Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Türkei

Ankaras Ambitionen

Jürgen Roth, Neue Internationale 79, April 2003

Nachdem der Irakkrieg begonnen hat, erweist sich die Befürchtung eines "Flächenbrandes" als durchaus berechtigt. Mit dem Einmarsch türkischer Truppen in den kurdischen Nordirak ist ein weiterer Konfliktherd entstanden.

Trotz der Aufhebung des Ausnahmezustandes im türkischen Kurdengebiet ist die türkische Armee dort routinemäßig in Alarmbereitschaft. Hier sollte die amerikanische Invasionsstreitmacht durchziehen, um im Norden des Irak eine zweite Front zu eröffnen.

Da die Türkei das Durchmarschrecht aber nicht gewährt hat, musste nun die 173. US-Luftlandebrigade aus dem italienischen Vicenza einen Brückenkopf schlagen. Diese Sky Soldiers (Himmelssoldaten) genannte "Mehrzweckwaffe" des Heeres gehört zur Schnellen Eingreiftruppe für Südeuropa (SETAF).

Hintergrund

Nach dem letzten Golfkrieg 1991 fühlte sich die Türkei von Bush sen., der damals finanzielle Kompensation für "Kollateralschäden" versprochen, aber nicht gezahlt hatte, verschaukelt. Mit dem Irak kam zudem ein wichtiger Handelspartner der Türkei abhanden.

Die türkische Republik stürzte auch dadurch in die schlimmste Rezession ihrer Geschichte. Der Krieg spülte zudem 500.000 Flüchtlinge über ihre Grenze, darunter viele UnterstützerInnen des kurdischen Freiheitskampfes und der PKK.

Zunächst spurten die Erben Atatürks ganz im Interesse der US-Army. Am 6. Februar nickte das türkische Parlament Teil 1 des Aufmarschplans ab: 3500 Pioniere nebst schwerem Gerät rückten als Vorhut in die Türkei ein und begannen mit Instandsetzung und Ausbau v.a. von Militärflughäfen. Ihnen sollten weitere 62.000 Mann folgen.

Zunächst wurde die Parlamentsabstimmung verschoben. Dann fand am 1. März die Regierungsvorlage keine Mehrheit. Nicht einmal die Luftwaffenbasis Incirlik, von der seit 1991 amerikanische Kampfflugzeuge zur Überwachung der nördlichen irakischen Flugverbotszone starteten, sollte den USA zugestanden werden.

Erst nach Ausbruch des Krieges räumte das Parlament schließlich den USA die Nutzung von zwei Luftkorridoren über der Türkei ein. Zugleich gab es der eigenen Truppe freie Hand für den Nordirak. Unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe räumte Ankara seinen Truppen einen 20 Kilometer breiten Streifen im Nachbarland ein und verstärkte die "Sicherheitskräfte" in der Kurdenregion auf mindestens 150.000 Mann.

Sie sollen kurdische Flüchtlinge abfangen, vor allem aber weiteren Machtgewinn für die bürgerlichen und halbfeudalen Kurden-Führer von der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) bzw. Patriotischen Union Kurdistans (PUK) verhindern.

Seit dem letzten Golfkrieg steht der Nordirak unter kurdischer Selbstverwaltung - mit Ausnahme der Ölzentren Mossul und Kirkuk, die zum "Kernland" unter Saddam Hussein gehören.

Die Türkei will, wenn schon nicht eigene Ansprüche darauf geltend machen, so doch mindestens um jeden Preis verhindern, dass diese Ölquellen die wirtschaftliche Grundlage für einen eigenen nordirakischen Kurdenstaat legen können! Der aber wäre an ihrer Südostgrenze das Letzte, was sie sich leisten könnte.

Sie fürchtet das Überspringen des Unabhängigkeitskampfes auf die 13 Mill. türkischen KurdInnen und eine Wiederbelebung des 15 Jahre währenden Bürgerkriegs, der 1999 mit der Verhaftung Öcalans ein vorläufiges Ende fand. Folglich hat das türkische Bürgertum ein traditionelles Interesse an der Erhaltung des Irak als Zentralstaat in seinen bisherigen Grenzen.

Für den Fall, dass die USA den irakischen KurdInnen aus militärisch-taktischen Überlegungen heraus im Zuge ihrer Neuordnung der Region des Mittleren Orients Autonomie versprächen, droht es mit der Etablierung eines 70 Kilometer tiefen "Schutzgürtels" zu einer Republik Kurdistan, in der das Militär auf Dauer 80.000 Mann stationieren will.

Die kurdischen Peschmerga - FreischärlerInnen, zu Deutsch: "Die dem Tod entgegengehen" - werden sich diesen Affront nicht bieten lassen. Der kleinere Konflikt im Rahmen des größeren, aktuellen ist damit schon vorprogrammiert.

Auch aus innenpolitischen Gründen ist die Distanz der Türkei zu den USA inspiriert. Die gemäßigt-islamische Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), die einen erdrutschartigen Sieg bei den Parlamentswahlen im letzten November errang, ist eine rechtspopulistische Partei mit antiimperialistischer Rhetorik.

Ihren Aufstieg verdankt sie dem der Globalisierung geschuldeten erbarmungslosen wirtschaftlichen Niedergang dieser relativ entwickelten Halbkolonie, in dessen Gefolge die Parteienlandschaft komplett umgekrempelt wurde - und das bei einem sowieso nur auf tönernen Füßen stehenden Parlamentarismus von Gnaden des Militärs!

US-Interessen im Nordirak

Andererseits zwingt genau dieser untergeordnete Status im Reigen der Welt(markt)mächte zu Kompromissen mit dem Imperialismus zwecks Erhalts der in Aussicht gestellten, dringend benötigten Geldzuwendungen.

Der neue Premierminister und AKP-Vorsitzende Erdogan mußte nun auf einer Rasierklinge tanzen. Er soll mit Rückendeckung des Militärs und unter Missachtung des eigenen Parlaments ein Geheimabkommen mit den USA ausgeheckt haben, das ihr neun Stützpunkte für ihren Feldzug gegen den Irak zusichern soll, deckte die Opposition auf. Erdogan versucht nun, diese Täuschung der Öffentlichkeit zu bagatellisieren.

Für die US-Army bringt die Vereitelung ihres Aufmarsches ein erhebliches Problem beim Aufbau einer zweiten Front im Norden und bedeutet eine Verlängerung des Krieges um mindestens einige Wochen. Die im östlichen Mittelmeer dümpelnden Kriegsschiffe mit 15.000 Soldaten und Material müssen jetzt durch den Suezkanal umgeleitet werden.

Selbst wenn inzwischen Landepisten für Truppentransporter im Nordirak besetzt wurden, verzögert sich der Aufmarsch im Nordirak erheblich.

Die Nordfront der alliierten imperialistischen Angreifer soll mehrere Aufgaben zugleich erfüllen: "Schutz" des Nordirak vor Saddams Angriffen, Bindung eines beträchtlichen Teils seiner Truppen, Zügelung des Autonomiebegehrens der KurdInnen sowie Eindämmung eines möglichen türkischen Vormarsches.

Das Selbstbestimmungsrecht der irakischen KurdInnen wird in diesem Szenario mit Füßen getreten! Eine unabhängige Kurdenrepublik soll auf jeden Fall verhindert werden - so sehen es die Alliierten, die Türkei und auch der Irak.

Angesichts dieser Pläne erweist sich die Zusammenarbeit der beiden führenden Kurdenparteien mit den USA als fatal. Doch die Kollaboration mit wechselnden Groß- und Regionalmächten unter Missachtung des eigenen nationalen Selbstbestimmungsrechtes hat bei KDP und PUK eine lange Tradition.

Der Bruch der kurdischen ArbeiterInnen und Bauern mit ihren bürgerlichen Führungen ist daher eine dringliche Aufgabe.

In einem Konflikt mit dem Irak, in dem die Peschmerga Seite an Seite mit den US-Truppen unter deren Kommando kämpfen, müssten KommunistInnen den Irak trotz des Kurdenschlächters Saddam Hussein verteidigen!

Zwischen EU und USA

Im Unterschied zur bürgerlichen irakischen Regierung allerdings würden wir nach wie vor die Anerkennung des kurdischen Selbstbestimmungsrechts und den Abzug aller Besatzungstruppen aus Irakisch-Kurdistan fordern.

Auch ein eventuelles Vordringen der irakischen Armee in die nördliche Verbotszone im aktuellen Konflikt würde uns allerdings nicht dazu verpflichten, die Verteidigungsposition des Irak aufzugeben.

Der Schlüssel zu einer fortschrittlichen Lösung liegt in den Händen der kurdischen Werktätigen, die mit ihrer bürgerlichen Führung brechen und den bewaffneten Kampf gegen die USA zur Verteidigung ihrer nationalen Rechte und des Irak aufnehmen müssen. In diesem Fall wäre ein irakischer Einmarsch ohne ihre Zustimmung, ihre Bekämpfung durch dessen Armee allerdings reaktionär!

In den Weltordnungsszenarien der USA spielt die Türkei neben Britannien eine wichtige Rolle als verlässlicher Bündnispartner.

Die riesigen Erdöl- und Erdgasvorkommen rund um das Kaspische Meer sollen über eine Pipeline, die nur durch befreundete Staaten (Aserbeidschan) führen soll, bis in einen türkischen Verladehafen gepumpt werden. Das Gebiet der Konkurrenz (Russland, Armenien, Iran) soll umgangen werden.

Die globale Energie- und Rohstoffpolitik der EU-Kernmächte Deutschland und Frankreich setzt dagegen auf Kooperation mit dieser Achse. Eine Frankreich und Deutschland feindlich gesinnte Türkei an der Ostflanke Europas ist dabei ein schier unüberwindbares Hindernis!

Die Türkei wird immer mehr zum Zankapfel zwischen den Rivalen USA und EU. Es ist von großer Bedeutung für beide imperialistischen Blöcke, die Türkei zu kontrollieren, um die geostrategisch wichtige und Rohstoffreiche Region zu beherrschen.

Praktisch ist der Staat unterm Halbmond wirtschaftlich mehr und mehr von der EU abhängig.

Seit einigen Jahren existiert ein Zoll- und Handelsabkommen mit dem mittlerweile weltgrößten Wirtschaftsraum. Gegen diesen unaufhaltsamen ökonomischen Sog müssen die USA politisch und militärisch ankämpfen. Das Ergebnis dieses Ringens ist ebenso wie am Falle Großbritanniens alles andere als entschieden. Sicher ist nur, dass der Konflikt Amerika - Europa zukünftig schärfer wird und im Kampf um den Einfluss auf die Türkei wie auch auf Russland und China kulminieren muss!

Die FDP wollte per Verfassungsgericht einen Parlamentsbeschluss über den Verbleib deutscher Soldaten in den AWACS-Aufklärungsflugzeugen einklagen, um die Regierung vorführen zu können. Bereits 1993 hatte sie dieses Mittel benutzt; damals wurde die erstmalige Beteiligung von Bundeswehrkampfeinheiten außerhalb des NATO-Gebiets höchstrichterlich abgesegnet.

Die Gretchenfrage ist jetzt, unter welchen Umständen die Türkei im Irak-Konflikt zur Kriegspartei wird? Fischer und Struck betonen, es gebe keinen Anlass für den Ausstieg immerhin eines Drittels (!) der AWACS-Besatzungen. Im Norden Iraks gebe es "keine wesentlich veränderte Präsenz türkischer Truppen", sie "erfüllten dort defensive Aufgaben" wie "Abwehr von Terror und die Betreuung von Flüchtlingen" (WESERKURIER, 25.3.03)

"Pazifismus" der Regierung

Die gleichen Politiker stimmten noch vor wenigen Monaten in der NATO gegen die Lieferung von Patriot-Flugabwehrraketen an die Türkei, um schließlich "schweren Herzens" doch ihren kuriosen Umweg über die Niederlande zu billigen. Dieses Verwirrspiel diente vor allem dazu, die "Friedenspolitik" Deutschlands herauszustellen und nicht etwa dazu, die Lieferung der Patriot-Raketen zu verweigern.

"Sofortiger Abzug der Fuchs-Spürpanzer bei Kriegsbeginn!" hieß es vor Ausbruch des Konflikts. Heute werden die deutschen ABC-Abwehrtruppen in Kuwait vervierfacht!

Diese "Inkonsequenz" ist ein erneuter Beleg für die Friedensheuchelei von Rot-Grün, ein Beleg für die Absicht, bei der Verteilung der Beute nach dem Sieg der Alliierten nicht ganz leer auszugehen.

Leserbrief schreiben   zur Startseite

neue internationale
Nr. 79, April 2003

*  Nieder mit dem Imperialismus! Sieg dem Irak!
*  Antikriegsbewegung: Den Krieg stoppen - aber wie?
*  Antikriegskomitee Neukölln
*  Heile Welt
*  Debatte: Generalstreik gegen Krieg
*  Türkei: Ankaras Ambitionen
*  Russland: Ölboom und Lohndumping
*  Argentinien: Keine Räumung von Zanon!
*  Nach dem Bahnstreik: Schwellenkampf
*  Wirtschaft: Woher kommt die Krise?
*  Michael-Moore-Film: Bowling against Bush
*  Rot-Grüner Generalangriff: Schröders Reformkeule