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Flüchtlings-Camp auf dem Berliner Oranienplatz

Ein zweites Leben

Interview mit Henry aus Nigeria, Neue Internationale 175, Dezember 2012/Januar 2013

Neue Internationale (NI): Seit mehreren Wochen haben Flüchtlinge ein Camp am Berliner Oranienplatz errichtet, um gegen die ummenschlichen Bedingungen in den Lagern, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, des Asylrechts sowie Arbeitsverbot zu protestieren. Wie entstand der Protestmarsch?

Henry: Der Marsch begann wegen der Situation in den Asyl-Lagern in Swäbisch-Gmünd. Die Zustände sind erbärmlich, einfach unmenschlich. Als es zwei Selbstmorde innerhalb von zwei Monaten gab, sagten wir: Genug ist genug! Es gab mehrere Selbstmordversuche: einer stach sich mehrmals in den Bauch, ein anderer nahm Medikamente. Das passiert auch in anderen Lagern in Deutschland. Es ist besser, auf der Straße zu leben, als in solchen Lagern.

NI: Wo kommen die TeilnehmerInnen des Marsches her?

Hernry: Aus vielen Städten. Es gab Kundgebungen in Duisburg, Dessau, Passau, Schwäbisch-Gmünd und Stuttgart. Vor acht Monaten begannen dort die Proteste. Dann kam die Idee, einen  Marsch von Duisburg nach Berlin zu starten. Einige kamen aus Bielefeld, Bremen und Hannover mit Bussen, andere kamen zu Fuß, z.B. aus Wittenberge. Überall, wo wir hinkamen, gab es Unterstützung von deutschen AktivistInnen, z.B. Schlafmöglichkeiten, Essen und Kundgebungen. Das ist ein wichtiges Zeichen, es gibt anderen Flüchtlingen Hoffnung und Kraft!

NI: Wie antwortet die Politik?

Henry: Der Bürgermeister besuchte das Lager in Schwäbisch-Gmünd und versprach Verbesserungen. Aber es blieb bei Versprechungen. Aber jetzt wird das Lager geschlossen - das sagt eigentlich alles über die Zustände dort. Sechs Menschen lebten auf 25 Quadratmetern. Durch die Residenzpflicht können wir uns nicht frei bewegen, den Ort nicht verlassen. Wir werden behandelt wie Kriminelle, wie moderne Sklaven - obwohl wir nichts getan haben.

Vor drei Monaten wurde uns per Gerichtsurteil das Geld gekürzt. Auch mit den Lebensmittelgutscheinen, die wir statt Geld erhalten, werden wir diskriminiert. Besonders afrikanische Flüchtlinge werden so gedemütigt. Nach den Asylverfahren folgt fast immer die Abschiebung. Die Zustände im Herkunftsland werden gar nicht geprüft.

Dabei sind die Zustände in Afrika dem europäischen Imperialismus geschuldet. Er ist für Grenzen, Religion und Ausbeutung verantwortlich. Das ist das Erbe des Kolonialismus. Die EU zerstört mit ihrer Wirtschaftspolitik die ökonomischen Grundlagen Afrikas. Angeblich geht es um Demokratie, aber letztlich bestimmen die Interessen der EU-Staaten. Die Konflikte werden durch die Firmen und die westlichen Länder geschürt. Ohne diesen Einfluss hätten wir viel weniger Probleme und könnten ein normales Leben führen. So aber ist das Leben in Afrika eine Hölle! In Nigeria z.B. wurden meine Freunde von der Regierung umgebracht.

NI: Was sind Eure Ziele?

Henry: Wir wollen die Flüchtlingspolitik ändern. Wir wollen, dass alle Lager geschlossen werden. Wir wollen eine Chance haben, ein zweites Leben zu beginnen. Vor allem sind wir gegen alle Deportationen.

Der jetzige Zustand macht uns krank, er treibt die Leute bis zum Selbstmord. Deswegen sind wir hier.

Die Regierung kooperiert mit den Botschaften, daher sind wir zur Botschaft gegangen und haben sie besetzt. Die Botschaften entscheiden, welche Staatsbürgerschaft die Flüchtlinge haben und sorgen so mit für die Abschiebungen. Dafür bekommen sie Geld von der BRD. Viele Abgeschobene sind nach ihrer Rückkehr umgekommen. Auch deshalb müssen wir dagegen aufstehen!

NI: Wie fandest die Samstags-Demo?

Henry: Das war die größte Demo, auf der ich jemals war. Ich hätte gern den Verantwortlichen direkt gesagt, was wir wollen. Aber es war wichtig, dass wir unsere Botschaft öffentlich gemacht haben. So können wir Unterstützung und Solidarität bekommen.

NI: Warum gab es am Montag Ärger mit der Polizei?

Henry: Wir hatten die nigerianische Botschaft besetzt. Die Polizei hatte daraufhin die Besetzer inhaftiert. Erst eine Solidemo hat dann die Freilassung der Leute bewirkt.

NI: Wie reagieren die Einheimischen auf Euren Protest?

Henry: Viele wissen einfach nicht, wie es Flüchtlingen geht. Ich lade alle ein, sich die Zustände anzuschauen! Dann würden sich bestimmt viele fragen, wie man in solchen Verhältnissen leben soll?! Es gibt natürlich dumme Rassisten, deren Bewusstsein völlig tot ist. Aber allen anderen wollen wir zeigen, wie wir leben, damit sie das verstehen können. Es ist wichtig, dass uns Leute unterstützen. Sie sollen wissen, dass wir nicht gegen sie sind - wir sind gegen diese Verhältnisse!

NI: Viele sagen, „Asylanten“ wollen nicht arbeiten und nur die sozialen Leistungen ausnutzen.

Henry: Wir wollen arbeiten, wir wollen ein normales Leben führen - mit einem normalen Gehalt. Wir wollen Steuern zahlen, wir wollen unabhängig sein und nicht auf Unterstützung angewiesen sein. Flüchtlinge sollen die Möglichkeit bekommen, hier eine Ausbildung oder ein Studium zu machen!

Bisher bekamen wir nur 40 Euro „Taschengeld“ - was wollen wir daran ausnutzen? Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Jahr geurteilt, dass uns 132 Euro zustehen. Bislang wurde das in jedem Lager willkürlich festgesetzt.

NI: Was plant ihr?

Henry: Wir machen spontane Aktionen! Wir beraten auf täglichen Treffen, wann wir was tun können, z.B. wie wir Institutionen beeinflussen können. Wir wollen v.a. möglichst viele informieren.

NI: Was braucht ihr am dringendsten?

Henry: Vor allem brauchen wir im Camp konstant etwas zu essen - das ist das Wichtigste!

NI: Danke für das Gespräch. Wir werden Euch unterstützen und wünschen Euch viel Erfolg!

Web: www.refugeetentaction.net

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Nr. 175, Dez. 2012/Jan. 2013
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