Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Brasilien nach dem Putsch

Regionalwahlen und neue Klassenkämpfe

Eloy Nogueira, Neue Internationale 214, November 2016

Nach der Einleitung des Impeachmentprozesses gegen die Präsidentin Dilma Rousseff (PT = ArbeiterInnenpartei) durch das Abgeordnetenhaus am 17. April 2016, nach der Bestätigung durch den Senat, der die Präsidentin dann für 180 Tage suspendierte, besetzte der Putschist Michel Temer (PMDB = Partido do Movimento Democrático Brasileiro; Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung) das Amt des Interims-Präsidenten. Die Putschisten waren sich ihrer Sache so sicher, auch was die weiteren Aktionen des Senats betraf, dass sie sofort mit einer Regierungs“reform“ begannen, die in der sogenannten Medida Provisoria MP 726 (in etwa: vorläufige Maßnahmen) zusammengefasst ist und die sehr deutlich werden lässt, welchen Rückschritt dies für das Land bedeutet.

Angriffe

Das MP 726 war das erste Dokument der Putschistenregierung, das in einer Sonderausgabe des offiziellen Gesetzblattes der Regierung veröffentlicht wurde. In ihm wurde von den Hintermännern des Putsches klar zum Ausdruck gebracht, dass man jegliche Einflussnahme von Minderheiten und sozialen Bewegungen auf Regierungsstrukturen zu unterbinden wünscht. Alle Institutionen, die mit sozialen Bewegungen verbunden waren, wurden aufgelöst. Dies zeigt sich am offensichtlichsten in der Abschaffung des Frauenministeriums, des Ministeriums für Gleichberechtigung ethnischer Minderheiten und für die Durchsetzung von Menschenrechten - Institutionen, die von der PT-Regierung gebildet wurden, die den Problemen zumindest formale Sichtbarkeit gaben.

Nach der Bestätigung der Amtsenthebung durch den Senat am 31. August und der offiziellen Übernahme des Präsidentenamts durch Temer wurde es für alle Welt klar, dass es sich um einen Putsch handelte. Am unverblümtesten brachte es der Senator Acir Gurgacz in einem TV-Interview zum Ausdruck, in dem er nochmal bestätigte, dass man eigentlich kein wirkliches Verbrechen bei Dilma nachweisen konnte. Aber „nach der Unregierbarkeit müssen wir zum Regieren zurückkehren“, rechtfertigte er sich. Diese Erklärung eines Senators, der für die Amtsenthebung gestimmt hat, beweist für alle deutlich, dass es sich tatsächlich um einen institutionellen Putsch gehandelt hat.

Es wurde auch klar, dass sich dieser gegen die ArbeiterInnenklasse gerichtet hat, vor allem nachdem die Putschistenregierung eine Rentenreform angekündigt hat, die das Renteneintrittsalter für Frauen und Männer auf 65 anhebt. Sie plant außerdem eine Arbeitsmarktreform mit dem Grundprinzip, dass Unternehmenserfolg immer Vorrang vor arbeitsrechtlichen Regelungen hat und dass die Prekarisierung von befristet Beschäftigten auch auf Vollzeitbeschäftigte ausgedehnt werden kann. Dies bedeutet, dass in einer brasilianischen Fabrik demnächst niemand mehr mit einem festen Arbeitsvertrag eingestellt zu sein braucht, sondern alle Beschäftigten prekäre Arbeitsverhältnisse haben können.

Nachdem die Proteste auf den Straßen gegen die Putschisten weiter anwuchsen, haben sie diese Reformen auf Anfang nächsten Jahres verschoben.

Widerspiegelung des Putsches in den Regionalwahlen

Am 2. Oktober fanden Kommunalwahlen für Bürgermeisterämter und Gemeinderäte statt. Dabei verlor die PT 388 ihrer vormals 644 Bürgermeisterämter. Es bleiben ihr gerade 256, wobei sie auch das wichtigste dieser Ämter verlor, die Präfektur der Stadt Sao Paulo.

Auf diese Weise stürzte die PT, die die Partei mit den meisten Bürgermeisterämtern war, vom ersten auf den fünften Platz ab und, was die Zahl der Gesamtstimmen betrifft, sogar vom dritten auf den zehnten Platz. Wir müssen feststellen, dass die Medienkampagnen gegen die Linke insgesamt von Erfolg gekrönt waren. Obwohl die Rechtsparteien auch viele Stimmen verloren, erscheinen sie als Sieger der Wahlen. Jedoch sind die Stimmen, die die PT verloren hat, nicht in großer Zahl anderen linken Parteien zugeflossen. Die große Zahl von Wahlenthaltungen, ungültigen oder leeren Stimmzetteln zeigt vielmehr eine große Unzufriedenheit und eine Diskreditierung der politischen Parteien insgesamt.

Wie wir sehen, gibt es nicht nur Wüste. Auf der positiven Seite steht, dass die Stimmen, die die PT verloren hat, nicht in nennenswerter Zahl der Rechten zugeflossen sind.

Um eine Idee davon zu bekommen: in Sao Paulo, der größten Stadt des Landes, hat der Kandidat der Rechten, Joao Doria (PSDB) die Wahl schon im ersten Wahlgang mit 3,085 Millionen Stimmen (53,29% der gültigen Stimmen) gewonnen. Fernando Haddad (PT), der bisherige Amtsinhaber, kam mit 16,68% auf den zweiten Platz. Diese Zahlen scheinen einen überwältigenden Sieg des Kandidaten der Neoliberalen über die PT zu zeigen. Jedoch war die Zahl der Wahlenthaltungen, ungültigen oder leeren Stimmzettel zusammen genommen größer als die Zahl der Stimmen, mit der Doria gewann. Eine Gesamtzahl von 3,096 Millionen WählerInnen wollte weder den PT- noch einen der anderen 9 Kandidaten. 367.471 gaben leere Stimmzettel ab und 788.379 ungültige. 1.940.454 von 8,8 Millionen Wahlberechtigten gingen erst gar nicht zur Wahl.

Gemäß der Zeitung Folha de Sao Paulo „hat die PT Listen in 19 der größten Städte aufgestellt und dabei nur in 7 mehr als 10% der Stimmen erhalten (eine davon wurde im ersten Wahlgang gewonnen: Rio Branco; in einer zweiten, in Recife, ist sie im zweiten Wahlgang).“

Auf der anderen Seite hat die linke PSOL (Partido Socialismo e Liberdade = Partei für Sozialismus und Freiheit) mit einer wesentlich kleineren Parteiorganisation mehr als 10% in 5 der größten 22 Städte erhalten, in denen sie angetreten ist, wobei sie es in Belem und Rio de Janeiro in den zweiten Wahlgang geschafft hat. Die PSOL hat wie schon 2012 zwei Präfekturen gewonnen (Janduis und Jacana, beide in Rio Grande do Norte) und hat gute Aussichten in Sorocaba, außer in den beiden genannten Großstädten. Daher gibt es für sie eine konkrete Aussicht auf Wachstum, vor allem im Fall des Sieges in den beiden Großstädten.

In Bezug auf die Gemeinderäte ist die PSOL von 49 (2012) auf 53 in diesem Jahr angestiegen. Ein leichtes Wachstum, aber nicht unwesentlich, da es sich vor allem auf große Städte wie Belem, Belo Horizonte und Porto Alegre bezieht. Allerdings besteht das Problem darin, dass die PSOL in der gegenwärtigen Lage vor allem elektoral ausgerichtet und nicht in der Lage ist, den Niedergang der PT zu nutzen, um sich als „echte“ (böse Zungen sagen auch als „kleine“) PT zu präsentieren, ohne einen Bruch mit deren reformistischer Strategie zu vollziehen.

Das große Wachstum der Wahlenthaltung und des Ungültigwählens im ganzen Land zeigt klar die Desillusionierung mit dem Weg der Veränderungen über Wahlen in Brasilien.

Konsequenzen aus dem Wahlresultat

Die Wahlniederlage der Linken war so deutlich, dass sofort danach die Putschistenregierung zusammen mit dem Kongress - trotz einer vorübergehenden Schwäche bei der Durchsetzung einer Mittelschulreform vor den Wahlen - das Projekt einer Verfassungsreform (PEC 241) auf den Tisch brachte. Demnach soll es ein Einfrieren der Ausgaben für den öffentlichen Dienst auf eine bloße Inflationsausgleichung für 20 Jahre geben (dies bedeutet auch ein Einfrieren aller Gehälter im öffentlichen Dienst).

Um die Zustimmung des Kongresses zu erhalten, empfing Temer mehr als 200 Abgeordnete zu einem Staatsbankett im Präsidentenpalast, dessen Kosten sich auf 20 Millionen Real bemessen haben sollen.

Außerdem wurde vom Haushaltsausschuss ohne jegliche Änderung der Gesetzesentwurf PL 131 in den Senat eingebracht, der vom derzeitigen Außenminister Jose Serra (PSDB) verfasst wurde, der den (internationalen) Verkauf der Explorationsrechte der Ölfelder von Pre-Sal ohne Verpflichtung auf Vorzugsrechte für Petrobras erlaubt. Dieser Gesetzesentwurf muss noch durch das Plenum des Kongresses beschlossen werden.

Gemäß dem Online-Journal “Rede Brasil Atual” schlägt Temer dem Kongress eine Reduktion der größten 11 Sozialprogramme um durchschnittlich 30 Prozent unter Einbeziehung einer Inflationsanpassung vor. Das bedeutet insgesamt 29,2 Milliarden weniger für diese Programme. Inflationsbereinigt ist dies immer noch eine Kürzung um 14%. Viele argumentieren jetzt, dass in diesem Moment diese Kürzung notwendig sei, da Brasilien dringend sein Haushaltsdefizit bewältigen müsse. Doch gleichzeitig werden Steuererleichterungen und Ausgabenerhöhungen durchgeführt, so dass z.B. die Ausgaben um 4,8% und 158 Milliarden Real höher sind, als sie noch von der Dilma-Regierung geplant waren.

Wenn man diese Ausgaben noch näher betrachtet, wird das Argument der Haushaltssanierung noch fragwürdiger. Während Sozialausgaben massiv gekürzt werden, werden die Ausgaben für Subventionen des agro-industriellen Komplexes (zufälligerweise sind deren Eigentümer die Hauptfinanziers der regierenden PMDB) um 1,47 Milliarden Real gesteigert, die Militärausgaben um 175 Millionen und Ausgaben für Bauten und Flughäfen um 186 Millionen. Außerdem Ausgaben für die Nuklearindustrie, Kraftwerksausbau und Außeninterventionen (letzteres wieder unter Kommando von Jose Serra).

Sicherlich werden noch weitere Angriffe auf die Errungenschaften und Rechte der ArbeiterInnenklasse zu erwarten sein. Für die ArbeiterInnenklasse gibt es aktuell daher vor allem eine Antwort.

Generalstreik!

Der Gewerkschaftsverband CUT hat bereits zu einem „Generalstreik“ für den 11. November aufgerufen, zusammen mit dem StudentInnenverband UNE. Dieser will den Streiktag mit gemeinsamen Aktionen von StudentInnen, ProfessorInnen und Universitätsangestellten auf den Universitäten und Fakultäten unterstützen.

Die MittelschülerInnen haben bereits verschiedene öffentliche Schulen im ganzen Land besetzt. Ihr Kampf richtet die sich speziell gegen die Reform der mittleren Reife, die auch zu den „provisorischen Maßnahmen“ der Putschistenregierung gehörte. Dabei sollen „unnütze“ Fächer wie Sport, Soziologie und Philosophie abgeschafft, Geografie und Geschichte zusammengelegt werden. Außerdem soll SchülerInnen aus öffentlichen Schulen praktisch der Zugang zur Universität verwehrt werden.

Dagegen hat sich eine dynamische, landesweite Jugendbewegung gebildet. Ende Oktober waren 1060 Schulen besetzt. Der nationale SchülerInnenverband UBES hatte sich zwar noch nicht zu einem Generalstreik geäußert, wird sich ihm aber wahrscheinlich anschließen. Außerdem sind auch fast 100 Universitäten besetzt.

Zugleich haben rechts-extreme Gruppierungen wie MBL zusammen mit der Polizei erste Versuche unternommen, Besetzungen zu brechen, wurde aber von Selbstverteidigungsorganen der SchülerInnen in Curitiba und Belo Horizonte erfolgreich gestoppt.

In dieser Situation haben der größte gewerkschaftliche Dachverband CUT, der mit der PT verbunden ist, und andere Gewerkschaften für den 11. November „einen nationalen Tag des Streiks und der Paralyse“ ausgerufen, der „die Aufmerksamkeit des Landes auf die Bedrohung der ArbeiterInnenklasse durch die Renten- und Arbeitsrechtsreform lenkt“.

Am Ende eines Treffens verschiedener Gewerkschaftsverbände erklärte der Vorsitzende der CUT, Vagner Freitas: „Was die Gewerkschaftsverbände heute beschlossen haben, ist ein Terminplan für Kampfmaßnahmen gegen das Zurückdrehen der Rechte der ArbeiterInnenklasse. Wir werden gegen das PEC 241 kämpfen, gegen die Rentenreform und gegen die Arbeitsrechtreform“.

Nach dem 11. November wollen die Verbände beschließen, wie sie die Kampfmaßnahmen ausdehnen, vor allem in Hinblick auf einen nächsten beschlossenen Aktionstag am 25. November. Jedoch, erklärte Freitas, was sich nicht ändere, seien die Ziele für die Aktionen. „Es wird eine Agenda der Sammlung der Kräfte sein, wir werden am 11. und am 25. auf der Straße sein und den Weg zum Generalstreik weiter beschreiten, wenn die Regierenden nicht klar zum Ausdruck bringen, dass sie von ihrem Angriff auf die Rechte der ArbeiterInnenklasse zurücktreten“.

Auch wenn die CUT-Führung verbal aufgerüstet und zwei landesweite befristete Streiktage ausgerufen hat, so sollte sich niemand darüber hinwegtäuschen, dass sie einen wirklichen, also unbefristeten Generalstreik, der die Machtfrage aufwerfen würde, unbedingt vermeiden will. Dabei verliert sie wichtige Zeit. Die Bewegung der SchülerInnen und Studierenden wächst. Zugleich ist die Putschistenregierung politisch schwächer, als sie selbst erwartet hat. Während sie Dilma kein wirkliches Verbrechen oder persönliche Bereicherung nachweisen konnte, werden mehr und mehr Korruptionsfälle in der Regierung bekannt. So soll einer der politischen Köpfe der Putschistenregierung, Außenminister Serra 23 Millionen vom Odebrecht-Konzern erhalten haben. Weitere Minister stehen kurz vor dem Rücktritt.

All das bedeutet, dass eigentlich eine günstige Gelegenheit vorhanden wäre, mit einer offensiven Politik, mit einem unbefristeten Generalstreik zurückzuschlagen und das Kräfteverhältnis zugunsten der ArbeiterInnenklasse zu ändern. Die reformistische Strategie der Gewerkschaftsbürokratie und der PT stellt dabei nach wie vor ein Haupthindernis dar.

Ein Vorschlag für die Linke

Wir haben heute eine starke Bewegung auf den Straßen, vor allem von SchülerInnen und sozialen Bewegungen wie der MST (Movimento dos Sem Terra = Bewegung der Landlosen), und der MTST (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto = Bewegung der obdachlosen ArbeiterInnen).

Alle diese Protestbewegungen der Linken, die die Straßen in den wichtigsten Städten des Landes besetzten, haben genug Kraft, um ein neues wirksames Werkzeug für den Klassenkampf der ArbeiterInnenklasse zu schaffen, eine neue Partei, die klar in ihrem Programm ist, mit revolutionärer Perspektive, die sich nicht an die Bedingungen des kapitalistischen Systems anpasst und sich nicht auf bürgerliche Wahlen ausrichtet, wie dies die PT und die PCdoB seit langem gemacht haben.

Unser Vorschlag richtet sich an die sozialen Bewegungen, an die Gewerkschaftsverbände, die Jugend, die rassistisch Unterdrückten, die LGBTQ, die Frauen, verschiedene Parteien der Linken, kämpfende SchülerInnen und StudentInnen, letztlich alle, die gegen die Putschisten kämpfen. Wir propagieren die Idee, diesen Widerstandbewegungen Organisierung zu verleihen, regionale, bundesstaatliche und nationale Organisationskomitees zu schaffen, mit Delegiertenwahlen, Abwählbarkeit und Verbindung zu den kämpfenden Bewegungen. Dies muss aber Hand in Hand gehen mit dem Kampf um die Schaffung einer solchen neuen ArbeiterInnenpartei, die unserer Meinung nach eine revolutionäre sozialistische und internationalistische Partei sein muss.

Leserbrief schreiben   zur Startseite


Nr. 214, November 2016

*  Antirassismus: Stellt Euch vor, der Rassismus bereitet sich auf und die Linke verdrückt sich ...
*  Interview: Afghanistan ist nicht sicher!
*  Rassistische Abkommen: Abschiebungen haben System
*  Rot-Rot-Grün: Alternative für nächste Bundesregierung?
*  Solidarität mit Antifaschisten: Gefangene unserer Freund und Genossen Pat
*  Houellebeq: Geister Brandstifter für das Bildungsbürgertum
*  Leiharbeit: Missbrauch legal ausgeweitet
*  Kaschmir: Indien und Pakistan mobilisieren
*  CETA: Mutiges Nein in Wallonien?
*  USA: Endspurt im Wahlkampf
*  Corbyns zweiter Wahlsieg: Ergebnisse und Perspektiven
*  Brasilien nach dem Putsch: Regionalwahlen und neue Klassenkämpfe