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Statt eines Nachrufs

Wer war Arafat?

Keith Harvey, Neue Internationale 96, Dez 2004/Jan 2005

Yasser Arafat ist tot und begraben. Die USA und Israel hoffen, dass mit ihm auch die Hoffnung auf einen lebensfähigen und demokratischen Palästinenserstaat begraben wird. Die imperialistischen Mächte und die Zionisten werden versuchen, die Zeit bis zur Wahl eines neuen Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde zu nutzen, um einen noch nachgiebigeren Vertreter an die Spitze der PalästinenserInnen zu bringen. Doch wer war Arafat eigentlich?

Sein Leben ist eng mit dem palästinensischen Befreiungskampf verbunden. Er war sein bekanntester Vertreter und eine lebende Legende. Arafat begann seine politische Karriere an der Universität und stand von 1952 bis 56 an der Spitze der Palästinensischen Studentenvereinigung in Ägypten. Er nahm an den Aktivitäten der palästinensischen Guerilla teil, die damals von ihren Basen im ägyptisch besetzten Gaza-Streifen aus operierte. Nach dem Abschluss seines Ingenieurstudiums diente er während der Suez-Krise 1956 in den ägyptischen Streitkräften.

Aber Arafat und seine Mitstreiter waren aufgrund der Versuche Nassers, die palästinensische Guerilla zu kontrollieren, der damit eingehenden Repression wie auch der eigenen Isolation aufgrund der Popularität Nassers nach den Suez-Ereignissen gezwungen, ihre politische Arbeit in Ägypten einzustellen und das Land zu verlassen. Sie emigrierten nach Kuwait, wo sie die Zeitung Filastinua (Unser Palästina) als Organ der Palästinensischen Befreiungsbewegung gründeten, die unter ihrer arabischen Abkürzung "Fatah" (Sieg, Eroberung) bekannt geworden ist.

Perspektiven der Fatah

Die politische Perspektive der Fatah unterschied sich in einem wesentlichen Punkt von der anderer palästinensischer Strömungen jener Zeit. Die Fatah insistierte auf eine rein palästinensische Führung des Befreiungskampfes und betonte den bewaffneten Kampf. Aus dem Verrat der arabischen Staaten 1948 zog sie den Schluss, dass nur den PalästinenserInnen die Führung des Kampfes anvertraut werden könne und die arabischen Staaten nur eine unterstützende Rolle zu spielen hätten.

In den 1950er Jahren waren der Pan-Arabismus und der Nasserismus am Zenit ihres politischen Einflusses. Der palästinensische Nationalismus war demgegenüber selbst unter den PalästinenserInnen eine Minderheitsströmung.

Schon Amin al-Husseini war zu seiner Zeit mit den pan-arabischen Ambitionen der Haschemiten-Dynastien im Irak und in Transjordanien in Konflikt geraten. Diese Ambitionen hatten 1848 auch dazu geführt, dass König Abdallah die PalästinserInnen fallen ließ und die Teilung Palästinas mit den Zionisten nutzen wollte, um die Westbank einem zukünftigen "Großsyrien" einzuverleiben.

Husseinis Politik brachte die Interessen der palästinensischen Handelsbourgeoisie und Großgrundbesitzer zum Ausdruck, die wie auch die Zionisten die soziale Revolution und auch die Bevormundung durch die arabischen Staaten fürchteten. Auch Arafats politische Haltung brachte die Interessen der palästinensischen Bourgeoisie zum Ausdruck - einer Bourgeoisie, die in den 1950er und 60er Jahren bereits über etliche arabische Staaten verstreut war und vom Entgegenkommen der dort herrschenden Eliten abhängig war; einer Bourgeoisie, ohne eigenes Land und ohne eigenen Staat, in dessen Rahmen sie "ihre" Arbeiterklasse hätte ausbeuten und alle Merkmale der Führung einer modernen bürgerlichen Nation hätte entwickeln können.

Die bürgerliche Basis der Politik der Fatah drückt sich von Beginn an im Fehlen jedes konkreten sozialen Programms aus - und das selbst in einer Zeit, als Teile der arabischen Bourgeoisien auf Populismus und "arabischen Sozialismus" machten.

Es ist kein Zufall, dass Arafats erste Auslandsbasis Kuwait war. Rund eine Viertel der dortigen Bevölkerung war palästinensischer Herkunft. Die palästinensischen Kapitalisten spielten außerdem eine wichtige Rolle dabei, das rückständige Scheichtum zu einem wichtigen Ölproduzenten und internationalen Handelsplatz zu machen. Ähnliches traf später auch auf Beirut, die Hauptstadt des Libanon zu, wo die palästinensischen Kapitalisten zwar eine untergeordnete, aber im Verhältnis zu ihrer Größe gewichtige Rolle spielten.

Fatah begann offiziell am 1. Januar 1965 den bewaffneten Kampf gegen Israel. Aber die Niederlage der arabischen Armeen im Sechstagekrieg 1967 und die Besetzung der Westbank und Gazas zerstörten nicht nur den Mythos des Nasserismus und des Pan-Arabismus - sie schienen auch Arafats Perspektive Recht zu geben, sich nur auf die Kraft der PalästinenserInnen zu verlassen.

Die PLO - ursprünglich von den arabischen Regimen zur Kontrolle des Kampfes der PalästinenserInnen gegründet - wurde von der Fatah übernommen. Sie wurde von den arabischen Staaten und vielen Ländern der "Dritten Welt" als "einzige legitime Vertretung des palästinensischen Volkes" anerkannt.

Arabischer Nationalismus

Arafat geriet in den 1970er und 1980er Jahren mit Jordanien, Syrien und Ägypten politisch in Konflikt, da seine Bewegung die Interessen dieser Staaten zu gefährden drohte. Schon in den 1980er Jahren steigerte die PLO-Führung um Arafat ihrer Bemühungen, eine Zweitstaatenlösung durchzusetzen, die von den imperialistischen Mächten - den USA und den wichtigsten europäischen Staaten - vermittelt werden sollte, indem diese Israel zur Anerkennung und zu Verhandlungen mit der PLO zwingen sollten.

Aber diese Versuche scheiterten immer wieder daran, dass die USA und Israel darauf bestanden, dass die PLO zuerst "den Terrorismus verurteilen" müsse - also aufhören müsse, die Aktionen des Palästinensischen Widerstandes zu verteidigen. Sie scheiterten aber auch daran, dass die arabischen Regime - vor allem Jordanien und Ägypten - bereit waren, ohne Rücksichtnahme auf die PalästinenserInnen einen Separatfrieden mit Israel auszuhandeln. Und sie scheiterten daran, dass die Exilführung der PLO in Tunis immer weniger direkte Kontrolle und Einfluss über den Widerstand in den Besetzten Gebieten hatte.

Der Aufstand der PalästinenserInnen 1987, die erste Intifada, überraschte die PLO-Führung. Sie sah in der Intifada eine potentielle Gefahr für die Führungsrolle der PLO. Aber Arafat verstand es, den Aufstand für seine eigenen Zwecke zu nutzen. Die erste Intifada stieß gerade deshalb an ihre politischen Grenzen, weil ihr eine alternativen Strategie und Führung zur PLO-Spitze fehlten.

Arafat benutzte die Intifada, um den USA und der EU die "Gefahren" einer ungelösten Palästinafrage vor Augen zu führen. Er knüpfte außerdem am Interesse der USA an, den Nahen Osten nach dem Golfkrieg 1991 neu zu ordnen. Vor allem aber nutzte er die Erschöpfung der palästinensischen Massen, um ihnen die Osloer Verträge von 1993 - eigentlich ein einziges Desaster für die PalästinerserInnen - als Erfolg zu verkaufen.

Das Osloer Abkommen von 1993 war eine Niederlage und ein Verrat an den PalästinenserInnen. Die PLO erkannte den Staat Israel an und stimmte zu, grundlegende demokratische Forderungen wie das Recht auf Rückkehr der vertriebenen PalästinenserInnen und die Klärung des endgültigen Status eines zukünftigen Palästinenserstaats - die Frage seiner Grenzen, seines Territoriums, der Kontrolle über Bodenschätze, Wasser, Luftraum - zu vertagen. Israel verpflichtete sich nicht einmal zur Beendigung der Besetzung von Gaza und Westbank.

Israel erkannte die PLO allerdings als Verhandlungspartner an und erlaubte es ihr, die Kommunalverwaltung einer verarmten palästinensischen Gesellschaft zu übernehmen. Die neu geschaffene Palästinensische Autonomiebehörde wurde von Israel permanent unter Druck gesetzt, den "Terrorismus zu bekämpfen" und "Israels Sicherheit zu garantieren". Gleichzeitig nutzte Israel das Ende der Massenmobilisierungen dazu, sich weiteres Land anzueignen und in einem atemberaubenden Tempo neue Siedlungen in den Besetzten Gebieten zu errichten.

Arafat kehrte trotz allem im Triumphzug nach Gaza zurück. Das Osloer Abkommen wurde den Massen als "Sieg" präsentiert, da man den historischen Unterdrücker zu einem "Friedensprozess" gezwungen hätte. Gleichzeitig wurden palästinensische KritikerInnen und DissidentInnen von der Autonomiebehörde verfolgt und ins Gefängnis gesteckt. Die Autonomiebehörde übernahm also im wahrsten Sinne des Wortes Aufgaben, die früher die israelischen Sicherheitskräfte besorgt hatten - teils, um dem israelischen Staat die eigene "Verlässlichkeit" zu demonstrieren, teils, um missliebige KritikerInnen zum Schweigen zu bringen. In dieser Situation begann auch die reaktionäre Hamas-Bewegung aufgrund des zunehmenden Unmuts der PalästinserInnen über die PLO-Politik, rasch anzuwachsen.

Die israelische Regierung unter Barak hatte nicht nur den Siedlungsausbau vorangetrieben, sondern forderte von den PalästinenserInnen weitere Zugeständnisse. Der provokante Auftritt Scharons vor der Al Aksa Moschee in Jerusalem brachte des Fass zum überlaufen: im September 2000 brach die zweite Intifada aus. Scharon wurde israelischer Ministerpräsident. Nun geriet Arafat mehr und mehr zwischen die Fronten. Bis zu seinem Tod manövrierte er als eine mit immer weniger realer Macht ausgestattete Symbolfigur zwischen Intifada, den verschiedenen palästinensischen Fraktionen, den verschiedenen imperialistischen Mächten und dem Zionismus.

Arafats Tod kommt der US-Administration von Bush trotzdem gelegen, da in ihren Augen damit ein weiteres Hindernis für die Durchsetzung eines "Friedens" zu israelischen Bedingungen weg ist. Für die Imperialisten bestehen Arafats Verbrechen darin, dass er nicht bereit oder in der Lage war, sich jedem Diktat bis zum bitteren Ende zu beugen - und sei es nur, um seine Rolle als Führungsfigur aller PalästinenserInnen, die gewissermaßen über den verschiedenen Fraktionen steht, spielen zu können. Die Imperialisten und der zionistische Staat griffen Arafat als Symbol des Widerstandswillens der palästinensischen Massen an, als Ausdruck der Tatsache, dass sich die PalästinenserInnen nicht einfach in ihr "Schicksal" fügen.

Die liberalen bürgerlichen Strömungen in den USA sowie die Mehrzahl der europäischen bürgerlichen Kräfte ziehen einen andere Bilanz als Bush oder Scharon. Für sie kommt der Tod Arafats einer politischen Katastrophe gleich, weil damit eine "unersetzbare" Führungsfigur verloren gegangen ist, die dem palästinensischen Volk einen "Frieden" verkaufen wollte, der nur zu einem kaum überlebensfähigen und wirtschaftlich von Israel abhängigen Staatsgebilde hätte führen können. Anders als die USA und Israel versuchten der europäische Imperialismus und Russland weiter, an der Strategie von Oslo festzuhalten. Sie trauern nicht um Arafat als Symbol des Befreiungskampfes, sondern um den Verräter Arafat.

Arafat war in der Lage, sich trotz zahlreicher Niederlagen, Verrätereien, Rückschläge usw. jahrzehntelang an der Spitze der PLO zu halten, ja zu einer Führungsfigur zu werden, die scheinbar über den verschiedenen Fraktionen und Klassen des palästinensischen Volkes stand.

Die konkurrierenden Nachfolgekandidaten aus der Fatah vertreten im Grund eine ähnliche politische Strategie wie Arafat. Sie repräsentieren nur verschiedene Aspekte der Figur Arafats - der Intifada-Führer Barghouti mag bei den Massen als populärerer Rebell erscheinen, die Sicherheitschefs der Autonomiebehörde Jibril Rajoub und Mohamemed Dahlan werden mit ihrem Apparat "besser" gegen jede Opposition unter den PalästinenserInnen vorgehen; die Premierminister und Chefverhandler Ahmad Qurei sowie sein Vorgänger Mahmoud Abbas mögen die Wunsch"partner" Israels und der USA sein. Aber nur Arafat konnte diese verschiedenen Rollen in einer Person vereinen. In diesem Sinn ist er wirklich unersetzbar.

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Nr. 96, Dez 2004/Jan 2005

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