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Stuttgart 21

Bullen knüppeln, die Regierung lügt

Renate Röckenwies, Neue Internationale 154, November 2010

Viele Medien, z.B. die Stuttgarter Nachrichten, reihen sich in die Hetze der Herschenden ein und suchen ständig nach Gewalttätern unter den S21-Gegnern, von denen sich dann die anderen bitteschön zu distanzieren haben. Das begann schon am 12. Juni anlässlich einer Anti-Krisendemo. Jetzt sollen die Leute, die am 16. Oktober in Stuttgart den Südflügel des Bahnhofs besetzten und Wagen des Polizeisprechers blockierten, die Gewalttäter sein.

Nein, nicht diejenigen, die den Nordflügel bereits abreißen ließen, haben „Sachbeschädigung“ betrieben, sondern jene, die dem Südflügel dasselbe ersparen wollen, werden dessen bezichtigt. Nicht der Wasserwerfer, mit dem einem Rentner der Augapfel herausgeschossen wurde, ist Gewaltmittel, sondern die Aufkleber, die das Auto der Polizei verzieren. So lächerlich diese Anschuldigungen für alle sind, welche die Ereignisse miterlebt haben: die Verleumdung kann trotzdem wirken und hat das oft und lang genug schon getan.

Andere Medien zeigen die Hintergründe auf oder bemühen sich um eine etwas ausgewogenere Darstellung. Der „Stern“ brachte Insider-Kritik am Tiefbahnhof-Konzept,

„Monitor“ deckte die Lügen der Landesregierung auf.

Es ist schön, vorgeführt zu bekommen, dass die Polizei wie die Regierung gelogen haben, als sie angebliche Gewalttaten der Demonstranten ins Netz stellten und in Regierungserklärungen verkündeten. So wurde ein einziger, einzelner Pfeffersprayer aus Reihen der Demonstranten gezeigt. Dumm nur, dass aus Versehen einmal der Aufnahmezeitpunkt des Videos zu sehen war, der sonst verdeckt blieb. Zweieinhalb Stunden nach Einsatzbeginn der Wasserwerfer ist das ein sehr wertloser „Beweis“. Einige Indizien sprechen sogar dafür, dass es sich um einen verkleideten Polizisten handelte. Die „Pflastersteine“, zu denen die unschuldigen Kastanien des Schlossgartens mutiert sind, sind bereits legendär.

Aber letztlich geht es gerade auch in diesem und ähnlichen Beiträgen darum, die Polizei und damit den Staat zu schützen. Amtierende und ehemalige Polizisten nennen - wie die Grünen und die SPD - das Vorgehen „überzogen“ oder „unverhältnismäßig“. Doch: Was wäre verhältnismäßig? Nur 200 Verletzte statt 400? Die halbe Menge Pfefferspray? Sie beklagen den „Missbrauch der Polizei durch die Politik“, sprich die CDU. Aber wozu ist die Polizei sonst da, wenn nicht zur Umsetzung von bürgelicher Politik und dem Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln?

Die Brutalität des Polizeieinsatzes vom 30. September hat viele geschockt. Das bislang defensive Vorgehen bei Demos und Blockaden und falsche Parolen wie „Wessen Polizei? Unsere Polizei!“ hatten Illusionen geweckt. SPD, Grüne und „Monitor“ wollen diese Illusionen bewahren.

In diesem System ist es die Aufgabe von Polizei und Justiz, den Willen der Herrschenden durchzusetzen. Doch selbst in „ruhigen“ Zeiten könnte auffallen, dass dreimaliges Schwarzfahren zu Haft, aber Millionenbetrug stets nur zu Bewährungsstrafen führt.

Die Aufgaben der Polizei sind völlig unabhängig von Willen und Charakter einzelner PolizistInnen. Wir haben die Videos mit dem Schlägerbullen mit Glatze und Bart gesehen. Doch verantwortlich für den Einsatz und für die Brutalität sind Polizeipräsident Stumpf, Innenminister Rech und Mappus. Aber auch sie sind nur Handlanger des Systems.

Die Zeiten sind nicht mehr ruhig. Sie sind nicht mehr ruhig, weil Massen nicht mehr hinnehmen, dass Politik und Staat Milliarden aus den Taschen der arbeitenden Menschen in die Kassen der Spekulanten, der Banken und Konzerne lenken, die rücksichtslos die Zukunft der Menschen und die Natur opfern.

Jetzt, da sich die Mehrheit offen gegen das stellt, was in diesem System üblich ist, jetzt zeigt sich, was letztlich die Aufgabe der Polizei und des Staatsapparates ist: Die Interessen einer Minderheit durchsetzen, wenn die gewohnten Mittel nicht mehr reichen.

So, wie der Staatsapparat unterschiedliche Taktiken verfolgen kann, - „Guter Bulle - schlechter Bulle“ - müssen auch wir unterschiedliche Taktiken verfolgen. Das defensive Verhalten der DemonstrantInnen am 30. September war richtig. So schwer die Opfer auch waren, es ist für Millionen klargeworden, von wo die Gewalt ausgeht. Gerade deshalb ist Mappus in die Defensive gekommen und die Polizei verunsichert.

Aber um weitere Zerstörung zu verhindern sind andere Taktiken nötig. Die Südflügel-Besetzung hat gezeigt, dass eine spontane Aktion zwar ein Überraschungsmoment hat, dass aber ohne klare Zielsetzung und abgesprochene Kampfmittel eine Massenbesetzung unmöglich ist. 35 Leute kamen in den Turm, weitere 30 bis ins Treppenhaus. Dann hatte die Polizei alles abgeriegelt. Wir hatten keine Kampfmittel, die eine Bullenkette sprengen können und so verhindern, dass sie uns einsperren oder einkesseln. Wir werden sie brauchen.

Wir haben oben beschrieben, dass es letztlich die Aufgabe des Staatsapparats und der Polizei ist, die Diktatur einer Minderheit zu schützen. Wenn wir diese beseitigen wollen, werden wir erst recht Kampfmittel, Taktiken und Strategien brauchen, um Opfer zu vermeiden. Denn die wären dann ungleich höher als im Schlossgarten am 30 September.

Die Bewegung muss daher demokratische Strukturen aufbauen, die nicht nur die Führung wählen und abwählen. Sie braucht auch eine organisierten Selbstverteidigung gegen aktuelle und zukünftige Polizeiprovokationen und um eigene Aktionen zu verteidigen.

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Nr. 154, Nov. 2010
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*  Heile Welt
*  Massenbewegung am Scheideweg: Verhandeln oder Besetzen?
*  Stuttgart 21: Wie kann die Bewegung siegen?
*  Stuttgart 21: Bullen knüppeln, Regierung lügt
*  Gewerkschaftliche Aktionswochen: Kühler Herbst
*  Behr Werk 8: Der Kampf geht weiter
*  Aktionstag Esslingen: Weg mit der Agenda!
*  Autoindustrie: Kapitalistische Wunder?
*  Die Grünen: Bald stärkste Opposition?
*  Integrationsdebatte: Christdemokratische Hassprediger
*  Frankreich: Bewegung am Scheideweg
*  Präsidentschaftswahlen in Brasilien: Zwischen Boom und Massenelend
*  Venezuela: Opposition gewinnt an Boden
*  Pakistan: Widerstand gegen Privatisierung
*  Anti-Atom-Bewegung: Castor blockieren, Regierung atomisieren!