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Gegen die Agenda 2010!

Bewegung von unten

Rex Rotmann, Neue Internationale 86, Dezember 2003/Januar 2004

Berlin, 1. November: Über 100.000 aus allen Teilen der Republik protestieren gegen Schröders Agenda 2010. Die Breite der Beteiligung überraschte auch die OrganisatorInnen, waren doch noch im Frühjahr nur einige Tausend den müden Aufrufen der Gewerkschaftsführung gefolgt. Danach hatte DGB-Chef Sommer nicht weitere Aktionen, sondern eine "Sommerpause" verkündet, die wohl direkt in einen Winterschlaf übergehen sollte.

Doch täglich bekommen Lohnabhängige, Arbeitslose, RentnerInnen und Jugendliche zu spüren, dass die Agenda nicht nur ein bisschen Sozialabbau bedeutet, sondern die größte Offensive von Staat und Kapital nach 1945 ist. Die versprochenen "Erfolge" auf dem Arbeitsmarkt und bei der Sanierung der Sozialsysteme bleiben aus. Zugleich wachsen die Enttäuschung über die Untätigkeit der Gewerkschaftsführung und die Einsicht, das man selbst etwas tun muss, um Schröders Sozialraub zu stoppen.

Dafür, dass die Gewerkschaftsspitze nicht mobilisiert hatte, sind 100.000 ein guter Erfolg - vor allem deshalb, weil die TeilnehmerInnen merkten, dass sie in der Lage sind, auch ohne den Segen der Chefetagen der Gewerkschaften etwas zu Wege zu bringen.

Wer wen?

Viele Transparente und Sprechchöre forderten Streiks und sogar den Generalstreik. Den meisten war klar, dass Protest allein, selbst wenn er noch viel größer wäre, nicht ausreicht, um die Agenda zu Fall zu bringen. Die Stimmung war kämpferisch und optimistisch - ganz im Gegensatz zur Feigheit der Gewerkschaftsspitze, die den Widerstand bremste, wo sie konnte, um "ihre" SPD-Regierung nicht in Gefahr zu bringen.

Sicher: Abwendung und Enttäuschung vom Reformismus - sei es in Gestalt der SPD oder der Gewerkschaftsbürokratie - sind unübersehbar. Doch ein angeschlagener Gegner ist oftmals umso gefährlicher und lässt nichts unversucht, aus seiner misslichen Lage heraus zu kommen.

So wurde die Tonart des DGB gegenüber der Regierung, "deren Wirtschafts- und Finanzpolitik falsch ist", etwas schärfer, um sein bei der Basis ramponiertes Image wieder etwas aufzubessern.

Die in der Formierung befindliche Bewegung gegen die Agenda ist für die Reformisten eine große Gefahr - und für uns eine Riesenchance.

Die Arbeiterbewegung wurde unabhängig von und sogar gegen die Absichten der Gewerkschaftsspitze aktiv. In den nächsten Monaten kann eine organisierte klassenkämpferische Opposition entsteht - eine Alternative zur herrschenden Gewerkschaftsbürokratie. Das Potential, das Bedürfnis und die reale Möglichkeit dazu war in den letzten Jahren nie so groß.

Diese Chance ist umso größer, als der politische Einfluss und der organisatorische Zugriff des Reformismus auf die Arbeiterklasse bröckeln und die Krise des Kapitalismus fast keinen Spielraum für reformistische "Umverteilungen" mehr lässt. Das Kapital fürchtet, dass die Bewegung gegen die Agenda von Protesten zu betrieblichen Aktionen, zu Besetzungen und Blockaden bis zum Generalstreik übergeht und die Kapitalisten dort trifft, wo es ihnen wirklich weh tut - beim Produzieren von Profit.

In Frankreich, Italien und selbst in Österreich gab es gegen geplante Rentenreformen Massenstreiks. Bisher waren die Kämpfe gegen die Sparprogramme in verschiedenen Ländern noch nicht international koordiniert. Doch die millionenstarken internationalen Proteste kurz vor Ausbruch des Irakkrieges verweisen darauf, dass ein solches Szenario Wirklichkeit werden kann.

Für das europäische Kapital geht es um viel mehr als nur um einige neoliberale Reformen. Die EU um Deutschland und Frankreich soll zum "dynamischsten Wirtschaftsraum" der Welt und der jetzigen Führungsmacht USA ebenbürtig werden. Dazu müssen der Arbeiterklasse eine schwere Niederlage beigebracht und das Klassenverhältnis zu Gunsten des Kapitals verschoben werden. Deshalb scheitern auch die Versuche der Gewerkschaftsspitze, wie früher "Kompromisse" auszuhandeln und dafür die Arbeiterklasse ruhig zu halten. Den Kapitalisten freilich reicht die Ruhe nicht mehr; sie suchen den Konflikt und wollen ihn für sich entscheiden. Das wurde z.B. beim Streik für die 35-Stunden-Woche im Osten deutlich.

Wenn die ReformistInnen schon die eigenständige Mobilisierung der Basis nicht verhindern konnten, so werden sie in jedem Fall versuchen, die Bewegung wieder unter Kontrolle zu bringen und sie in für Kapital und rot/grüne Regierung ungefährliches Fahrwasser zu leiten. Wie kann das verhindert werden und die Bewegung selbst vom Protest zum Widerstand, von Demos zu massenhaften Streiks weiterentwickelt werden?

Wie weiter?

Die gegenwärtige Schwäche der Reformisten bedeutet noch lange nicht deren k.o. Wir müssen daher nicht nur die linkeren, kämpferischeren Teile des Apparats für aktiven Widerstand gewinnen. Wir müssen den Apparat als Ganzes auffordern, Widerstand - insbesondere politische Streiks - gegen die Agenda zu organisieren. Das ist einerseits notwendig, weil Massenstreiks, umso mehr ein Generalstreik, im Moment fast undenkbar sind, wenn es nicht gelingt, den Gewerkschaften zu dessen Vorbereitung und Durchführung zu bewegen. Andererseits ermöglichen Forderungen an die Bürokratie der Basis auch, "ihre" Führungen in der Praxis zu testen.

Der 1. November hat Zehntausende aktiviert. Dieses Milieu muss sich in Aktionskomitees und -bündnissen gegen die Agenda organisieren; es muss zum Initiator werden, um noch viel mehr GewerkschafterInnen, ArbeiterInnen, Erwerbslose und Jugendliche einzubeziehen.

So sind die Uni-Streiks eine gute Möglichkeit, den Kampf der Studierenden gegen Studiengebühren und Bildungsmisere mit dem Widerstand gegen Sozialabbau zu verbinden. In diesem Sinne muss auch die anstehende IG Metall-Tarifrunde über den von der Führung geplanten reinen Tarifkampf zu einem politischen Streik gegen die Agenda ausgeweitet werden.

Auch die antikapitalistische Bewegung, die sich im November in Paris zum Zweiten Europäischen Sozialforum traf, sowie die örtlichen Sozialforen müssen den Kampf gegen die Agenda ins Zentrum ihrer Aktivität stellen! Jene kleinbürgerlichen und (links)reformistischen Kräfte, die diese Bewegung noch dominieren, schreckten bisher davor zurück, zu konkreten europaweiten Mobilisierungen, v.a. zu politischen Massenstreiks aufzurufen. Zwingen wir sie, endlich zu handeln, anstatt die Kraft der Bewegung zu bremsen und zu vergeuden!

Bundesweite Aktionskonferenz

Alle Kämpfe, alle Initiativen und Strukturen gegen Sozialabbau, gegen Bildungsnotstand usw. müssen zu einer bundesweiten Bewegung gebündelt werden! Es müssen örtliche, betriebliche und regionale Treffen organisiert werden, die in einem Bundestreffen kulminieren. Sie müssen nicht nur den Widerstand gegen die Agenda öffentlich machen, sondern vor allem weitere AktivistInnen anziehen, konkrete Aktionen beschließen und der Basis direkt verantwortliche Kampfführungen wählen.

Wenn die Kapitalisten und ihre reformistischen Handlanger koordiniert und organisiert sind, brauchen auch wir eine zentralisierte Kampfführung! Eine lockere, eher informelle Vernetzung reicht dazu nicht.

Sie wäre außerstande, eine schlagkräftige Bewegung wirklich zu führen. Sie wäre zugleich auch wenig demokratisch, da sie nicht auf Mehrheitsentscheidungen beruhen würde und der Basis kaum rechenschaftspflichtig wäre. Wir brauchen eine Einheitsfront aller Strukturen und Organisationen der Arbeiterklasse, der Linken usw., die gegen die Agenda kämpfen wollen!

Es geht jetzt nicht nur darum, die Bewegung zu vergrößern und zu einem Massenwiderstand zu entwickeln; es geht vor allem auch darum, die gewerkschaftliche und betriebliche Basis noch stärker einzubeziehen und zur Aktion zu bringen. Wenn es richtig ist, dass politische Massenstreiks oder sogar ein Generalstreik nötig sind, um die Agenda zu kippen, dann muss es gelingen, die "schweren" Bataillone der Klasse in Bewegung zu bringen.

Ist das möglich? Ja, denn auch die "Kernschichten" der Klasse sind von den Angriffen betroffen, nicht nur RentnerInnen, Arbeitslose oder prekär Beschäftigte. Vereinzelte betriebliche Aktionen gab es bereits, so in Schweinfurt, wo mehrere Betriebe einen Kurzstreik durchführten.

In vielen Städten haben GewerkschafterInnen Ende November und Anfang Dezember kurze Streiks, Belegschaftsversammlungen vor den Werkstoren und Straßenblockaden wie in Stuttgart durchgeführt. Auch etliche Gewerkschaftsgliederungen waren an den Mobilisierungen zum 1.11. beteiligt. Das alles sind gute Ansätze, die ausgebaut werden können und müssen.

Doch es fehlt noch an einer einheitlichen, bundesweiten Struktur. Eine solche Koordinierung zu schaffen - das ist die zentrale Aufgabe, vor der die bundesweiten Aktionskonferenzen am 13. Dezember in Frankfurt am Main und am 17. Januar stehen.

Basisbewegung

Wer die Agenda verhindern will, wer eine kämpferische Gewerkschaft will, muss sich in einer klassenkämpferischen Basisbewegung in Betrieb und Gewerkschaft zusammenschließen! Die Chancen dafür sind besser denn je, weil Einfluss und Ansehen der Sozialdemokratie - der Hauptstütze des Kapitalismus innerhalb der Arbeiterbewegung - in der Klasse abnehmen.

Eine solche organisierte Struktur ist nicht nur notwendig, um handlungsfähig zu sein; sie ist zugleich unabdingbar, um eine Alternative zu allen Versuchen der Bürokratie zu haben, sich die Bewegung unterzuordnen.

Der Kampf gegen die Agenda hat gezeigt: Sommer, Bsirske, Zwickel, Schmoldt, Peters und Huber - wie unterschiedlich weit "links" oder "rechts" sie sein mögen - haben allesamt dabei versagt, den Kampf zur Verteidigung unserer Errungenschaften zu führen. Sie haben sich damit herausgeredet, dass die Basis "schwer mobilisierbar sei".

Der 1.11. hat gezeigt, dass das nur eine Ausrede dafür ist, dass man selbst nicht kämpfen will, weil das an gewissen "Selbstverständlichkeiten" rütteln würde. Dazu zählt die Rolle der Bürokratie als "Vermittlerin" zwischen Kapital und Arbeit, dazu zählt ihre Verquickung mit der SPD, dazu zählen ihre sozialen Privilegien, dazu zählt ihre sklavische Anbindung an das kapitalistische System insgesamt: an Privateigentum, an Marktwirtschaft und Produktion für Profit.

Eine klassenkämpferische Basisbewegung ist eine Vorraussetzung, um die Gewerkschaften insgesamt wieder zu lebendigen Interessenvertretungen der lohnabhängig Beschäftigten, der Arbeitslosen, ja aller von der kapitalistischen Krise Betroffenen zu machen. Nur wenn die Gewerkschaften durch ihre betriebliche und gewerkschaftliche Basis wieder zu Kampfinstrumenten werden, kann die Agenda gekippt werden. Die Zeit ist reif.

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Nr. 86, Dez 2003/Jan 2004

*  Gegen die Agenda 2010: Bewegung von unten
*  Uni-Streik: Arbeiter und Studenten, ein Kampf!
*  IG Metall: Oh Schreck - Tarifrunde!
*  Argentinien: Nein zur Repression!
*  Repression im Betrieb: Siemens - ohne Maske
*  Europäisches Sozialforum: Ein Schritt vorwärts, ein Schritt zurück
*  Attac-Aktuell: Bremser statt Beweger
*  Wahlen in Frankreich: Antikapitalismus mit Reformprogramm?
*  85 Jahre KPD-Gründung: Schwere Geburt
*  Slowakei: Free Mario!
*  Heile Welt
*  Irak: Besatzer vertreiben!