Arbeitermacht
Liga für die fünfte Internationale

Nord & Südamerika Europa Asien & Australien


google.de arbeitermacht.de

Britannien

Großdemos gegen Tory-Politik

Dave Stockton, Neue Internationale 209, Mai 2016

Am 16. April brachte die Demonstration der „Volksversammlung“ (People's Assembly) für Gesundheit, Wohnungen, Arbeitsplätze und Bildung etwa 150000 Menschen auf die Beine.

Die „Volksversammlung“ ist Britanniens größte Bewegung gegen die Kürzungspolitik. Sie umschließt die großen Gewerkschaften, viele lokale Kampagnen, Labour Party-Wahlkreisverbände ebenso wie die hauptsächlichen Gruppen der Linken. Erstmals unterstützten auch der Führer der Labour Party Jeremy Corbyn und sein Stellvertreter John McDonnell die Bewegung.

Der Marsch lief unter vier Forderungen:

im staatlichen Gesundheitswesen NHS ruft die Bewegung zu einem Ende der Regierungspolitik mit Kürzungen und Privatisierung auf;

angesichts der Knappheit an bezahlbarem Wohnraum wird die Mietpreiskontrolle im Privatsektor gefordert sowie ein Ende des Ausverkaufs bzw. der Schädigung des staatlichen sozialen Wohnungsbaus;

in Bezug auf Arbeitsplätze soll ein allgemeiner Lohn, von dem man leben kann, eingeführt und das Antigewerkschaftsgesetz gestrichen werden;

in der Bildungsfrage sollen die Abschaffung der Jahresstudiengebühren von 9000 Pfund und der Marktorientierung der Ausbildung herbeigeführt werden.

Jeremy Corbyn, der sich gerade auf Wahlkampfreise für die Lokalwahlen in Liverpool befand, sandte eine Videobotschaft an die DemonstrantInnen. Er sagte: „Die Austerität, in der wir uns befinden, ist eine politische Entscheidung, keine ökonomische Notwendigkeit,“ und versprach, dass seine Partei sie bekämpfen wird.

Gewerkschafts- und GemeinschaftsaktivistInnen

Der Protestzug formierte sich am Mittag in der zentralen Londoner Universität. Die Gewerkschaften stellten große Blöcke: Unite, Unison, die LehrerInnengewerkschaft, die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, die KommunikationsarbeiterInnengewerkschaft, Gewerkschaft der Feuerwehrleute sowie auszubildende Krankenpflegekräfte und JungärztInnen, die mit der Regierung in Streit liegen. Der Marsch war äußerst bunt mit einen Meer aus Gewerkschaftsfahnen und ihren Riesenballons.

Ihnen schlossen  sich viele örtliche AktivistInnen gegen die Kürzungen an, VerteidigerInnen des staatlichen Gesundheitswesens, UnterstützerInnen der 40000 JungärztInnen, gewillt am 26. und 27. April  umfassend zu streiken, auch Flüchtlings- und Einwanderer-Solidaritätsgruppen wie „London nach Calais“ und „Aufstehen gegen Rassismus“ reihten sich ein, deren AnhängerInnen regelmäßig das berüchtigte „Dschungelcamp“ nahe dem französischen Hafen besuchen, wo Flüchtlinge unter erschreckenden Bedingungen hausen und ihnen die Weiterreise nach Britannien verwehrt wird.

Auch „Momentum“, die bereits zehntausende  Mitglieder zählende Organisation von AnhängerInnen des neuen Labourvorsitzenden Jeremy Corbyn, war stark auf der Demonstration vertreten. Sie trugen einen Wald von Plakaten JC4PM (Jeremy Corbyn als Premierminister).

Als der Zug schließlich den Trafalgarplatz erreichte, unweit vom Parlament und der Residenz des Premierministers in der Downing Street 10, folgten die üblichen Reden am Fuß der Nelson-Säule. Diesmal allerdings ließen die Reden aufhorchen, nicht zuletzt weil sie von einem altgedienten Führer der Labour Party kamen. Solche AnführerInnen haben sich höchst selten bei kämpferischen Märschen gegen die Kürzungspolitik seit der großen Rezession von 2008 blicken lassen.

John McDonnell, der Wirtschaftssprecher der Labour Party, hielt die politische Hauptrede. In ihr ließ er eine Botschaft verlauten, wie sie seit vielen Jahren nicht mehr von einem Führer dieser Partei zu vernehmen war:

„Die Bekämpfung der Austerität ist der politische Kampf unserer Zeit. Die Austerität ist die wahre Gefahr für das staatliche Gesundheitswesen. Die Austerität hält die Ortsverwaltungen davon ab, Häuser bauen zu lassen. Die Austerität drängt die Menschen aus der Arbeit und in Nullstunden-Verträge. Und es ist die Austerität, die die Zukunft unserer jungen Leute bedroht.“

20 Jahre lang haben die FührerInnen der Labour Party von Tony Blair bis Ed Miliband eine abgemilderte Sorte der neoliberalen Politik der Konservativen verkauft - bei der Privatisierung v. a. in der Bildungspolitik und im Gesundheitswesen. Sie haben sich regelmäßig von den Gewerkschaften distanziert und Streikende trotz der Millionensummen an Unterstützung für Labour aus gewerkschaftlichen Kassen verurteilt.

Versprechen

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten versprach nun eine führende Persönlichkeit, dass die „Reformen“ einer Labour-Regierung nicht Kürzungen, sondern Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung bedeuten sollen, für jene, die entweder keine oder unsichere und schlecht bezahlte Arbeitsplätze haben, für die Behinderten und Flüchtlinge, die in Britannien Asyl suchen.

„Als Labour-Regierung im Amt werden wir die Einsparmaßnahmen beenden. Wir werden die Privatisierung unseres staatlichen Gesundheitswesens aussetzen und es wieder öffentlich machen. Und für all jene Menschen, die verzweifelt auf eine Wohnung warten, kann ich dieses Versprechen abgeben: wir werden hunderttausende von städtischen Wohnungen bauen, die die Obdachlosigkeit beenden werden.“

Er ergänzte, dass die nächste Labour-Regierung die Arbeitszulassungsbedingungen streichen würde, die angewendet worden sind, um die Behinderten von staatlicher Unterstützung auszuschließen. Das gelte auch für die „Schlafzimmersteuer“, die die Älteren und Behinderten dazu zwingt, ihre Wohnungen zu verlassen, in denen es zusätzliche Bettenräume für BetreuerInnen gibt.

McDonnell fügte als Antwort auf die Frage, wie die Reformen denn bezahlt werden sollen, hinzu: „Wir lassen die Reichen und Unternehmen ihren Weg in die Gesellschaft bezahlen.“

Er verwies auf die kürzlichen Enthüllungen des Panama-Skandals, der zeigte, wie Billionen vor steuerlichem Zugriff  auf sogenannten „Schatzinseln“ wie den Cayman-Inseln, die zudem oft britische Überseehalbkolonien sind, versteckt worden sind. Zum Schluss rief er den Premierminister Cameron zum Rücktritt auf und meinte: „und seine Partei kann er auch gleich mitnehmen.“

McDonnell lobte den Mut der JungärztInnen, unterstützte ihren Streik und schloss: „Neben Mut und Entschlossenheit brauchen wir Solidarität. Die ArbeiterInnen zusammen werden niemals besiegt werden.“ 

Nach ihm ergriff Len McCluskey, der Generalsekretär der mit 1,42 Millionen mitgliederstärksten britischen gewerkschaftlichen Vereinigung Unite, die v. a. in der verarbeitenden Industrie vertreten ist, das Wort. Ihre Mitglieder stehen unter Druck seit dem Zusammenbruch weiter Teile der britischen Stahlindustrie, die von Margaret Thatcher in den 80er Jahren privatisiert wurde.

Mark Turner, ein Stahlarbeiter beim Tata-Stahlwerk, das von Schließung bedroht ist, sprach insbesondere über dessen zentrale Bedeutung beim Ausbau aller Infrastruktur, die wir für eine bessere Welt brauchen, und wie verheerend sich die Schließung von Fabriken auf das Leben von Stahlarbeitern, ihre Familien und deren Gemeinden auswirkt.

Den lautesten Beifall erhielt Yannis Gourtsoyannis, ein Jungarzt vom Komitee der Britischen Medizinischen Vereinigung. Er sagte:

„Die Konservativen wollen dem Gesundheitswesen den Bauch aufschlitzen und es dem privaten Profit opfern. Eine Million ArbeiterInnen im Gesundheitsdienst wollen sie damit nicht davonkommen lassen. Seid auf unserer Seite! Die LehrerInnengewerkschaft mobilisiert mit uns, und wir mit ihnen.“

Die LehrerInnengewerkschaft sieht sich einem Antrag auf zwangsweise „Zertifizierung“ an allen englischen Schulen ausgesetzt, d. h. die Schulen sollen der Kontrolle durch die gewählten Ortsverwaltungen entzogen und stattdessen für private Investoren geöffnet und der Kontrolle durch lokale Geschäftsleute, Bildungsunternehmen und Kirchen  ausgeliefert werden.

Kämpfe und Perspektive

Eine ganze Reihe von Kämpfen liegt vor der britischen ArbeiterInnenbewegung, wofür diese Demonstration das Sprungbrett sein könnte: Unterstützung der JungärztInnen und LehrerInnen ist nötig, um die Auflagen der Regierung zu vereiteln.  Ein Wahlkampf  für die Durchsetzung von Labour-KandidatInnen in den Bürgermeister- und Stadtratswahlen Anfang Mai muss geführt werden. Eine Gegenkampagne zum „Austritt Britanniens aus der EU“ bei der Volksabstimmung sowie zur Verteidigung des Rechts von Flüchtlingen und Arbeitssuchenden, nach Britannien zu kommen, ist vonnöten.

Außerdem verfügt die Tory-Partei nur über eine kleine parlamentarische Mehrheit und ist in sich tief über Europa gespalten und musste bereits Abstriche bei ihren reaktionären Gesetzesvorhaben machen. Die Labour-, Gewerkschafts- und sozialistischen Bewegungen müssen ihre Kräfte vor Ort und landesweit vereinigen und den Konservativen Niederlage um Niederlage beibringen. Wir können und müssen diese erzreaktionäre Tory-Regierung  zu Fall bringen, ehe sie ihre Pläne zur Zerstörung unseres Gesundheits- und Bildungssystems durchdrücken und die Gewerkschaften weiter durch Gesetze knebeln kann.

Wenn Cameron stürzt, müssen wir eine Labour-Regierung wählen, die ernsthaft Corbyns und McDonnells Versprechen umsetzen will. Das bedeutet auch, den rechten Parteiflügel zu schlagen, der immer noch den Apparat und die Parlamentsfraktion kontrolliert.

Aber wir müssen auch erkennen, dass dies nur der Beginn einer Entscheidungsschlacht sein kann. Am Beispiel Syriza in Griechenland konnten wir erleben, dass die Wahl einer Regierung, die für die Abschaffung der Kürzungsprogramme eintritt, wild entschlossene ökonomische und politische Sabotage von Seiten der Banker, Bosse und internationalen Märkte hervorruft. Diese Offensive des Kapitals kann nur durch eine militante ArbeiterInnenregierung, die auf der örtlichen und landesweiten aktiven Gewerkschaftsbewegung ruht, zurückgeschlagen werden.

Eine solche Regierung wird nicht bei den Reformen, die von der neuen Labour-Führung befürwortet werden, Halt machen dürfen. Sie muss ansteuern, die ökonomische und Staatsmacht der Ausbeuter ein für alle Mal zu brechen, d. h. sie muss eine sozialistische Revolution durchführen.

Leserbrief schreiben   zur Startseite


Nr. 209, Mai 2016
*  Erster Mai: Klassenkampf. Befreiung. Revolution
*  Drohende Entlassungen: Schatten der kommenden Krise
*  VW-Krise: Wer wischt den Schmutz weg?
*  GewerkschafterInnenaufruf: Für eine anti-rassistische Kampagne in den Betrieben
*  Jugend gegen Rassismus: Wie weiter nach dem Aktionstag?
*  Schulstreik: Wie geht's weiter an deiner Schule?
*  China vor 50 Jahren: Die sogenannte "Kulturrevolution"
*  Britannien: Großdemos gegen Tory-Politik
*  Kampf gegen Frauenunterdrückung: Abtreibungsverbot in Polen
*  Brasilien: Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg - der Kampf geht weiter!
*  Präsidentschaftswahlen in Österreich: Politisches Erdbeben mit Ansage