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Europäisches Sozialforum

Verwesung oder Genesung?

Martin Suchanek, Neue Internationale 151, Juli/August 2010

Das Sozialforum ist noch nicht tot, es vermodert nur“, so fasste ein Teilnehmer ironisch-verärgert, das Europäische Sozialforum (ESF) von Istanbul zusammen. Die Bilanz des diesjährigen ESF ist tatsächlich ernüchternd. Mit 2 bis 3.000 TeilnehmerInnen war es das kleinste aller bisherigen Foren. Rund die Hälfte der TeilnehmerInnen kam aus der Türkei und Kurdistan, die andere aus verschiedenen Ländern Europas. Wie immer gab es eine große Bandbreite der Linken des Kontinents - von der Gewerkschaftsbürokratie über reformistische Parteien bis zu radikalen Linken.

Warum so wenige?

Dem ESF fehlte jede Massenbasis. Das lag auch an der schlechten Mobilisierung. Das ESF in Istanbul wurde zwar von einem großen Teil der politischen Linken in der Türkei getragen, von den radikaleren Gewerkschaftsverbänden DISK und KESK sowie von der kurdischen Befreiungsbewegung und vom mesopotamischen Sozialforum. In Istanbul selbst war das ESF jedoch vergleichsweise wenig präsent. Doch die Mitglieder und AnhängerInnen der Gewerkschaften wie der linken Organisationen und der kurdischen Befreiungsbewegung blieben zum größten Teil fern. Auch außerhalb der Türkei war die Mobilisierung schlecht.

Der entscheidende Grund für die geringe Mobilisierung war aber ein anderer. Zu keinem Zeitpunkt war klar, warum tausende AktivistInnen überhaupt kommen sollten, welche Beschlüsse, Initiativen usw. vom Forum ausgehen sollten, die den Kampf gegen die Krise, gegen den Krieg gegen das kurdische Volk oder die imperialistischen Kriege und Besatzungen im Nahen und Mittleren Osten voranbringen sollten?

Viele tauchten einfach nicht auf, weil das ESF und seine lokalen Ableger - darunter auch das Sozialforum in Deutschland - für die meisten aktuellen Kämpfe und Mobilisierungen längst keine Rolle mehr spielen. Auch wenn es momentan der einzige „Raum“ auf europäische Ebene ist, wo Tausende zusammentreffen und hunderte VertreterInnen verschiedener Organisationen die Koordinierung des Widerstandes vorantreiben können, so zeigte sich in Istanbul auch, dass eine große Mehrheit der informellen Führung des ESF, der dominierenden Kräfte aus linken Gewerkschaften, von attac, auf Vereinigungen, die der europäischen Linkspartei nahe stehen usw. das nicht wollen.

Inhalt der Foren

Auf rund einen Drittel der etwa 200 Seminare wurde über die Krise und ihre Ursachen, über Kämpfe berichtet, aber auch über die Frage nach möglichen Alternativen zum Kapitalismus diskutiert. Weitere Schwerpunkte waren die Frage der Angriffe auf das Bildungssystem, auf die Jugend, auf Frauen, der Kampf gegen den imperialistischen Krieg wie auch gegen die zionistische Besetzung Gazas und die Solidarität mit Befreiungskämpfen wie jenen des palästinensischen und kurdischen Volkes.

Immer wieder wurde auf die Notwendigkeit entschlossener Aktionen verwiesen. Die Bewegung gegen die Krise müsse über Demos hinausgehen zu unbefristeten Streiks usw. Der Kampf müsse sich nicht gegen einzelne „Auswüchse“ des Kapitalismus, sondern gegen das kapitalistische System selbst richten, das sich in einer historischen Krise befinde. Daher wurde auch immer wieder der Ruf nach eine internationalen Koordinierung des Widerstandes laut.

Einzelne Versammlungen, an deren Vorbereitung und Durchführung auch die „Liga für die Fünfte Internationale“ (L5I) und REVOLUTION aktiv beteiligt waren, verabschiedeten auch Deklarationen in diese Richtung.

Stillstand und Niedergang

Doch das waren nur Schritte in die richtige Richtung. Wenn das ESF auch politisch radikaler, linker, anti-kapitalistischer und interessanter war als das vorhergehende Forum in Malmö, blieb es angesichts der aktuellen historischen Krise des Kapitalismus weiter hinter den Anforderungen des Klassenkampfes zurück, als fast alle bisherigen.

Das lässt sich am besten an der Abschlusserklärung erkennen, die an Harmlosigkeit und politischer Unverbindlichkeit kaum zu überbieten ist. Sie offenbart das ganze Dilemma des Forums. Man konnte sich gerade darauf einigen, „um“ den 29. September herum etwas zu tun. Was, wofür, für welche Forderungen - all das bleibt offen. So wird die politische Initiative unwillkürlich dem europäischen Gewerkschaftsbund überlassen, statt den 29. September für eine Massenmobilisierung um klare Forderungen gegen die Krise zu nutzen und so den ETUC zu zwingen, über seine eigene lahme Mobilisierung hinauszugehen.

Die L5I hat dazu ein eigenes Forderungsprogramm gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Massen vorgeschlagen: Darin heißt es u.a.:

„(...) Daher ruft die Versammlung der sozialen Bewegungen alle Arbeiterorganisationen, Gewerkschaften und politische Parteien, soziale Bewegungen, die Jugend, Frauen- und Migrantenorganisationen dazu auf, sich in einem gemeinsamen Kampf auf dem ganzen Kontinent zu vereinigen:

Nein zu allen Kürzungspaketen von EU/EZB/IWF! Nein zu allen Kürzungen von Löhnen, Jobs, Renten, von Angriffen auf soziale Leistungen wie Bildung und Gesundheit! Streichung der Schulden von Griechenland und aller anderen Ländern, die durch die Krise und die Finanzmarktspekulation verarmt sind!

Die Banken und großen Konzern müssen für die Kosten der Krise zahlen! Besteuerung der Reichen - nicht der LohnarbeiterInnen und Armen! Konfiskation der Vermögen der milliardenschweren Spekulanten, die die Krise nutzten, um enorme Reichtümer auf Kosten der Armen anzuhäufen! Um die Spekulation mit Devisen, Staatsanleihen und an den Aktienbörsen zu stoppen, müssen wir die Kontrolle über das Finanzssystem den privaten Unternehmen und Investment-Fonds entreißen. Entschädigungslose Enteignung der Banken und Finanzinstitutionen unter Arbeiterkontrolle! (...)

  von Anti-Krisen-Komitees und Bündnissen in jeder Städten oder Region und deren landesweite und internationale Koordinierung! Alle Gewerkschaften, alle Arbeiterorganisationen und -parteien, alle sozialen Bewegungen sollten sich solchen Aktionskomitees anschließen und gemeinsam direkte, kämpferische Aktionen organisieren: Massendemonstrationen, Solidaritätsaktionen in den Betrieben und Büros, Besetzungen, politische Massenstreiks!

Die Abschlussversammlung des ESF in Istanbul schafft eine europaweite Koordinierung der Kämpfe gegen die Krise! Als ersten Schritt werden wir einen europaweiten Aktionstag mit Streiks und Massendemonstrationen gegen die Kürzungen und die Austeritätspakete im September 2010 organisieren!“

Wir schlugen vor, den 29. September zu einem solchen Tag zu machen. Das wurde u.a. mit dem Hinweis abgelehnt, dass der Text „nicht in der Sprache des ESF“ verfasst sei. Das ist allerdings wahr! Wenn die „Sprache des ESF“ darin besteht, nichtssagende Formeln anzunehmen, so muss es eine Ende haben mit dieser „Sprache“.

Das ESF muss mit seiner reformistischen Ausrichtung und Unverbindlichkeit brechen, wenn es einen wirkungsvollen Beitrag zum Kampf leisten will. Sonst - das hat Istanbul gezeigt - stirbt das ESF. Ob es genesen kann, ist fraglich. Das wäre nur möglich, wenn es einen realen Beitrag leistet zum Kampf für ein Aktionsprogramm gegen die Krise, zur europaweiten, klassenkämpferischen Mobilisierung.

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Nr. 151, Juli/Aug. 2010
*  Politische Lage: Regieren in der Krise
*  Heile Welt
*  Krisenfolgen: Kommunaler Kollaps
*  Alternative: Gewerkschaftsbürokratie fordert Ausschluss
*  Protest gegen Stuttgart 21: Oben bleiben!
*  6.-8. August: Bildungsstreikkonferenz
*  NRW und die Politik der Linkspartei: Bock oder Gärtner?
*  Frauenunterdrückung und Hausarbeit: Aschenputtels Arbeit
*  Kolonialpolitik: Weisse Herrinnen
*  China: Ein neuer Imperialismus
*  Europäisches Sozialforum: Verwesung oder Genesung?
*  Wahlen in Belgien, Ungarn und den Niederlanden: Stoppt den Vormarsch der Rechten in Europa!