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Gesundheitsreform

OP gelungen, Patient tot

Jürgen Roth, Neue Internationale 96, Dez 2004/Jan 2005

Am 15. November beendeten CDU und CSU vorerst ihren Streit um die "Stabilisierung" der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). CSU-Vize Seehofer, der den Vorschlag für sozial unausgewogen hält, wurde zum Bauernopfer dieser Einigung und trat von seinen Ämtern zurück.

Was sind die Eckpunkte?

Jede/r Versicherte soll eine persönliche Kopfpauschale von 109 € zahlen. Weitere 60 € pro Kopf fließen aus den eingefrorenen "Arbeitgeber"beiträgen.

Der "Arbeitgeber"beitrag soll bei 6,5 % des Bruttoeinkommens eingefroren werden und über eine Clearingstelle an die Kassen fließen, anstatt - wie ursprünglich von der CDU gefordert - an die Versicherten ausgezahlt zu werden, die darauf noch Lohn- bzw. Einkommensteuer hätten zahlen müssen.

Die Kopf-Pauschale soll nicht mehr als 7 % des Einkommens betragen. Ein/e RentnerIn mit 1000 € Einkommen zahlt demnach 70 €. Die Bedürftigkeitsprüfung durch das Finanzamt erfasst nun aber auch weitere Einkünfte z.B. aus Vermietung. Der Einnahmeausgleich in Höhe von rund 16 Mrd. € soll nicht mehr aus Steuermitteln erfolgen, wie es die CDU auf ihrem letzten Parteitag beschloss, sondern aus den "Arbeitgeber"anteilen.

Kinder sollen weiter kostenlos versichert bleiben. Die Deckungssumme in Höhe von 15 Mrd. € jährlich wird zumindest anteilig aus Steuermitteln gestiftet. 7 Mrd. € würden dadurch frei, dass die Union den Spitzensteuersatz nur noch auf 39 % statt 36 % senken (!) wollen, der Rest soll wieder aus dem "Arbeitgeber"topf stammen.

Die beitragsfreie Mitversicherung von EhegattInnen soll wegfallen. Auch hier gilt aber die 7 %-Klausel. Die Union verspricht, dass niemand stärker als bisher belastet, Familien mit mittlerem Einkommen sogar entlastet würden. Ohne die Beitragszahlerbasis zu verbreitern, sollen Spitzensteuersatz und "Arbeitgeber"beitrag gesenkt werden; letzterer liegt im Moment bei 7,2 % - und da spricht die Union von Beitragsentlastungen! Dies ist entweder ein putziges Rechenkunststück oder geht mit dem Gedanken schwanger, die GKV auf eine Minimalversicherung abzubauen, weitere Leistungen zu streichen, die Zuzahlungen zu erhöhen und bisher abgedeckte Bereiche privat zu versichern.

Ein Wunder soll auch durch mehr Konkurrenz unter den Kassen erreicht werden. Merkel verhehlt aber nicht, dass infolge der "Kostenentwicklung" im Gesundheitswesen auch höhere Beiträge möglich sein könnten, die dann natürlich nicht mehr formell paritätisch zwischen "ArbeitnehmerInnen" und "ArbeitgeberInnen" geteilt werden könnten.

Bürgerpauschale

Der "Wirtschaftsweise" Bert Rürup berät sowohl Regierung wie Opposition. Sein Modell einer Bürgerpauschale versucht, zum Gefallen des Kanzlers den Unionskompromiss mit der von Rot-Grün angestrebten Bürgerversicherung zu verknüpfen. Die von der Union favorisierte Kopfpauschale erscheint ihm angesichts der zu erwartenden Konjunktur- und Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen nicht kostendeckend.

Wie die Bürgerversicherung soll die neue Pauschale die Grenzen zwischen privater Krankenversicherung (PKV) und GKV aufheben, indem sie eine Pflichtversicherung für alle wird, also auch für BeamtInnen und Selbstständige. Gleichzeitig soll sie wie die Kopfpauschale die Beiträge vom Einkommen abkoppeln. Kinder werden beitragsfrei mitversichert. Der "Arbeitgeber"beitrag wird als Bruttolohn ausgezahlt. Sozialausgleich erfolgt erst, wenn die Pauschale 13 % des Bruttoeinkommens übersteigt.

Knapp die Hälfte der dafür benötigten 30 Mrd. € käme durch eine Versteuerung der bisherigen "Arbeitgeber"beiträge (durch die LohnempfängerInnen natürlich) wieder herein, der Rest könne durch eine Mehrwertsteueranhebung um knapp 2 % abgedeckt werden. Die defizitäre Pflegeversicherung soll in ein kapitalgedecktes Modell übergeleitet, also privatisiert, oder durch eine Kopfpauschale von 25 €/Monat finanziert werden.

Dauerkrise der GKV

Die etablierten Parteien und ihre Medienzöglinge hämmern es uns tagtäglich ein, dass die Kostenexplosion im Gesundheitswesen weitere Einsparungen erzwinge. Die Statistik weist dagegen nach, dass der Kostenanteil der GKV am Bruttoinlandsprodukt seit 25 Jahren nahezu konstant bei 6% liegt. Der durchschnittliche Beitragssatz ist dagegen von 1970 (8,2 %) bis heute (14,3 %) stark gestiegen. Die Ursachen dafür? Einnahmenverfall durch Arbeitslosigkeit, Ausweitung des Niedriglohnsektors und Lohnraub!

Bei der aktuellen Gesundheits"reform" geht es auch gar nicht um eine generelle Kostensenkung, schon gar nicht zu Lasten des expandierenden privaten medizinisch-industriellen Komplexes, sondern nur um die Senkung der Lohn"neben"kosten, also eigentlich von Lohnbestandteilen.

Schon heute bezahlen PatientInnen aufgrund von Leistungskürzungen und durch Zuzahlungen zwei Drittel der Gesundheitskosten aus der eigenen Tasche. Von "Parität" zwischen Lohnarbeit und Kapital - ohnehin eine der Sozialpartnerschaft zugrunde liegende ideologische Verwirrung - kann immer weniger die Rede sein!

Selbst diese drastischen Reformen aber reichen den Herrschenden nicht mehr aus.

Heute sind alle abhängig Beschäftigten, deren Bruttomonatslohn oder -gehalt nicht über ca. 3900 € liegt, in der GKV pflichtversichert. Eine Ausweitung der solidarischen Finanzierung auf weitere Bevölkerungsteile, wie mit der Bürgerversicherung geplant, klingt da beim ersten Hinhören doch gerechter, v.a. sozialer als die Kopfpauschale, denn der Beitragssatz soll sich wie bisher nach dem Einkommen richten. Wo sind da die Pferdefüße versteckt?

Erstens würde die Bürgerversicherung die "paritätische Finanzierung" durch die KapitaleignerInnen weiter einschränken, also das Kapital entlasten.

Zweitens ist unklar, inwieweit Besserverdienende überhaupt stärker bluten müssen. Wird die Beitragsbemessungsgrenze nur leicht angehoben, zahlen nur ArbeiterInnen und Angestellte mit Besitz von ein paar Aktien oder geringfügig die Grenze überschreitendem Einkommen drauf. Wird die Versichertenpflichtgrenze nicht abgeschafft, müssen sich Gutverdienende weiterhin gar nicht in der GKV versichern!

Drittens soll die Bürgerversicherung eine stärkere Trennung der Leistungen in (abgedeckte) Grund- und Wahlleistungen (abzusichern über Zusatzversicherungen bei privaten oder gesetzlichen Kassen) einleiten und damit den Weg in die Zwei-Klassen-Medizin ebnen.

Linke Antworten…

In Anbetracht der wirklichen Absichten der herrschenden Klasse ist es geradezu skandalös, wenn weite Teile der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) den Gedanken einer Bürgerversicherung geradezu enthusiastisch und kritiklos aufgreifen!

Diesen Vorwurf kann man der Sozialistischen Alternative Voran (SAV) und v.a. dem Revolutionär-sozialistischen Bund (RSB) nicht machen. Beide fordern eine Aufhebung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen, eine einseitige Erhöhung der Krankenkassenbeiträge für die UnternehmerInnen, Progressivsteuern auf die Gewinne der Pharmaindustrie und die Gehälter der überbezahlten Spitzen in Krankenhäusern, -kassen usw., ferner die Zusammenfassung aller Kassen zu einer öffentlichen Einheitsversicherung.

Insbesondere der RSB, andeutungsweise in einigen Artikeln auch die SAV fordern darüber hinaus eine Verstaatlichung des medizinisch-industriellen Komplexes. Der RSB skizziert außerdem in Umrissen, wie ein durchaus kostengünstiges Gesundheitswesen unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und BenutzerInnen aussehen könnte. Doppeluntersuchungen und teure Kleinunternehmen in Form von Arztpraxen und Apotheken, alles andere als flächendeckend übers Land verteilt, könnten vermieden werden, wenn Polikliniken mit den Kassen als Trägern und Apothekengenossenschaftswesen rationale Versorgung überall vor Ort betreiben könnten, der Dualismus zwischen niedergelassenem und klinischem Sektor entfallen könnte, wenn alle ÄrztInnen Angestellte der Krankenkassen in Polikliniken und Ambulatorien wären und sich v.a. um vorbeugende Gesundheitsmaßnahmen kümmern würden einschließlich einer diesbezüglichen Erziehung.

Diesen Antworten, die weit über eine Verteidigung des Bestehenden geschweige einer Verschlechterung, die wie die Bürgerversicherung in Geschenkverpackung daherkommt, hinausgehen, können auch wir zustimmen.

Wir verweigern uns auch nicht dem gemeinsamen Kampf mit der Masse der reformistisch beeinflussten Arbeiterschaft, die "nur" für die Verteidigung "ihrer" Errungenschaften oder - noch weniger - gegen die schlimmsten Konterreformen zu handeln beginnen. Hier rennen wir aber bei SAV und RSB sicher offene Türen ein.

…sind nicht immer revolutionär-kommunistisch

Aber vor allem die SAV hat weder eine Vorstellung von einer Revolution, die den bürgerlichen Staatsapparat gewaltsam zerschlagen muss, noch von Arbeiterkontrolle - über den verstaatlichten medizinisch-industriellen Komplex, das öffentliche Gesundheitswesen allgemein sowie insbesondere der Einheitskasse.

Die UnternehmerInnen müssen aus den Aufsichtsgremien der Kassen verjagt werden. Die "Arbeitgeber"anteile sind (Kollektiv-) Löhne, die vom Staat der Kontrolle der Lohnabhängigen über ihre Verwendung entzogen werden. Also muss auch der Staat seines Einflusses über das Sozialversicherungswesen beraubt werden. Nur das organisierte Proletariat darf sich Kontrolleur, Manager und Besitzer seines Lohnfonds nennen! Statt dessen schwebt der SAV eine Art Drittelparität in den Staatsunternehmen aus Gewerkschaften, Beschäftigten, NutzerInnen sowie dem bürgerlichen Staat vor. Das ist eine Art sozialpartnerschaftliches Mitbestimmungsmodell unter Ägide der Regierung und der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratie statt Arbeiterkontrolle. Letztere kann aber nur durchgesetzt werden, wenn sie mit der Errichtung eines Arbeiterstaats und der Zerschlagung des bürgerlichen Staates verbunden ist.

Genau hier verfehlen RSB und SAV aber ihre Aufgaben als revolutionäre Avantgarde: gegen alle Illusionen innerhalb der Klasse anzukämpfen, welche die Perspektive der Revolution zugunsten einer illusorischen Lösung im "kontrollierten" kapitalistischen Diesseits aufgeben oder mindestens unterordnen.

Die Notwendigkeit des Kommunismus zeigt sich ganz plastisch an Folgendem. Eine kommunistische Gesellschaft würde das Gesundheitswesen nicht nur planen, sondern auch dessen im Kapitalismus für die Lohnabhängigen notwendige Finanzierung durch einen direkten, demokratisch geplanten, gesellschaftlichen Fonds materieller Ressourcen ersetzen.

Solange Kapitalismus existiert, ist überhaupt nichts sicher, auch nicht eine Finanzierung der GKV, wenn alle Teil- und Übergangsforderungen der beiden zentristischen Organisationen durchgeführt wären. Krieg, Inflation, Massenarbeitslosigkeit, Investitionsboykott, Kapitalflucht, Betriebsschließungen - kurz: die Folgen der Produktion für den Mehrwert, die Marktanarchie, das Wertgesetz blieben nach wie vor bestimmende Faktoren, solange sie nicht außer Kraft gesetzt sind. Unsere Forderung für die Finanzierung der Gesundheitsfürsorge im Kapitalismus lautet deshalb auch nicht einfach: die Unternehmeranteile gehören den ArbeiterInnen, sondern starke Progressivsteuer. Dazu muss das Proletariat das Geschäftsgeheimnisse lüften und Kontrollkomitees zur Erfassung der Sach- und Vermögenswerte von Personen und Firmen sowie der Wertschöpfung der Betriebe bilden.

Diese Forderung hat ihren tieferen Sinn. Sie verknüpft die Arbeiterkontrolle über das Gesundheitswesen mit der Kontrolle des gesamten Wirtschaftsgeschehens und bereitet so das Proletariat systematisch auf die Machteroberung und die Aufgaben der Leitung der Planwirtschaft vor.

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Nr. 96, Dez 2004/Jan 2005

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