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Von der Demo zum Massenstreik

Agenda kippen!

Markus Lehner, Neue Internationale 85, November 2003

Das Zustandekommen der bundesweiten Demo am 1. November gegen die Agenda 2010 ist ein Schritt vorwärts. Angesichts des Umfangs der Angriffe - z.B. fällt allein aufgrund der eben beschlossenen Hartz-Gesetze für etwa 700.000 Erwerbslose jegliche Unterstützung weg! - wäre ein Sturm des Protestes zu erwarten.

Lange genug hat jedoch die Gewerkschaftsführung jeden ernsthaften Protest totlaufen lassen und die Mobilisierungen gestoppt, bevor sie richtig beginnen konnten. Nachdem Sommer & Co sich Ende Mai von jedem Protest zurückzogen und unverhohlen Kapitulationserklärungen abgaben, ist es dem Druck von unten und der Selbstorganisation vieler Betroffener zu verdanken, dass es nun doch noch eine bundesweite Protestdemonstration gegen den Sozialraub der Regierenden gekommen ist.

Wir alle wissen, dass eine solche Demonstration zwar wichtig ist zur Sammlung des Widerstands - die Agenda kippen werden aber auch viel größere Demos nicht. Die gegenwärtige Angriffwelle von Kapital und Kabinett kommt schließlich nicht aus bösem Willen, sondern entspringt der aktuellen Krise des Kapitalismus und der verschärften Weltmarktkonkurrenz.

Rolle der Bürokratie

Die Agenda und die anderen Angriffe können letztlich nur durch flächendeckende politische Massenstreiks und ihre Unterstützung durch eine Bewegung aller Lohnabhängigen, aller von den Kürzungen betroffener zu Fall gebracht werden. Daher ist die Frage der Mobilisierung in den Betrieben, die Verbindung von (noch) Beschäftigten mit den Erwerbslosen und Jugendlichen zentral.

Trotz einer beispiellosen Welle von Beschlüssen gewerkschaftlicher Gremien hat die Bürokratie nur halbherzig für die Demonstration aufgerufen. So kam es z.B. auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall nur zu einer Formulierung der Art "die IG Metall begrüßt eine möglichst zahlreiche Teilnahme ihrer Mitglieder an der Demonstration". Zwischen "begrüßen" oder selbst mobilisieren ist freilich ein Unterschied!

Während Peters, Bsirske & Co mehr oder weniger wortradikal den unsozialen Charakter von Regierungspolitik und Oppositionsvorschlägen geißeln, vermeiden sie die offensive Organisierung von Protest. Die Anträge auf den Gewerkschaftstagen zu politischen Streiks oder Generalstreiks wurden abgelehnt (zum Teil mit pseudo-radikalen Versprechungen: "so was kündigt man nicht an, man macht es").

Als Begründung dieser Politik des vorsichtigen Gasgebens bei angezogener Handbremse wird oft die Schwierigkeit der "Mobilisierbarkeit der Basis" herangezogen. Dies war ja auch schon die Masche bei der "Sommer-Pause". Diese Begründung offenbart in Wirklichkeit den unpolitischen, borniert-reformistischen Charakter selbst der widerstandswilligen BürokratInnen.

Natürlich ist es nicht verwunderlich, dass eine jahrelang entpolitisierte Basis in einer Situation, in der die gesamte bürgerliche Öffentlichkeit und etablierte Politik der "Unvermeidlichkeit", "Alternativlosigkeit bei Strafe des Untergangs" der Sozialkahlschlag-Politk das Wort redet, sich nicht auf Knopfdruck zu einer Massenbewegung formiert. Noch dazu, wenn zentrale Teile der Führung der Gewerkschaften erkennbar eine solche Bewegung gar nicht wollen und immer noch auf die Rückkehr der Politik zur "Vernunft" und den "guten alten Kompromisszeiten" hofft. Das heißt: zu einer wirklichen Mobilisierungs, mit überzeugender Gegenperspektive ist diese Gewerkschaftsführung nicht in der Lage!

Umgekehrt erweist sich die Ausdünnung der aktiven Basis (z.B. Tendenz der IG Metall zur Betriebsrätegewerkschaft) und der Mangel an wirklich politisch erfahrenen Basisgruppen (oder Vertrauensleutekörpern) als zentrale Schwierigkeit, um die Gewerkschaftsbasis jenseits der Tarifbewegungen für politische Themen auf die Straße zu bringen.

Dazu kommt eine in den Kernbelegschaften, trotz oder auch wegen der immer heftiger werdenden Angriffe auch auf diese, um sich greifende Unsicherheit über die notwendige Antwort. Die Belegschaften sind darüber gespalten - abhängig von der jeweiligen gewerkschaftlichen Grundstruktur. Während ein Teil immer noch der "Standort-Sicherungspolitik" der Betriebsrats/Co-Management-Bürokratie folgt und deshalb keine Widerstandsperspektive sieht, steht auf der anderen Seite die Wut über die Angriffe und gegen den Sozialkahlschlag.

Gerade jetzt braucht es eine Führung, die entschlossen um die Herzen und Hirne der KollegInnen kämpft, eine Alternative zur herrschenden Politik aufzeigt und eine Perspektive des Widerstands weist!

Leere Hoffnungen

All dies können wir von der bestehenden Gewerkschaftsbürokratie nicht erwarten. Ebenso erweisen sich alle spontaneistischen und syndikalistischen Vorstellungen von einer sich automatisch radikalisierenden Basis als Illusion.

Die linksreformistischen Alternativen, wie "Investitionsprogramme", "nachfragewirksame Einkommenspolitik", "Bürgerversicherung", "Geld ist genug da" etc. haben längst ihre Glaubwürdigkeit verloren. Sie taugen weder dazu, um zu einem "krisenfesten" Kapitalismus (genauer gesagt: zu einer Aufschwungphase) zurückzukehren, noch eine Kampfperspektive zu weisen, um die elementaren Interessen der von der Krise Betroffenen zu wahren. Sie sind nichts anderes als das Wiederkäuen von Rezepten, die selbst in den oft beschworenen 70er-Jahren nicht funktioniert haben.

Natürlich gibt es in der heute internationalisierten Krisenlandschaft keine Perspektiven mehr für solche Abfederungs- und Verzögerungsmaßnahmen. "Reformen" sind heute gerade jene brutalen Standortkonkurrenz-Maßnahmen, die die Konkurrenz innerhalb der Klasse verschärften. Es ist kein Wunder, dass beim Großteil der ArbeiterInnen der Begriff Reformen nur noch Misstrauen und Abwehrreaktion auslöst.

Gegen die Realität "kapitalistischer Reform" lässt sich heute weniger denn je eine Perspektive "fortgesetzter radikaler Reformen" setzen - die einzige Antwort kann nur die der Überwindung des Kapitalismus selbst sein, welcher der ungeheuren Mehrheit der Menschheit keine Perspekive auf ein menschenwürdiges Leben und Arbeiten bieten kann!

Diese Perspektive ist für die KollegInnen in den Betrieben und auf der Straße heute natürlich genauso schwer vorstellbar, aber die Bereitschaft zur Diskussion von Systemalternativen ist merklich gewachsen, genauso wie das Bedürfnis, den Abwehrkampf einfach zu beginnen, ganz gleich, was die langfristigen Perspektiven dieses Kampfes sind.

Diesem doppelten Bedürfnis nach dem "endlich anfangen zu kämpfen" und der Diskussion und Erarbeitung von Alternativen zum herrschenden System muss eine politische und organisatorische Form gegeben werden. Die Zusammenfassung des Kampfwillens in einer bundesweiten Demonstration, die von einer Vielzahl von Basis-Organisationen getragen ist, ist dazu ein erster Schritt.

Wie weiter?

Aus diesem Bündnis müssen tragfähige und kämpffähige Strukturen aufgebaut werden. Die nächsten Angriffe sind schon mehr als bloße Schreckgespenster: Arbeitszeitverlängerung, Samstagsarbeit, Angriffe auf den Flächentarifvertrag, Verschlechterungen beim Kündigungsschutz, Sozialhilfe"reform", etc. - all dies erfordert eine Koordinierung und Verschärfung des Protestes auf weitaus höherem Niveau!

Momentan gibt es weder innerhalb noch außerhalb der Gewerkschaften stabile und größere Kampfstrukturen. Weder die Linke in der SPD noch die PDS - umso mehr nach deren letztem Parteitag - sind aktive oder verlässliche Partner für Widerstand. Es existieren aber verschiedene, meist örtlich oder regional agierende, zumeist kleinere Initiativen. Einige Vertrauensleutekörper und Betriebsräte, Teile der Gewerkschaftslinken bis hin zu Teilen der betrieblichen Basis sind neben Anti-Hartz-Komitees, Arbeitsloseninitiativen, Sozialforen und linken Organisationen die Grundlage von Mobilisierungen.

Diese Ansätzen müssen jetzt nicht nur miteinander verzahnt werden; es muss zugleich alles versucht werden, um die Verankerung dieser Initiativen in der betrieblichen Basis, in der Gewerkschaft, bei Arbeitslosen und Jugendlichen zu vergrößern. Wenn dies nicht gelingt, ist trotz allen Bemühens der heute vorhandenen Initiativen eine Ausweitung des Widerstandes, geschweige denn das Zurückschlagen der Angriffe nicht möglich. Letztlich wird die Agenda ohne politische Massenstreiks nicht gestoppt werden können! Diese bedarf es aber auch eine bundesweiter Führung und Koordination. Es geht deshalb jetzt darum, diese aufzubauen.

Was müssen die AktivistInnen des Widerstands - innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften - deshalb unserer Meinung nach tun?

Einberufung von Betriebsversammlungen, örtlichen, regionalen und bundesweiten Aktionskonferenzen, auf denen Kampfziele, konkrete Aktionen und Mobilisierungsschritte beschlossen und demokratisch gewählte und verantwortliche Kampfführungen gebildet werden.

Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung in den und um die Gewerkschaften, die zu einem Attraktionspol für alle Kampfwilligen werden kann. Dabei müssen auch die Bündnisse gegen sozialen Kahlschlag, Anti-Hartz-Bündnisse und Sozialforen zu Strukturen werden, in denen zugleich Aktionen und Diskussionen stattfinden, in denen AktivistInnen, Linke und GewerkschafterInnen zusammen kommen.

Aufstellen klarer Forderungen an Abgeordnete und FunktionärInnen der Gewerkschaften, der SPD und PDS, gegen die Agenda zu stimmen und zu mobilisieren. Ohne Illusionen in deren Bereitschaft zu haben, dienen diese Forderungen jedoch dazu, die reformistischen Führungen zu testen, auf die Probe zu stellen und zu entlarven.

Das gegenwärtige Milieu von AktivistInnen ist dabei jedoch nicht nur Teil der Lösung, sondern oft auch Teil des Problems. Bedeutende Teile des Anti-Agenda-Bündnisses sind froh, wenn der 1.11. vorbei ist, und sie wieder in ihre "gewohnte Umgebung" zurückkehren können: so bei einigen GewerkschafterInnen, die sich dann wieder ihrer "Gremienarbeit" zuwenden wollen; so bei etlichen "Linksradikalen", denen immer schon unklar war, wozu eine Zusammenarbeit mit GewerkschafterInnen (dem "Honoratioren-Klüngel") überhaupt gut sein soll.

Dies ist auch die eigentliche Gefahr an der Affäre rund um die Fragen von Demo-Leitung, RednerInnen-Liste und der Rolle der MLPD in diesem Streit. Die plumpen Versuche der MLPD, die Demo zu dominieren bzw. die Manöver, mit der einige Gewerkschaftsfunktionäre (im Verbund mit DKP und PDS) diesen Versuch abgewehrt haben, führte auf diversen Treffen, e-mail-Listen und Internetseiten zu einer absurden Diskussion, die verschärft an die Sektenauseinandersetzungen aus dem "Leben des Brian" erinnerten (she. dazu Arbeitermacht-Infomail 139).

Dabei muss klar sein: diese Differenzen lassen sich nicht mit einem "Warum können wir nicht alle einig sein - wir sind doch alle gegen Schröders Politik!" einfach beiseite schieben. Sie verweisen vielmehr auf das Problem der Linken, die es seit Jahrzehnten nicht geschafft hat, eine Perspektive des Kampfes gegen die reformistische Vorherrschaft in der Arbeiterklasse zu entwickeln. Stattdessen ist der Kreislauf von sektiererischem Ultimatismus und opportunistischem Hinterherlaufen der Hintergrund endloser, unfruchtbarer Auseinandersetzungen.

Alternative

Dieses Problem lässt sich weder durch "Bewegung" noch durch Selbstreflexions-Diskussionen lösen. Letztlich kann eine Einheit der KommunistInnen mit einer erfolgversprechenden Strategie gegenüber der reformistischen Hegemonie nur auf der Grundlage eines konsequent revolutionären Programms erreicht werden, welches die Frage der aktuellen Kämpfe in methodischer Weise mit der Frage des Kampfes um die Macht und den Sturz des kapitalistischen Systems verbindet.

Nur eine Partei, die sich auf dieser Grundlage herausbildet, wird in der Lage sein, dem Reformismus auf gewerkschaftlicher und politischer Ebene herauszufordern. Nur eine solche Partei wird im Verbund mit der sich selbstorganisierenden ArbeiterInnenklasse eine wirkliche Herausforderung für das kapitalistische System sein!

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Nr. 85, November 2003

*  Von der Demo zum Massenstreik: Agenda kippen!
*  Nach dem Gewerkschaftstag der IG Metall: Waffenstillstand
*  Bildung: Leere statt Lehre
*  Ausbildungsplatzabgabe: Wer nicht ausbildet, zahlt!
*  Die Union und die Sozialreformen: Pest oder Cholera
*  Klassenkampf in Europa: Das Kapital schlägt zu
*  Europäische Antikapitalistische Linke: Weg aus der Sackgasse?
*  Bolivien: Arbeiter und Bauern an die Macht!
*  Palästina: Solidarität mit der Intifada!
*  Heile Welt
*  Europäisches Sozialforum: Paris, wir kommen!