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30. Jahrestag des Pinochet-Putsches

Vom Traum zum Trauma

Rex Rotmann, Neue Internationale 84, Oktober 2003

Am 11. September 1973 ging in Chile der Präsidentenpalast, die Moneda, in Flammen auf. Das Militär putschte unter General Pinochet gegen den gewählten Präsidenten und errichtete eine blutige Militärdiktatur.

Der Putsch beendete die Hoffnung von Millionen ChilenInnen auf die Umgestaltung des Landes, auf die Einführung des Sozialismus. Stattdessen herrschte in Chile nun Friedhofsruhe. Fast alle demokratischen Rechte waren außer Kraft gesetzt, Gewerkschaften und Streiks verboten. Die Löhne wurden halbiert, während sich die Arbeitszeit gleichzeitig deutlich erhöhte. Diese Folgen des Putsches verdeutlichen, in wessen Sinn und Auftrag der Mörder Pinochet handelte: in dem der Kapitalisten.

Die Unidad Popular

Im Dezember 1969 verabschiedete die Unidad Popular (UP) ein Programm, das verschiedene Reformen und die Verstaatlichung zentraler Wirtschaftsbereiche vorsah. Letztere betraf auch die US-amerikanischen Anteile von fast 50% am Hauptwirtschaftszweig Chiles - dem Kupferbergbau.

Doch anders, als es viele glaubten, war das Programm der UP kein revolutionär-sozialistisches. Ein solches hätte beinhalten müssen, den bürgerlichen Staat (darunter auch den Gewaltapparat) zu zerschlagen und ihn durch Arbeiterräte und -milizen zu ersetzen. Ein solches Programm hätte auch nicht bei der Verstaatlichung einiger Wirtschaftsbereiche stehen bleiben dürfen; es hätte auf die Enteignung der Bourgeoisie als Ganzes und die Einführung einer demokratischen Planwirtschaft gerichtet sein müssen.

Das Programm der UP Allendes war, trotz aller sozialistischer Phraseologie, ein bürgerlich-demokratisches Programm.

Die UP war ein (Wahl)Bündnis aus verschiedenen Parteien und Bewegungen, deren wichtigste Kräfte die Sozialistische Partei (SP) und die stalinistische KP waren. Sie stützte sich sozial v.a. auf die Mehrheit der Arbeiterklasse und die ländliche Armut.

Die Unidad Popular war keine zeitweilige, begrenzte Einheitsfront, sondern ein strategisches (Regierungs)Bündnis zwischen Parteien des Proletariats und bürgerlichen Kräften. Damit diese - von MarxistInnen "Volksfront" genannte - Allianz überhaupt zustande kommen konnte, war ein Programm nötig, das strategische Zugeständnisse an die herrschende Klasse machte: den Erhalt des Privateigentums, soweit es nicht zum ausländischen Großkapital gehörte, und des bürgerlichen Staatsapparates.

Nicht der revolutionäre Sturz des Kapitalismus, sondern der Versuch einer Aussöhnung der unvereinbaren Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie lag dem UP-Projekt zugrunde.

Triumph mit Schatten

Im September 1970 wurde die UP mit 36,3 % stärkste Kraft im Parlament und Salvador Allende (SP) zum Präsidenten gewählt. Der Sieg der Unidad Popular beruhte jedoch weniger auf der Originalität ihres Volksfrontprogramms. Der Erfolg Allendes erklärt sich vielmehr daraus, dass die sozialistischen Versprechungen den Erwartungen der Massen entsprachen.

Seit Ende der 1960er war Chile in Unruhe. Die Wirtschaftkrise und die Verschlechterung der Lebenslage der Massen hatten Folgen. Proteste, Streiks und spontane Landbesetzungen nahmen zu. Die Arbeiterklasse, die städtische und ländliche Armut waren in Bewegung geraten. Es lag nahe, dass die Massen ihre Hoffnungen auf eine grundsätzliche Wende in "ihre" vorhandenen Arbeiterparteien SP, KP projizierten. Als diese sich dann zur UP zusammenschlossen, schienen sie stark genug zu sein, "alles zu wagen".

Doch die siegreiche Unidad Popular hatte zwei Gesichter. Das eine stand für Reformen. Die Neuerungen fingen bei einem täglichen Liter Milch für Chiles Kinder an und reichten bis zur Enteignung von US-Unternehmen.

Doch die Schattenseite der Politik der UP und ihres Präsidenten Allende sollte bald alle Verbesserungen der ersten Periode der Volksfront verdunkeln.

Der alte bürgerliche Staatsapparat blieb bestehen, v.a. Armee und Sicherheitskräfte. Trotz aller Verstaatlichungen funktionierte die Wirtschaft immer noch auf kapitalistische Art und große Bereiche der Wirtschaft - v.a. der in Chile große Sektor der Klein- und Mittelbetriebe - blieben unangetastet.

Der von der Volksfront angestrebte Klassenkompromiss und die Zusicherungen an die weitere Existenz großer Teile der chilenischen Klein- und Mittelbourgeoisie schienen Allende und seinen UP- Partnern ein Garant dafür zu sein, dass Wirtschaft, Staatsapparat und Armee sich verfassungskonform verhalten würden. Anfangs, als die Vertreter der Ordnung in Defensive waren, war das auch der Fall. Doch es sollte sich bald ändern.

Volksfront in der Krise

Die Anfangerfolge der UP zogen die Massen ebenso stark an, wie sie die Bourgeoisie abschreckten. Die bürgerlichen Kräfte formierten sich. Die faschistische Bewegung Patria y Libertad (PyL) wurde zum Attraktionspol für alle, die dem Volksfrontprojekt überhaupt den Garaus und alle Reformen und sozialen Errungenschaften rückgängig machen wollten. Die PyL griff mit offenem Terror ArbeiterInnen und Bauern, GewerkschafterInnen und Linke an.

Aufgeschreckt durch die Enteignung des US-Kapitals übten die USA Druck auf den Kupferweltmarktpreis aus. Daraufhin verfiel dieser, wodurch Chile enorme Einnahmen entgingen. Zugleich wurden auf Druck der USA zugesagte Kredite zurückgezogen. Auch die chilenischen Kapitalisten zogen ihr Kapital aus Chile ab.

Die Folge davon waren leere Staatskassen. Dem versuchte die Regierung durch das Anwerfen der Geldpresse zu begegnen, was wiederum verstärkte Inflation zur Folge hatte. Diese wirtschaftliche Flaute bewirkte, dass sich immer größere Teile der Mittelschichten und des Kleinbürgertums von der UP ab- und der bürgerlichen Opposition zuwandten. Zugleich übten sie auf den Staatsapparat und die Armee immer größeren Druck aus, Allende zu stürzen - ein Militärputsch wurde immer wahrscheinlicher.

Zunächst jedoch gingen nicht Soldaten, sondern (klein)bürgerlichen Frauen auf die Straße und protestierten auf demagogische Weise mit leeren Töpfen. Dann - ab Oktober 1972 - streikten die Kleinkapitalisten, bes. die Fuhrunternehmer und legten das ganze Land lahm.

Begleitet wurden diese dramatischen Ereignisse durch Komplotte und Intrigen hinter den Kulissen. Eine reaktionäre Allianz von CIA, US-State Departement, PyL, Generalen und hohen Staatsbeamten plante Mordanschläge gegen Allende, boykottierte die UP-Politik, terrorisierte ArbeiterInnen und Bauern, ermordete linke AktivistInnen und regierungstreue Generäle.

Im Juni 1973 schließlich verhinderten zehntausende ProletarierInnen einen von den Reaktionären geplanten Marsch auf Santiago. Diese Monate der Unruhe vor dem Sturm deuteten unübersehbar auf die nahe Entscheidungsschlacht hin. Allende und die UP jedoch hielten weiter an ihren Illusionen von Klassenkompromiss und Verfassungstreue fest.

Die Volksfront hatte ihr Reform-Pulver bald verschossen und geriet immer stärker unter Druck. Auch die Massen wurden mit Allendes Reformen zunehmend unzufriedener, ohne jedoch mit der UP politisch zu brechen.

Die Landreform wurde nicht konsequent umgesetzt, wodurch viele Landlose oder Landarme nicht genügend Fläche bekamen, um davon existieren bzw. mit größeren Betrieben konkurrieren zu können. Die Landbevölkerung griff deshalb zu spontanen Besetzungen und bildete gegen die reaktionär-faschistischen Terrorbanden der Reichen Selbstschutzorgane.

Wirtschaftskrise, Inflation und die von den (Transport)Kapitalisten erzeugte Versorgungskrise rief auch die Arbeiterklasse auf den Plan. Sie verlangte nicht nur energische Maßnahmen gegen die Unternehmerboykotte von der Regierung. Sie organisierte sich in betrieblichen und Wohngebietskomitees, sie bildete Milizen (die tw. bewaffnet waren), sie besetzte Betriebe und übte die Kontrolle aus - zum Schluss über fast 1.000 Unternehmen! Wie reagierte Allendes "Regierung des Volkes" auf die Ansätze von Selbstorganisation und -bewaffnung der Massen?

Sie verurteilte diese "linksradikalen" Aktionen und rief zur Mäßigung auf, um die Bürgerlichen nicht aufzuschrecken und zu noch größerem Widerstand zu ermuntern. Dabei tat sich die "kommunistische" Partei besonders negativ hervor. Die PyL wurde nicht energisch bekämpft. Polizei und Armee wurden sogar gegen ArbeiterInnen und Bauern eingesetzt, die "verfassungswidrig" Unternehmen besetzt oder sich bewaffnet hatten.

Trotz aller rhetorischen Aufforderungen Allendes an die Massen, die Unidad Popular zu verteidigen, behinderte er real alles, was gegen die Reaktion nötig gewesen wäre. Gegen die Mobilisierungen der Reaktion und deren Putschvorbereitungen gab es nur ein Mittel: Mobilisierung der Arbeiter und der Landarmut.

Die besetzten Betriebe und Ländereien hätten zur Organisationszentren von betrieblichen und lokalen Räten und Milizen werden und diese regional und bundesweit zentralisiert werden müssen. Anders als in der russischen oder auch deutschen Revolution gab es jedoch in Chile nie eine zentralisierte Rätestruktur, die als Gegenmachtzentrum zur Staatsmacht hätte fungieren können.

Diese hätten den Widerstand gegen die Konterrevolution landesweit organisieren, die ArbeiterInnen und Bauern bewaffnen und mittels ihrer bewaffneten Macht den bürgerlichen Staat - v.a. die Armee - zerschlagen können und müssen. Gegen den Wirtschaftsboykott gab es nur einen Weg: Enteignung der ganzen Bourgeoisie und Einführung einer demokratisch geplanten Wirtschaft.

Politik der Linke

Obwohl einige linke Organisationen, besonders die MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) Elemente dieser Strategie verfolgten, fehlte es an einer politischen Partei, die bereits vor 1973 ein revolutionäres Programm in die Vorhut der Arbeiterklasse getragen und deshalb im entscheidenden Moment hätte stark genug sein können, die Führung in der Revolution zu übernehmen. Die MIR (zu denen auch die "TrotzkistInnen" des VS gehörten) pendelte aber zwischen opportunistischer Anpassung an die UP und revolutionärer Politik.

So charakterisierte die MIR die Volksfront in den ersten Monaten als "revolutionäre Volksregierung". Das war die UP aber trotz unbestreitbarer materieller Verbesserung für die Massen nie. Die UP war keine "Arbeiter- und Bauernregierung", die sich gegen den Kapitalismus wandte, sondern eine, wenn auch recht linke bürgerliche Regierung, die ein Bollwerk gegen die Revolution der Massen bildete.

Die Politik der MIR in den ersten Monaten der Volksfront führte aber dazu, dass die Illusionen der Massen in diese Regierung Allende bestärkt und nicht bekämpft wurden. Wenn selbst die "revolutionäre Linke" die Volksfront als Regierung eine "revolutionäre Regierung" betrachtete - wozu brauchten die Massen denn Räte und eine Arbeiter- und Bauernregierung? Erst als sich die Volksfront direkt gegen die ArbeiterInnen wandte, ändert der MIR sein Politik - aber auch das nur inkonsequent.

Zudem hinderte sie ihre strategische Ausrichtung am Guevarismus daran, die Arbeiterklasse als historisches Subjekt der Revolution zu begreifen und systematisch in diesem Milieu zu arbeiten. Die MIR war im wesentlichen eine Organisation, die unter StudentInnen und unter der Bauernschaft veranktert, kaum jedoch im chilenischen Proletariat, das von SP und KP dominiert wurde.

Das Ende

Schon im Sommer 1973 war die UP-Regierung fast handlungsunfähig. Es gab eine Doppelmachtsituation. Hier die Massen mit wenigen Machtmitteln, ohne landesweite Gegenmachtorgane und ohne konsequente revolutionäre Führung unter der Regierung Allende; dort die Reaktion, die den Staatsapparat und die Armee beherrschte und zu allem entschlossen war. Die UP unter Allendes war keine Speerspitze der Massen gegen den drohenden Putsch, sie wollte vermitteln, als es die Entscheidung zu erzwingen galt!

Es ging nur noch um Wochen oder Tage. Doch Allende schürte weiter die Illusion der Verfassungstreue, er mobilisiert die Massen nicht und lullte sie mit seinen demokratischen Beschwörungen im Angesicht der Gefahr ein.

Als dann am 11. September die Moneda bombardiert wurde, blieb Allende auf seinem Posten und rief das Volk noch einmal zur "Verteidigung der Revolution auf". Doch trotz des verzweifelten Widerstands vieler ArbeiterInnen, gelang es dem Militär Dank seiner Überlegenheit und des rigorosen Terrors bald, das Land vollständig zu kontrollieren. Die Massen waren von der Volksfront demobilisiert und demoralisiert worden, als dass sie den Schlägen des Militärs hätten standhalten können. Zudem fehlte eine einheitliche politische und militärische Führung in Form einer revolutionären Partei.

Das chilenische Proletariat bezahlte einen hohen Blutzoll für die Illusionen ihrer Volksfront-FührerInnen. Nicht nur Präsident Allende kam um. Zehntausende - Linke, GewerkschafterInnen, ArbeiterInnen, Bauern - wurden von der Soldateska getötet, verhaftet oder mussten ins Exil gehen. Auf Allendes "halbe Revolution" folgte eine ganze Konterevolution.

Allendes Versuch, die gegensätzlichen Klasseninteressen von Proletariat und Bourgeoisie wie Feuer und Wasser miteinander zu versöhnen endete damit, dass die Volksfront selbst verdampfte.

Die chilenische Erfahrung ist keine Ausnahme. Seit Mitte der 1930er war die Volksfrontstrategie die vorherrschende Strategie aller stalinistischen Parteien. Ihr politischer Königsweg erwies sich aber ohne Ausnahme in jedem Fall nur als Sackgasse, als Weg in eine blutige Niederlage.

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Nr. 84, Oktober 2003

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