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Die Wasserkrise in São Paulo

Welt ohne Wasser?

Rico Rodrigues, Infomail 811, 5. April 2015

Schon seit Jahren lesen wir immer wieder, dass Wasser weltweit knapp wird, dass Wasser im Laufe des 21. Jahrhunderts so knapp werden könnte, dass sogar Kriege darum geführt werden könnten. Vielleicht ist es eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet im Land mit den größten Süßwasserreserven der Welt, Brasilien, die Millionenstadt São Paulo Anfang 2015 kurz vorm Wasserkollaps steht. Dabei ist diese Krise weit mehr als nur eine Krise des Wassermanagements - es ist eine Krise des Kapitalismus.

Der Verweis auf die riesigen Wasserressourcen von Brasilien ist korrekt, verzerrt aber auch das Bild. 70% des Wassers befinden sich im riesigen Amazonas im Norden, tausende Kilometer von São Paulo im Südosten des Landes entfernt. Der Nordosten Brasiliens dagegen ist ein halbtrockenes Gebiet, und mit ca. 40 Mill. Menschen eines der dicht bevölkertsten der Welt. Dort sind Wasserknappheit und die Rationierung sowie die damit verbundenen Probleme der Bevölkerung ein regelmäßiges Thema. Statistiken zeigen, dass es bereits 2008 in 23% der über 5.000 brasilianischen Gemeinden (dazu zählen auch Städte) regelmäßig Wasserrationierungen gab.

Für viele BrasilianerInnen ist das Thema deshalb nicht neu. Erst jetzt allerdings ist das „Wasserproblem“ zu einem nationalen Problem geworden. Im Südosten und im Süden lebt die Mehrheit der BrasilianierInnen, dort konzentriert sich auch die Industrieproduktion sowie die industrialisierte Landwirtschaft. Es ist das Zentrum des brasilianischen Kapitalismus. Dass ausgerechnet jetzt in São Paulo das Wasser ausgehen soll - undenkbar.

Im Ballungsraum São Paulo leben ca. 20 Mill. Menschen. Etwa 10% der 200-Millionen-Bevölkerung leben auf weniger als 0,1% der Fläche des Landes. Im Bundesstaat São Paulo leben 42 Mio. Menschen und es wird ca. ein Drittel des BIP Brasiliens dort erwirtschaftet.

Doch die aktuelle Wasserkrise ist nicht auf den Südosten und São Paulo beschränkt. Im Oktober 2014 waren bereits 70 Städte im Bundesstaat São Paulo von Wasserknappheit betroffen. Im benachbarten Minas Gerais wird ebenfalls von einer schlimmen Krise gesprochen. Auch in Rio de Janeiro, mit ca. 11 Mio. EinwohnerInnen nach São Paulo die zweitgrößte Stadt Brasiliens, wird die Situation zunehmend kritisch.

Die Krise

São Paulo und der Südosten sind - im Gegensatz zum Nordosten - eigentlich keine wasserarmen Gebiete. Drei entscheidende Faktoren kommen zusammen, die für die aktuelle Misere ausschlaggebend sind. Erstens eine extreme Konzentration der Bevölkerung. Zweitens eine periodische Dürre, 2014 war eines der trockensten Jahre in den Aufzeichnungen seit 1961. Und drittens - das Entscheidende - ein komplettes Versagen der Politik.

Im Ballungsraum São Paulo beträgt der Wasserbedarf etwa 69 m³/s, oder 65.000 Liter/s. Das ist extrem viel. Die Wassergesellschaft, SABESP, wurde bereits 1994 teilprivatisiert. Sie ist seitdem eine Aktiengesellschaft, die Aktien in São Paulo und New York verkauft. Die Regierung des Bundesstaats São Paulo hält 50,3% der Aktien.

Der Governeur Alckmin, von der rechten Oppositionspartei PSDB, schiebt alle Probleme auf die Dürre. Dabei ist diese ein periodisches Phänomen im Südosten, das seit langem bekannt ist. Schon 2004 wurde es kritisch mit der Wasserversorgung in São Paulo. Seit damals wurde in vielen Gutachten und Beiträgen darauf aufmerksam gemacht, dass es dringend Investitionen in eine Ausweitung der Wasserversorgung und der Abwasserbehandlung sowie Maßnahmen zur Reduzierung der Verluste braucht. Doch auch zehn Jahre später ist nichts passiert. Dabei hat die SABESP von 2003-13 großzügig ca. 1,3 Mrd. Gewinn an ihre Aktionäre verteilt. 2014, als die nächste Dürre kam, betragen die Wasserverluste im Leitungsnetz immer noch 30-40%. Das entspricht etwa 20-28 m³/s. Zum Vergleich: Ganz Berlin verbrauchte 2013 im Schnitt 6,2 m³/s!

Ein weiteres Problem ist die Abwasserbehandlung. Eigentlich ist genug Wasser vorhanden. Doch das Abwasser ist so verschmutzt, dass es nicht oder nur nach teurer Behandlung für die Trinkwasserversorgung verwendet werden kann. Das riesige Reservoir Billings im Süden der Stadt kann nicht verwendet werden, weil über Jahrzehnte giftige Industrieabwässer eingeleitet wurden. Die übrigen Flüsse sind Abwasserkanäle. Die Abwasserbehandlung im Ballungsraum beträgt heute nach wie vor nur ca. 1/3.

Das Problem zieht aber noch weitere Kreise. Die Abholzung der Vegetation um Flüsse und besonders um Quellen verhindert die natürliche Rekuperation (Erneuerung) der Wasserversorgung und setzt die Flüsse einer erhöhten Verschmutzung aus. Das Reservoir Cantareira im Norden von São Paulo, als wichtigstes Reservoir für die Versorgung von 6,2 Mio. Menschen zuständig, ist am meisten von der Krise betroffen. Die Abholzung im umliegenden Gebiet, die bis zu 80% der Vegetation vernichtet hat, verschärft die Krise.

Auch die extreme Wohnungsnot und die hohen Mieten haben ihren Anteil. Die Ufer des zweitwichtigsten Reservoirs Guarapiranga im Süden der Stadt sind von Favelas umringt. Eigentlich sollte dort niemand wohnen, weil es ein Wasserschutzgebiet ist. Doch die Verdrängung der ärmeren Bevölkerung zunächst vom Land durch die Agro-Kapitalisten und dann aus dem Stadtzentrum durch Immobilienspekulation lässt vielen Armen keine andere Wahl. Zu allem Überfluss werden jetzt gerade diese Menschen Anfeindungen ausgesetzt, als wären sie Schuld an der Situation.

Im Wahljahr 2014 war offiziell keine Rede von Wasserrationierung. Nachdem der Gouverneur Alckmin im Oktober allen Skandalen zum Trotz wiedergewählt wurde, verkündete er Anfang des Jahres, dass es zu einer Rationierung von bis zu 5 Tagen pro Woche ohne Wasser kommen könnte. Was dann in São Paulo passiert, weiß niemand.

Verbrauchen „die Menschen“ zu viel?

Die Wasserkrise zeigt klar, dass es sich um ein komplettes Versagen der kapitalistischen Verwaltung der Wasserversorgung handelt - selbst in kapitalistischem Sinn. Der einzelne Kapitalist profitiert zwar vom kostenlosen Einleiten seiner Industrieabwässer und davon, dass er keine Steuern für den Ausbau von Wasserversorgung und Abwasserbehandlung zahlen muss. Aber die Bourgeoisie als Klasse hat kein Interesse daran, die Wasserreserven komplett zu zerstören. Die Wasserkrise in São Paulo ist gerade deswegen ein so großes Problem in Brasilien, weil hier das Herz der Industrieproduktion schlägt. Wenn hier das Wasser ausgeht, sind nicht nur Millionen von Menschen ohne Wasser, es leiden auch die Industrie- und Agroproduktion und damit die Profite.

Gerade deshalb könnte diese Krise dazu führen, dass Privatisierungsbefürworter wieder Morgenluft wittern. Das Problem sei, sagen sie, dass Wasser zu wenig kostet. Deshalb verbrauchen die Menschen zu viel.

Der Pro-Kopf-Verbrauch in São Paulo Stadt liegt bei ca. 220 Liter pro Person und Tag. Das ist mehr als z.B. in Deutschland mit ca. 128 Litern. Aber erstens ist das Klima in São Paulo bedeutend wärmer, zweitens ist das ein Durchschnittswert für eine 21-Millionen-Metropole. D.h. dass hier auch unzählige Geschäfte, Restaurants, kleinere Betriebe etc. mit eingehen. Sicher gibt es Menschen, die zu viel Wasser verbrauchen: die Reichen, die private Swimmingpools haben und ihre Anwesen bewässern lassen. Aber ein bedeutender Teil der Bevölkerung verbraucht mit Sicherheit zu wenig Wasser und sollte vom Standpunkt der öffentlichen Gesundheit und Hygiene aus gesehen sogar mehr Wasser verbrauchen. In jedem Fall haben sie ein Recht darauf! Die Rede, dass „die Menschen“ allgemein zu viel Wasser verbrauchen, lässt die soziale Frage völlig außer Acht.

Dagegen ist es richtig, dass die großen Wasserverbraucher aus Industrie und Landwirtschaft für ihren Verbrauch kräftig zur Kasse gebeten werden müssten. Während die Oberschicht und Teile der Mittelschichten in São Paulo die Wasserpreise für die Armen erhöhen wollen, haben diese Sektoren seit jeher privilegierten Zugang zu Wasserressourcen und bezahlen fast nichts dafür. Der Preis von Wasser ist also auch eine soziale Frage. Die Privatisierung von Wasser führt auch dazu, v.a. die Armen von der Wasserversorgung auszuschließen und Wasser zu einer Quelle des Profits zu machen.

Betroffene organisieren!

Seit Februar regnet es wieder und die Situation hat sich etwas entspannt. Aber die Krise ist noch lange nicht überwunden! Die Regenzeit geht Mitte des Jahres zu Ende und niemand weiß momentan, ob es genug Wasser geben wird, um den Rest des Jahres zu überbrücken.

Um die Wasserkrise u.a. Umweltprobleme zu lösen, müssen v.a. die Betroffenen sowie die ArbeiterInnen in Landwirtschaft und Industrie sich in einer Bewegung zu organisieren, die gegen die Abwälzung der Wasserkrise auf die ArbeiterInnen und die Armen kämpft! Das ist ein breiter Konsens in der Linken.

Die „Bewegung der obdachlosen ArbeiterInnen“, MTST, hat am 27. Februar 2015 15.000 in einer Demonstration zum Wasser-Thema mobilisiert und einige wichtige Zugeständnisse von der Landesregierung erkämpft. Ihre Forderungen waren u.a: Ablehnung einer generellen Erhöhung der Wasserpreise, Beendigung der privilegierten Verträge für Großverbraucher und ein Ende der selektiven Rationalisierung, die die ärmeren Stadtteile von São Paulo betrifft.

An diese Bewegung muss angeknüpft werden! Bedeutende Organisationen, unter ihnen die MTST, sollten ein Bündnis gründen, um weitere Proteste zu organisieren und Druck auf die Regierung auszuüben. Dabei muss die Basis für die Proteste ausgebaut werden und auch die großen Massenorganisationen, wie der Gewerkschaftsverband CUT, zur Unterstützung aufgerufen werden.

Die Bewegung sollte für einen Notfallplan kämpfen, der von Delegierten von Betroffenen und ArbeiterInnen kontrolliert wird und endlich eine transparente Darstellung der Situation ermöglicht. Große industrielle Verbraucher müssen ihren Verbrauch reduzieren, ohne dass deswegen die ArbeiterInnen entlassen werden. Als zweite zentrale Losung sollte die Bewegung für die komplette, entschädigungslose Rückverstaatlichung des Versorgungsunternehmen SABESP kämpfen - aber dieses Mal unter Kontrolle der Beschäftigen und KonsumentInnen. Auf dieser Grundlage kann ein Investitionsplan ausgearbeitet werden, der die Situation auf Dauer verbessert.

Das alles kann natürlich nicht mit der Regierung gemacht werden - weder mit der Regierung des Bundesstaates São Paulo unter der rechten PSDB noch mit der Bundesregierung unter der bürgerlichen Arbeiterpartei PT - sondern nur gegen sie. Die Wasserkrise in São Paulo zeigt v.a.,  dass das brasilianische Entwicklungsmodell, so hoch gelobt in den letzten zehn Jahren, an seine Grenzen gerät und keine Perspektiven bietet. Schließlich muss der Kampf für Umweltgerechtigkeit mit einer sozialistischen Perspektive verbunden werden, die den Weg zu einer Gesellschaftsordnung weist, welche die Lebensbedingungen aller ArbeiterInnen verbessert, ohne Raubbau an den natürlichen Ressourcen.

Denn das grundlegende Problem ist nicht die eine oder andere schlechte Administration - so viel diese auch in einzelnen Fällen zur Zuspitzung der Situation beiträgt - sondern das kapitalistische System.

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