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Streik an der Uni-Klinik Tübingen

Da war mehr drin!

Bericht einer Beschäftigten, Neue Internationale 105, November 2005

Am 5. Oktober traten die nichtwissenschaftlichen Beschäftigten der vier Uniklinika in Baden-Württemberg in Streik. Die Arbeit“geber“ der Uni-Kliniken sind aus der Tarifgemeinschaft deutscher Länder mit dem Ziel ausgetreten, für die über 20.000 Beschäftigten eigene Tarifverträge auszuhandeln, die deutlich schlechter sind, als es der reformierte BAT, der Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes (TVöD), war. Interessant ist das für die Klinik-Vorstände auch deshalb, weil diese Krankenhäuser als Anstalten des Öffentlichen Rechts Gewinne machen können.

Schon davor, im Juli 2004, wurde von der Tarifgemeinschaft deutscher Länder der Arbeitszeittarifvertrag gekündigt und alle Neueingestellten arbeiten deshalb seit Juli 2005 schon 41 Wochenstunden, bekommen kein Urlaubsgeld und nur ein abgesenktes Weihnachtsgeld.

Wir forderten also nur die Rücknahme der Verschlechterungen plus minimale und dringend nötige Gehaltserhöhungen. Nach einigen Warnstreiks in diesem Jahr sind die Arbeit“geber“ von der 41 Stundenwoche wieder abgerückt und boten 40 Stunden für alle Beschäftigten. Das war für uns inakzeptabel - wir bleiben bei unseren Forderungen:

Erhalt der 38,5 Stunden/Woche;

Erhalt des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes in Höhe von 2004 nach BAT;

50 Euro mehr Lohn pro Monat;

25 Euro mehr Lohn für Azubis.

Nachdem die Tarifverhandlungen am 20. September für gescheitert erklärt wurden, führte ver.di die Urabstimmung durch. Das Ergebnis war eindeutig: über 90 % der Mitglieder stimmten für Streik!

Guter Anfang

An der Uniklinik Tübingen sollte das gesamte Klinikum bestreikt werden. Die Woche der Urabstimmung wurde für Abteilungsversammlungen genutzt, die Beschäftigten wurden informiert und mobilisiert.

Das hat sehr gut funktioniert. Viele sind in diesen Tagen ver.di-Mitglied geworden und wollten aktiv werden. Sie haben sich Unterstützung bei den Vertrauensleuten geholt, um sich gegenüber den Leitungen und Ärzten durchzusetzen. Am 5.10. morgens um 5.30 Uhr standen die Streikposten, unterstützten KolegInnen, die von den Chefs unter Druck gesetzt worden waren, und überzeugten zögerliche KollegInnen.

Der Klinik-Vorstand verhielt sich arrogant. Er hielt es noch nicht einmal für nötig, eine Notdienstvereinbarung abzuschließen, weil er davon ausging, dass es sowieso nur eine geringe Beteiligung am Streik geben würde. So wurden kaum Patienten abbestellt. Umso größer war dann das Staunen der Chefärzte: kein Personal im OP, nur Notdienstversorgung auf den Pflegestationen, im Labor, bei der Reinigung, der gesamten Diagnostik, in der Küche, im Lager und beim technischen Betriebsamt.

Erst dann wurde eine Notfallvereinbarung getroffen, Patienten, die keine Notfälle waren, wurden abbestellt. So konnten einige Stationen komplett geschlossen werden und die Beteiligung am Streik wurde noch besser. In allen Stationen und auch in der Stadt gab es Infostände. Wir erhielten zahlreiche Soli-Adressen. Die Patienten und die Bevölkerung standen überwiegend hinter uns. Die Chefärzte verstanden die Welt nicht mehr und bezeichneten die Situation nur als Chaos.

Am Freitag, dem 7.10. gab es eine Demonstration der Streikenden in die Innenstadt. 2.000 Beschäftigte zogen mit zahlreichen Transparenten auf den Holzmarkt. Unterwegs schlossen sich viele Leute unserer Demo an, was uns sehr beeindruckt hat.

Nächste Woche will auch die Uniklinik Freiburg in einen Vollstreik treten. Bisher haben die Klinika in Heidelberg, Freiburg und Ulm nur Ein-Tages-Streiks und Abteilungsstreiks durchgeführt. Die Beschäftigten dort sind aber genauso kampfbereit wie in Tübingen und haben massiv gefordert, auch in ihren Standorten alles still zu legen und den Druck auf die Chefetage zu erhöhen. Insgesamt nahmen über 5.000 Beschäftigte an den Streiks teil.

Unerwartetes Ende

Der Streik in Tübingen ging in die zweite Woche. Die Motivation war ungebrochen. Die Streikleitung befürchtete, dass die für den 11. geplante Demo kleiner sein würde als die zuvor. Doch es wurden sogar 3.000, darunter auch Beschäftigte der Schnarrenberg-Kliniken und der Tal-Kliniken.

Unterstützt wurden wir auch von den Beschäftigten der Uni, die sich ebenfalls in Tarifauseinandersetzungen befinden. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Oettinger, erklärte einer Streikdelegation: "Arbeitszeitverlängerung kostet Arbeitsplätze. Das muss man in Kauf nehmen. Die Arbeitszeit in Deutschland ist zu gering, die Bewegung in Richtung 35-Stunden-Woche ist ein Irrweg und eine Umkehr ist nötig." Damit erntete er bei uns aber keine Zustimmung.

Unterdessen hatten sich die Arbeit“geber" getroffen und übergaben ver.di einem neuen Verhandlungsvorschlag. Wir erfuhren von ver.di aber nur, dass es ein neues Angebot gebe und neue Sondierungsgespräch geführt würden. Das Angebot würde erst mal top-secret behandelt.

Daraufhin wurde beschlossen, dass die Streiks weiter gehen, bis ein akzeptables Verhandlungsergebnis vorliegt. Am Montag danach sollte die Tarifkommission zusammen kommen und das neue Angebot diskutieren.

Am Sonntagabend konnten wir einigermaßen überrascht den Nachrichten entnehmen, dass "Die Verhandlungen zwischen den Arbeitgebern und der Gewerkschaft ver.di für das nichtwissenschaftliche Personal an den vier Uniklinika (...) erfolgreich abgeschlossen worden" sind. Der ausgehandelte Kompromiss sieht so aus:

Beschäftigte unter 40 Jahren arbeiten 39 Wochenstunden;

Beschäftigte über 40 und Auszubildende arbeiten 38,5 Stunden;

Beschäftigte über 54 arbeiten 38 Stunden.

Die neue Arbeitszeitbestimmung tritt am 1.12.05 in Kraft. Statt der geforderten 50 € Lohnerhöhung pro Monat (25 Euro für Azubis) einigte man sich auf jährliche Einmalzahlungen, von 390 Euro im Dezember 05 und 06 und von 300 Euro 2007.

Ab 2006 werden Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld zusammengelegt und als 13. Monatsgehalt gezahlt, in Höhe von 88% eines Monatsgehaltes (bisher 82%).

Weiter wurden die Einführung eines Arbeitszeitkontos und die Erarbeitung einer Entgelttabelle, die für Angestellte und ArbeiterInnen gleich ist, vereinbart. Der Manteltarifvertrag wird neu erarbeitet, lediglich einige Eckpunkte sind schon festgelegt. Ein wesentlicher ist der §15b, der befristete Teilzeitverträge möglich macht.

Reaktionen

Die Streiks liefen besonders in Heidelberg noch auf Hochtouren und sollten weitergehen. Mit dem Abbruch des Streiks waren viele nicht einverstanden. Die Abstimmung brachte dann aber doch eine Mehrheit für den Tarifabschluss und für das Ende der Streiks.

In Tübingen fand eine Mitgliederversammlung statt. Es gab viel Applaus für den Abschluss und die Arbeit der Tarifkommission, es gab aber auch viel konstruktive Kritik. Viele waren mit der Kröte der „Lohn-Nullrunde“ nicht einverstanden, besonders die KollegInnen aus den unteren Lohngruppen. Besonders häufig wurde das rasche Ende des Kampfes kritisiert: Wir hätten doch versuchen sollen, noch mehr zu erreichen.

Es wurde als undemokratisch kritisiert, das Ergebnis vor der Urabstimmung als Erfolg zu verkaufen. Im Nachhinein wurde deutlich, dass unsere Forderungen zu niedrig angesetzt waren.

Dem stand die Meinung der Gewerkschaftsführung und der Mehrheit der Tarifkommission gegenüber. Der Streik wäre nicht mehr lange mit der Kraft weitergegangen, es ist klug aufzuhören, wenn die Kampfkraft ihren Höhepunkt erreicht hat und mehr wäre absolut nicht möglich gewesen.

Immerhin: Die Klinik-Streiks waren der erste Erzwingungskampf im Gesundheitswesen überhaupt. Die Aktionen haben gezeigt, dass auch die KollegInnen im Krankenhaus über genug Kampfkraft verfügen, um für ihre Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Die Arbeitszeiterhöhung ist überwiegend abgewendet worden. Das ist allein durch die massive Arbeitsniederlegung der Beschäftigten geglückt. Insgesamt ist unser Abschluss besser als der neue TVöD. Insofern war unser Streik durchaus erfolgreich. Das sollte auch KollegInnen woanders ermutigen, für ihre Forderungen auf die Straße zu gehen!

Ein ehrliche Bilanz des Streiks muss aber auch beinhalten, dass die Chance, den Streik auszuweiten und mit den Beschäftigten des Landes, mit den Beschäftigten im Einzelhandel (aktuell im Kreis Tübingen bei Lidl) und den StudentInnen, die sich wieder gegen Studiengebühren wehren müssen, zu verbinden, vertan wurde!

Auch das wissenschaftliche Ärzte-Personal steht im Arbeitskampf. Der Marburger Bund fordert 30% mehr Lohn für das ärztliche Personal - allerdings auf Kosten der anderen Beschäftigten, „die zu teuer wären!“

Das können wir so natürlich nicht unterstützen, trotzdem müssen wir gemeinsam mit den ÄrztInnen auf die Straße gehen und darum kämpfen, das wir die gleichen Forderungen aufstellen, um eine Spaltung zu verhindern. Da war die Streikführung viel zu inkonsequent. Wir hätten nach dem Prinzip „Eine Betrieb, eine Gewerkschaft“ dafür eintreten müssen, dass sich die Ärzte, deren Situation auch immer prekärer wird, ver.di anschließen und mit ihrer reaktionären Standesorganisation Marburger Bund brechen.

Lehren des Kampfes

Der plötzliche Abbruch des Streiks war ein großer Fehler! In Tübingen wurde an fünf Tagen das gesamte Klinikum bestreikt und obwohl das für die Organisation sehr anstrengend war, hat täglich die Kampfkraft zugenommen. Die anderen drei Klinika waren am Anfang zögerlicher und gewannen dann aber mehr und mehr an Kampfkraft und wollten zum Teil erst richtig loslegen, als schon wieder alles vorbei war.

Ich bin überzeugt, dass wir noch viele neue Mitglieder, viele neue AktivistInnen und viel mehr an Kampferfahrung hätten gewinnen können, wenn der Kampf weitergeführt worden wäre. Für mich war es der erste Streik in meinem Leben.

Aber die Leute, die den Streik geführt haben, v.a. die Personalräte, haben größere Erfahrung. Warum haben sie Angst vor der Ausweitung des Streiks? Oder haben sie den Kontakt zur Basis schon so weit verloren, dass sie nicht spüren, wie sich die Stimmung entwickelt? Dann brauchen wir andere Führungen und andere Strukturen, in denen die Basis mehr zu sagen hat!

Der zweite große Fehler war, dass überhaupt nicht auf die Politik eingegangen wurde. Da schreibt die regionale Zeitung schon einen Tag nach dem Streik: "Die Gewerkschaft kann nicht mehr aus den Klinikbudgets herausholen, als durch Umschichtung möglich ist." Das Budget wird aber durch die neoliberale Politik der Bundes- und Landesregierung vorgegeben.

Unsere Antwort darauf muss lauten: Weg mit ungesunden Gesundheitsreformen! Rücknahme aller Privatisierungen und Outsourcings! Es ist jetzt schon abzusehen, dass die neue Regierung mit einer neuen Gesundheitsreform auf die Versicherten genauso wie auf die Beschäftigten im Gesundheitswesen losgehen wird. Der Klinikstreik hätte der Ausgangspunkt werden können, alle für den Widerstand gegen diese Regierungspolitik zu mobilisieren.

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Nr. 105, November 2005

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*  Streik an der Uni-Klinik Tübingen: Da war mehr drin!
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