen sind. Beide Maßnahmen sind eingebettet in die in der Bundesrepublik geltende “Sozialpartnerschaft” zwischen Gewerkschaften und Unternehmensführung, die Massenentlassungen gar nicht verhindern können, sondern die Folgen auf die Beschäftigten abwälzen, indem sie die Arbeitslosigkeit “sozial abfedern” oder sie zeitlich nach hinten schieben.

Sie dienen nicht dazu, die betroffenen KollegenInnen in den Kampf um den Erhalt aller Arbeitsplätze zu führen, sondern ermöglichen im Gegenteil den Unternehmen auf neuem Niveau, die Ware Arbeitskraft auszubeuten, um - unter für die Unternehmen günstigeren Bedingungen - weiter Profit machen zu können.

Die Geschäftsführungen stellen Schließungen, Massenentlassungen, Verzicht auf Lohn etc. als einzige Antworten auf die Krise hin. Sie argumentieren, dass bestimmte Bereiche oder Werke defizitär arbeiten oder Konkurrenzunternehmen zu günstigeren Bedingungen arbeiten (also die Ware Arbeitskraft dort billiger ist)  und somit scharfe Einschnitte nötig sind, um das Unternehmens zu retten.

Was in einer solchen Situation, in der es um die Frage der Existenz von Hunderten oder Tausenden Beschäftigten geht, von Seiten der Gewerkschaftsverantwortlichen notwendig wäre, ist nicht Verständnis für die tatsächlich in die Krise geratenen oder die Krise ausnutzenden Unternehmen aufzubringen, sondern den Kampf gegen jede Entlassung zu führen und dafür die Einheit im Kampf - nicht nur in der Belegschaft, sondern darüber hinaus - zu organisieren.

Ein Beispiel

Der Kampf um die Betriebsstilllegung der Eisenbahn-Werkstatt der Schweizerischen Bundesbahn (SBB) “Officine” in  Bellinzone im Tessin Anfang 2008 ist wohl das bekannteste und erfolgreichste Beispiel einer Betriebsbesetzung in den letzten Jahren. Auch dort ging es darum, dass der Betrieb mit 430 Beschäftigten nach dem Willen der Geschäftsleitung hätte dicht gemacht werden müssen. Die SSB Cargo - ein ausgegliederter Bereich der SSB - hatte Ende 2007 ein Rekorddefizit von 190,4 Mill. Schweizer Franken eingefahren. Ein umfassendes Restrukturierungsprogramm sollte mittelfristig zu Ergebnisverbesserungen von über 70 Mio. führen. Dazu gehörten die Streichung von 401 Stellen und die Verlagerung der übrigen Arbeitsplätze zu anderen Produktionsstandorten im Werk von Bellinzone.

Hier sollte es - wie auch in Deutschland üblich - zu Sozialplanverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmensführung kommen, die keinen Arbeitsplatz retten, sondern die KollegInnen etwas “sanfter” in die Arbeitslosigkeit entsenden.

Doch es kommt anders: Die KollegInnen des Werkes beschließen einen unbefristeten Streik und besetzen den Betrieb. Sie haben eine klare Forderung: Die Geschäftsleitung hat den Beschluss zur Schließung rückgängig zu machen! Alle 430 Arbeitslätze müssen erhalten bleiben!

Darüber hinaus forderte das Streikkomitee, das den Arbeitskampf anführte, die Gewerkschaften dürften keine Sozialplanverhandlungen führen, solange der Streik andauere.

Die ArbeiterInnen gingen nicht nur in den Streik, sondern besetzten und bewachten den Betrieb rund um die Uhr. Damit erreichten sie drei zentrale Ziele:

die ArbeiterInnen verhinderten, dass die Unternehmensführung die Maschinen mit Hilfe der Polizei ab-montieren und abtransportieren konnte;

die KollegInnen blieben während des Streiks zusammen, berieten und beschlossen die Weiterführung des Kampfes gemeinsam und entgingen so der Gefahr, dass die KollegInnen einzeln dem Druck der Unternehmensführung ausgesetzt waren. Parallel dazu entwickelte sich der Betrieb dadurch zu einem Ort der Begegnung und der Solidarität der örtlichen Bevölkerung;

die Beschäftigten entzogen dadurch, dass sie selbst ihre Kampfmaßnahmen beschlossen und über eigene Kampforgane verfügten, der offiziellen Gewerkschaft die Grundlage, in Sozialplanverhandlungen zu gehen.

Der Arbeitskampf führte dazu, dass die lokalen offiziellen Gewerkschaften den Streik unterstützen mussten und ihre gesamte Struktur in den Dienst des Kampfes stellten. Er bewirkte, dass ein Unterstützungskomitee („Netzwerk für eine kämpferische Bewegung der ArbeiterInnen”, she. www.giule-mani.ch) gegründet wurde, das alle streikenden und besetzenden Belegschaften in der Schweiz unterstützt. In diesem Komitee haben sich über 200 AktivistInnen zusammengeschlossen.

Das bewirkte, dass das Streikkomitee weiterhin existiert und jederzeit in der Lage ist, den Kampf erneut zu initiieren. Schließlich wurde so der Geschäftsführung eine Arbeitsplatzgarantie bis 2010 und - unter Androhung eines neuen Streiks - sogar bis 2013 abgerungen.

Bilanz

Möglich wurde dieser Erfolg nur dadurch, dass die Beschäftigten über eigene demokratisch gewählte Organe - ein Streikkomitee und Vollversammlungen - verfügten, mit deren Hilfe sie die Kontrolle und Entscheidung über ihren Kampf innehatten und sie damit auch der offiziellen, der Sozialpartnerschaft verpflichteten Gewerkschaft jede Grundlagen entzogen, die Kontrolle über den Kampf zu übernehmen und ihn auszuverkaufen.

In der Belegschaft gab es einen Kern von kampferfahrenen und nur den Interessen der Belegschaft verpflichteten AktivistInnen, die davon ausgingen, dass nur der Kampf um jeden Arbeitsplatz zum Erfolg gegen die Geschäftsführung führen kann.

Bei allem Erfolg: Wir wollen nicht verschweigen, was nicht erreicht werden konnte. Die offiziellen Gewerkschaften konnten zwar gezwungen werden, den Arbeitskampf im Werksteil Bellinzone zu unterstützen, aber nicht dazu, Solidaritätsstreiks und andere Unterstützungskämpfe in anderen Betrieben in der Schweiz zu organisieren.

Das Streikkomitee schreckte bewusst oder unbewusst vor der eigentlichen Konsequenz zurück. Trotz vorübergehender Betriebsbesetzung und damit der faktischen Enteignung des Betriebes, übernahmen sie nicht den Betrieb und die Fortführung der Produktion unter eigener Kontrolle - auch als Beispiel für andere Betriebe.

Natürlich ist es klar, dass ein einzelner Betrieb, der enteignet und unter Kontrolle der Beschäftigten weiterfortgeführt wird, immer noch den kapitalistischen Verwertungsprozessen unterliegt.

Aber es wäre notwendig gewesen, auch in den offiziellen lokalen Gewerkschaften, die den Streik und die Betriebsbesetzung - wenn auch nur halbherzig - unterstützt haben, diese Kampferfahrung einzubringen und andere KollegInnen dafür zu gewinnen, anstatt den Kampf auf diesen einzelnen Betrieb zu beschränken und der Geschäftsführung einige Verpflichtungen abzuringen wie die Erweiterung der Personalabteilung um die Mitglieder des Streikkomitees, alle Entscheidungen, die die Arbeitsbedingungen betreffen, vorrangig mit dem Streikkomitee abzusprechen etc.

Diese Verpflichtungen beinhalten zudem die Gefahr, dass die Kampfstruktur bald wieder zu einem machtlosen „Mitbestimmungsorgan“ wird, wie wir es auch von den Betriebsräten hierzulande kennen.

Wichtig ist aber, dass sich das Streikkomitee nach dem Streik und der Betriebsbesetzung nicht aufgelöst hat und damit jederzeit in der Lage ist, einen erneuten Streik zu beginnen.

Der Kampf beschränkte sich auf den einzelnen Betrieb und auf die einzelne Maßnahme des Unternehmens, anstatt diesen Angriff im Zusammenhang mit dem gesamten Klassenkampf zu sehen; mit anderen Angriffen von Unternehmen und Regierung auf die lohnabhängig Beschäftigten, auf Arbeitslose, RenternInnen und Jugendliche. Das hätte bedeutet, einen gemeinsamen Kampf zur Verteidigung der Interessen aller Betroffenen bis hin zum Generalstreik zu organisieren.

Basisbewegung

Wie Bellinzone zeigt, gab es schon vor dem Kampf ein Milieu von betrieblichen KämpferInnen, also das, was man als „Vorhut der Klasse“ bezeichnet. Doch oft, v.a. in kampfunerfahrenen Betrieben, gibt es das nicht oder die wenigen AktivistInnen werden isoliert und „gemobbt“. In jedem Fall ist es daher notwendig, eine Basisbewegung aufzubauen, in der betriebliche, gewerkschaftliche und linke AktivistInnen vereint sind.

Eine solche klassenkämpferische Basisbewegung würde nicht nur die Solidarität mit einem Kampf, sondern v.a. auch dessen Ausweitung erleichtern. Eine solche organisierte Struktur würde in sich auch wesentlich mehr Erfahrungen und Ideen vereinen und in der Lage sein, aus diesen ein allgemeines Aktionsprogramm für die gesamte Klasse zu erarbeiten. Anders als eine rein betriebliche Struktur würde eine solche Kraft auch effektiv gegen den bürokratischen Apparat und für eine andere Führung der Gewerkschaften kämpfen können.

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Nr. 139, Mai 2009
*  Erster Mai 2009: Gegen Krise, Krieg und Kapital!
*  Heile Welt
*  DGB-Gewerkschaften: Wo bleibt die soziale Unruhe?
*  Mahle Alzenau: Kämpferische Stimmung - aber wie weiter?
*  Politikerauftritte: Seehofer, SPD und der Rest
*  Mahle Argentinien: Besetzung in Rosario
*  Betriebsbesetzungen: Arbeitermacht in Bellinzona
*  Resümee NATO-Gipfel: Böller, Weihrauch, Tränengas
*  Thailand: Rote gegen Gelbe
*  Sri Lanka: Stoppt die völkermörderische Offensive gegen die Tamilen!
*  Österreich: Ein Monat der Schülerstreiks
*  90 Jahre Münchner Räterepublik: Als Arbeiter regierten