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100 Jahre Sozialistenkongress in Stuttgart

Gegen Kapital und Krieg

Rex Rotmann, Neue Internationale 122, Juli/August 2007

Ende August 1907 tagte in Stuttgart der Internationale Sozialistenkongress. Er fand in einer Situation statt, die von heftigen internationalen Krisen und Konflikten, aber auch von wichtigen Klassenschlachten geprägt war.

Der Aufstieg einiger kapitalistischer Staaten zu imperialistischen Mächten und ihr heftiges Ringen um Kolonien und Marktanteile führten zu einer zunehmend gespannteren internationalen Lage. Der russisch-japanische Krieg oder die Bildung der Triple-Entente waren ein Wetterleuchten des drohenden Weltkrieges und Zeichen dafür, dass sich die Großmächte auch durch Bündnisse darauf vorbereiteten.

Besonders Deutschland, dessen industrielle Entwicklung verspätet begonnen hatte und das beim Wettlauf um Kolonialbesitz zu kurz gekommen war, drängte auf eine Neuaufteilung der Welt. Seine Pläne, v.a. in Afrika Kolonien zu erobern, wurden brutal umgesetzt. So kam es 1904 zum Völkermord an den Herreros und Massakern an den Hottentotten.

Diese Ereignisse lösten eine heftige Diskussion in der deutschen Sozialdemokratie aus, welche Position sie zur Kolonialpolitik einnehmen sollte.

Die Sozialdemokratie

Die SPD hatte 1907 eine Erfolgsstory hinter sich. Gestärkt aus der Illegalität der Zeit der Sozialistengesetze hervorgegangen, wurde sie immer mächtiger. Sie verfügte über eine Massenbasis in den Gewerkschaften und legte kontinuierlich bei Wahlen zu. 1907 wurde die SPD sogar erstmals stärkste Partei und nur durch eine reaktionäre Wahlrechtsänderung um fast die Hälfte ihrer Mandate gebracht.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland eine ganze Reihe von Arbeitskämpfen mit Hunderttausenden ArbeiterInnen. Der Januar 1906 brachte in Hamburg den ersten großen politischen Massenstreik mit 80.000 ArbeiterInnen. Kein Wunder, dass auch die Frage von Massenstreiks in der SPD heftig debattiert wurde. Doch während vor allem Rosa Luxemburg die Bedeutung dieses Kampfmittels erkannte und eine klare und eigenständige Politik der SPD gegenüber den Gewerkschaften forderte, wehrten deren sozialdemokratische Spitzenfunktionäre dieses Ansinnen ab. Und deren Einfluss in der SPD wuchs beständig. Gestützt auf eine immer größere Arbeiteraristokratie und eine wachsende Schicht von Funktionären plädierten sie für einen friedlichen, parlamentarischen Kurs.

Unter der imposanten sozialistischen Hülle formierten sich vor allem ab 1905 immer deutlicher widerstreitende politische Kräfte. So traten die „Rechten“ (Bernstein, David, Noske, Südekum u.a.) für eine „sozialistische“ Kolonialpolitik ein, d.h. sie akzeptierten die aggressive imperialistische Außenpolitik - der tw. eine positive „Kultur bringende“ Rolle angedichtet wurde - als politischen Rahmen und wollten innerhalb dessen per Reformpolitik „mäßigen“. Diese Vorstellungen liegen nicht von ungefähr auf derselben Linie wie die heutige Unterstützung der SPD und tw. der LINKEN für „humanitäre“ und „Frieden stiftende“ Interventionen.

Die Linke in der SPD um Luxemburg, Liebknecht, Zetkin u.a. wies diese Positionen scharf zurück - und hatte scheinbar damit Erfolg, denn in den offiziellen Beschlüssen und auf den Parteitagen konnten sich die Rechten zunächst nicht durchsetzen.

Auch das „Zentrum“ um Kautsky hatte sich herausgebildet. Es teilte zwar oft die Kritikpunkte der Linken, versuchte aber zugleich, einen offenen Konflikt wegen der „Einheit“ der Partei zu verhindern. Hinzu kommt, dass Karl Kautsky eine enorme politische Autorität als theoretisch führender Kopf der Internationale besaß und auch von vielen Marxisten des linken Flügels - u.a. auch Lenin und den Bolschewiki als Vorbild - betrachtet wurde.

Nicht zuletzt war auch die russische Revolution von 1905 ein Ereignis, dass die Frage provozierte, wie sich die internationale Sozialdemokratie zu offen revolutionären Ereignissen verhalten sollte.

Der Kongress

884 Delegierte aus 25 Ländern waren nach Stuttgart gekommen, darunter 289 aus Deutschland - zum überwiegenden Teil Mitglieder der freien Gewerkschaften. Die Linken waren in einer Minderheit. Zum ersten Mal war auch Lenin bei einem solchen Kongress dabei.

Im Zentrum des Kongresses standen vor allem Fragen des Kampfes gegen die imperialistische Kriegs - und Kolonialpolitik. Nach heftigen Debatten verurteilte der Kongress jede Kolonial- und Kriegspolitik des Imperialismus. Doch die Entscheidung war mit 127 zu 108 Stimmen (10 Enthaltungen) knapp. Die politische Degenerationstendenz der Sozialdemokratie zeichnete sich also schon  klar ab.

Die Abschluss-Resolution vom 24. August beginnt: „Der Kongreß bestätigt die Resolutionen der früheren internationalen Kongresse gegen Militarismus und Imperialismus und stellt aufs neue fest, dass der Kampf gegen den Militarismus nicht getrennt werden kann von dem sozialistischen Klassenkampf im ganzen.“

Zur Aufgabe der II. Internationale, in der die sozialdemokratischen Parteien Mitglieder waren, heißt es: Sie „hat die Pflicht, die Bestrebungen der Arbeiterklasse gegen den Krieg möglichst zu verstärken und in Zusammenhang zu bringen.“

Die Resolution endet wie folgt: „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen (…) verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des internationalen Büros (der II. Internationale, d. Red.), alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern.

Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“

Ohne Frage: Alle ernsthaften RevolutionärInnen können solche Positionen auch heute noch unterstützen. Diese Orientierung des Stuttgarter Kongresses ist meilenweit von dem entfernt, was heutzutage viele linke und Arbeiterorganisationen vertreten. Wenn sie nicht überhaupt offen die imperialistische Aggressions- und Besatzungspolitik unterstützen wie die SPD (und indirekt auch die Spitzen der Gewerkschaften), dann fällt ihnen nichts Besseres ein, als die UNO - also letztlich Institutionen unter der Fuchtel des Imperialismus - als Friedensstifter zu empfehlen. Selbst Organisationen wie die DKP - sicher keine offene Fürsprecherin des Kapitalismus - unterstützt in der Antikriegs- und Friedensbewegung stets jene reformistischen und links-bürgerlichen Kräfte, die alles daran setzen, um zu verhindern, dass eine wirklich militante antiimperialistische Bewegung entsteht, die den Kampf gegen Militarismus und Krieg mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbindet.

Folgen und Lehren

Die Stuttgarter Resolution formulierte zum ersten Mal programmatisch die Aufgaben der Arbeiterbewegung im Kampf gegen Imperialismus und Militarismus. Sie orientierte v.a. auch auf den außerparlamentarischen Kampf, was gerade für die immer stärker auf das Parlament focussierte SPD wichtig war.

Die entscheidenden Passagen der Resolution - die Verpflichtung der sozialdemokratischen Parteien auf Kampfmaßnahmen und Mobilisierungen, die zentrale Rolle der II. Internationale dabei und die Verbindung des Kampfes gegen den Krieg mit dem Kampf zum Sturz des Kapitalismus - kamen in der Klarheit der beschlossenen Fassung aber erst durch Abänderungsanträge der Linken um Luxemburg, Liebknecht und Lenin in das Dokument, dessen ursprünglicher, sehr viel schwammigerer Entwurf von Bebel stammt. Schon in Stuttgart formierte sich also jene Gruppe von InternationalistInnen, die nach Ausbruch des Weltkrieges und der Kapitulation der II. Internationale die Zimmerwalder Linke und später die Kommunistische Internationale schuf.

Nicht vergessen werden soll hier, dass parallel zum Sozialistenkongress auch die Internationale Frauenkonferenz stattfand. Sie beschloss die Schaffung einer Zentralstelle in Deutschland und die Herausgabe der „Gleichheit“ als Organ der internationalen proletarischen Frauenbewegung. Sekretärin des Internationalen Frauensekretariats wurde Clara Zetkin.

Im Anschluss an den Sozialistenkongress tagte in Stuttgart auch die erste internationale Jugendkonferenz, welche dessen Abschlussresolution begeistert aufnahm und zur Gründung der Sozialistischen Jugendinternationale führte. Als Vorsitzender des internationalen Jugendbüros wurde Karl Liebknecht gewählt.

Die auf Stuttgart folgenden internationalen Kongresse von Kopenhagen 1910 und Basel 1912 bekräftigten am Vorabend des Weltkrieges die Beschlüsse von 1907. Doch die politischen Gewichte in der internationalen und namentlich der deutschen Sozialdemokratie hatten sich hinter der Fassade dieser Beschlüsse weiter zugunsten der rechten, immer offener sozialchauvinistischen und nationalistisch auftretenden Kräfte verschoben.

Schon auf dem SPD-Parteitag in Essen im September 1907 trat u.a. Noske offen als „Vaterlandsverteidiger“ auf. Zudem fasste dieser Parteitag keinen Beschluss, der auf eine Umsetzung und genaue Diskussion der Stuttgarter Beschlüsse drängte. Es wurde immer deutlicher, dass die Zustimmung der SPD-Delegierten zu den Stuttgarter Resolutionen nur noch ein formaler Akt war, der nichts an ihrer gänzlich anderen Politik änderte. Fatalerweise wurden die rechten Positionen tw. auch von August Bebel vor Kritik in Schutz genommen.

Die Politik der Mehrheit der SPD-Führung orientierte sich schon lange nicht mehr an der Alternative „Kapitalismus oder Sozialismus“ sondern kreiste nur noch um die Fragen von Demokratie und Reformen. So war es dann 1914 nur noch ein kleiner Schritt zur Unterstützung der Kriegspolitik der eigenen Bourgeoisie als „Verteidigung der Demokratie gegen die reaktionäre Autokratie“ des Kriegsgegners Russland.

Krise der Sozialdemokratie

Warum die internationale Sozialdemokratie trotz richtiger Beschlüsse wie dem von Stuttgart letztlich 1914 so schmählich versagte, hat mehrere Gründe.

Zum ersten war die II. Internationale in einer Periode massiver Expansion des Kapitalismus groß geworden, die eine Spielraum für erfolgreiche gewerkschaftliche und elektorale Tagesarbeit offen ließ, womit mehr und mehr der Nährboden für die Vorstellung allmählicher Reformen und Verbesserungen geschaffen wurde und zugleich die „orthodoxe“ marxistische Ideologie weiter propagiert werden konnte. Auch die Programmatik der sozialdemokratischen Parteien reflektierte das in der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm.

Alltagspraxis und Rhetorik der Parteien klafften so immer mehr auseinander, ohne aber für eine ganze Phase am Ende des 19./20. Jahrhunderts zum Bruch zu führen. Mit der Entwicklung der imperialistischen Epoche und dem herannahenden Ersten Weltkrieg musste diese Kluft offen ausbrechen. Angesichts neuer epochaler Herausforderungen eines Kapitalismus in seiner Niedergangsperiode war der Weg der Mehrheit der Zweiten Internatonale in Sozialchauvinismus und Nationalismus vorgezeichnet.

Hinzu kommt, dass die II. Internationale eher eine lose, föderalistische Struktur denn eine demokratisch-zentralistische Organisation war, deren internationale Beschlüsse und Strukturen verbindlichen Charakter für die nationalen Parteien gehabt hätte. Gleichzeitig war die Sozialdemokratie, v.a. die deutsche, immer mehr unter die Dominanz des Apparates von SPD und Gewerkschaft - also einer bürokratischen Schicht - geraten und ähnelte in ihrer Praxis zugleich immer mehr einem Großverein mit Parlamentsvertretung als einer politischen Kampfpartei.

Trotzdem gab es genügend Kräfte in der SPD, die politisch gegen die Noske und Co. eingestellt waren. Aber das Zentrum verfüllte die Funktion, die Gegensätze zu verkleistern, statt sie zuzuspitzen - ein Fakt, der auch massive Illusionen in die deutsche Sozialdemokratie in der Internationale nährte.

Doch auch die Linken um Rosa Luxemburg - in ihrer Einschätzung Noskes, aber auch Kautskys viel vorausschauender und hellsichtiger als viele andere -  versäumten es, ihre oft weitsichtige und konsequente politische Kritik an den Rechten mit entsprechenden organisatorischen Schritten zu verbinden.

Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu Lenin, der es u.a. durch einen offenen Fraktionskampf und einer damit verbundenen de facto-Spaltung (Bolschewiki-Menschewiki) vermochte, eine konsequent revolutionäre Partei zu schaffen. Die SPD-Linke hingegen scheute vor diesen organisatorischen Konsequenzen zu lange zurück. So wurden die klassenkämpferischen, internationalistischen Elemente in der Sozialdemokratie viel zu spät formiert und konnten nicht zum Attraktionspol für größere Teile der Basis werden.

Das Auftreten der Linken um Luxemburg und Lenin in Stuttgart sollte jedoch allen Linken heute als Beispiel dafür dienen, dass politische Kritik nicht einer vermeintlichen „Einheit“ oder der „Breite der Bewegung“ geopfert wird.

Mag 1907 die Frage der Zukunft der Sozialdemokratie noch offen gewesen sein - heute ist klar, dass die Sozialdemokratie, ob in Gestalt der „alten“ SPD oder in Form der „neuen“ Linkspartei ihre Zukunft längst hinter sich hat. Die Aufgabe heute heißt Formierung einer neuen revolutionären Arbeiterpartei, die den Kampf gegen imperialistische Kriege und Besatzung mit dem Kampf für den Sturz des Kapitalismus verbindet!

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