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Grossdemonstration gegen Budgetdeckelung

Alibi oder Auftakt?

Jürgen Roth, Neue Internationale 133, Oktober 2008

135.000 Beschäftigte aus allen Krankenhäusern der Republik forderten am 25.9. in Berlin: „Der Deckel muss weg!“ Mobilisiert wurde unter dieser Parole von Gewerkschaften und „Arbeitgebern“.

Im Folgenden wollen wir die unterschiedlichen Interessenlagen von Krankenhaus„arbeitgebern“ und berufsständischen Organisationen einerseits sowie der Klinikbelegschaften und Patientinnen andererseits untersuchen. Denn, so unsere These, die Anbiederung der Gewerkschaft ver.di an die kommunalen, frei gemeinnützigen, christlichen und privaten Gesundheitsunternehmen und an die Lobbyverbände der Standesspitzenorganisationen vergeudet kostbares Kampfpotential.

Nicht nur der Deckel muss weg

Die Forderung nach Beendigung der seit 1999 gültigen Begrenzung der Krankenhausbudgets auf den Anstieg der Grundlohnsumme der Sozialversicherten war das Motto der Berliner Großdemonstration. Sie verkörpert den kleinsten gemeinsamen Nenner der aufrufenden unterschiedlichen Klassenkräfte.

In der Tat: Die laufenden Betriebskosten, die über die Kassenbeiträge finanziert werden sollen, eilen den Einnahmen immer weiter voraus. Und das, obwohl die Löhne und Gehälter der Angestellten und ArbeiterInnen in den Hospitälern, Reha- und Pflegeeinrichtungen während dieser Zeit mit Ausnahme des letzten Tarifabschlusses nominal kaum zugelegt haben. Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung sorgen für ein Austrocknen des wesentlich durch Lohnbestandteile finanzierten Gesundheitssystems.

Diese Tatsache ignoriert das auch in der Linken verbreitete Gefasel vom Sozialstaat! Inflation, Mehrwertsteuererhöhung und Monopolrenditen der Pharma-, Heilmittel- und Medizintechnikindustrie treiben die Ausgaben in die Höhe. Auch am öffentlichen Gesundheitswesen verdient sich die „freie Wirtschaft“ seit eh und je eine goldene Nase! Um die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen noch weiter zu öffnen, trägt auch der „Sozialstaat“ bei. Experten sprechen von einem kumulierten Investitionsstau von 50 Mrd. Euro.

Im dualen Finanzierungssystem obliegt den Ländern seit Anfang der 1970er Jahre die Bezahlung von Neu- und Erweiterungsinvestitionen, während die Kassen nur die Betriebsaufwendungen begleichen. Die neoliberale Politik entlastet aber die Reichen von ihren Steuerpflichten, was zur Verschuldung der öffentlichen Kassen beiträgt. Deshalb können die Kommunen ihren Aufgaben immer weniger nachkommen. Die Krankenhäuser müssen sich verschulden bzw. Investitionen aus Betriebseinnahmen bezahlen.

Sich gegen diese Missstände zu richten, ist also nachvollziehbar. Revolutionäre KommunistInnen waren verpflichtet, diese Großveranstaltung trotz ihres Volksfrontcharakters zu unterstützen - aber kritisch und ohne beim kleinsten gemeinsamen Nenner stehen zu bleiben!

Unsere Einwände waren vielfältig. Zunächst einmal betrafen sie das kurze Gedächtnis ver.dis. Bereits Anfang des Jahrzehnts hatte es einen Protest gleichen Strickmusters gegen die frisch eingeführte Budgetdeckelung gegeben. Auch damals blieb es aber bei gemeinsamen Appellen mit den Arbeit„gebern“ um mehr Geld. Diese zeigten sich zugeknöpft, worauf die „Arbeitgeber“ das zum Vorwand nahmen, einen verschärften Rationalisierungs- und Privatisierungskurs auf Kosten von Personal und PatientInnen zu fahren. Trotzdem kam auch diesmal kein warnendes Wort vor den Klinikbetreibern über ihre Lippen!

Welch hübsche Illustration der Sozialpartnerschaft: Alle sitzen im gleichen Boot, aber einige müssen nicht rudern, während immer mehr Riemen über Bord gehen!

Die vom Gesundheitsministerium kurzfristig bewilligten 3 Mrd. Euro decken nicht einmal die Hälfte der Kosten der jüngsten Tariferhöhung. Zugleich sollen 20.000 zusätzliche Pflegekräfte daraus bezahlt werden. Beides wäre nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dies machten auch alle Redner am Brandenburger Tor deutlich.

Ver.di unterließ jeden Hinweis auf den marktwirtschaftlichen Umbau des öffentlichen Gesundheitswesens. Ab 2009 gelten nur noch die Fallpauschalen (DRGs), zunächst auf Länderebene Einheitspreise pro Diagnose. In der Folge erwartet man, dass ein Drittel der bundesdeutschen Krankenhäuser pleite gehen wird. Der Einwand, dafür würden ja auch die Kosten permanent sinken, ist bewusste Rosstäuscherei. Erstens wird es eine massive Zunahme medizinisch unnötiger Behandlungen geben, wenn sie sich für das betriebswirtschaftliche Ergebnis rechnen. Diese Leistungen werden ausgeweitet. Auf der anderen Seite wird weiter rationalisiert, PatientInnen werden billiger - aufgrund Qualitätseinbußen - behandelt (blutige Pflege).

Die flächendeckende Grundversorgung wird ausgehöhlt, die Klinken werden sich weiter spezialisieren, Anfahrtswege und Wartezeiten verlängern sich, der Privatisierungsdruck nimmt zu. Diese Einsichten sind durchaus nicht auf unserem Mist gewachsen. Die analytisch sehr gute Broschüre „Der Deckel muss weg- Krankenhäuser ordentlich finanzieren!“ vom Fachbereich 3 des ver.di-Landesbezirks Baden-Württemberg entwickelt diesen Gedanken folgerichtig und weist deutlich genug auf die Folgen der DRGs hin. Konsequenzen für die Demo in Berlin wurden von ver.di daraus nicht gezogen.

Da in einer „Volksfront“ immer der kleinste gemeinsame Nenner gilt, also die rechtesten, bürgerlichen Elemente bestimmen - hier die Trägervereinigungen und Ärztespitzen - muss man das verschweigen! Schließlich ist die Ausrichtung auf (möglichen) Profit das treibende Element der Krankenhausträger, ob kommunal, christlich oder privat. Auch das wurde in allen Reden deutlich: profitabel, effizient und industriell organisiert - das muss schon sein. So auch Münchens SPD-Oberbürgermeister und Vorsitzender des deutschen Städtetages Ude. Wobei Effizienz für sie natürlich betriebswirtschaftliche Ergebnismaximierung bedeutet, nicht etwa Gesundheit, medizinisch-pflegerische Vernunft oder Vermeidung volkswirtschaftlich unnötiger Kosten.

Ver.di und die Unternehmervereinigungen fordern Geld von den gesetzlichen und Ersatzkrankenkassen, d.h. von den Lohnabhängigen als BeitragszahlerInnen. Das stößt auch Dieter Hundt von der Bundesvereinigung der Arbeit„geber“verbände sauer auf, will er doch keine steigenden Lohn“neben“kosten. Aber damit ist es ja ab 2009 vorbei, wenn der Gesundheitsfonds kommt, die Arbeit“geber“beiträge eingefroren werden und die Bundesregierung den Beitragssatz diktiert. Recht bald werden die Sozialkrankenkassen nur noch Basisleistungen finanzieren. Die es sich leisten können, müssen sich zusätzlich privat versichern - USA, wir kommen!

Welche Gelegenheit, die Solidarität mit dem Gros der Bevölkerung, der Lohnarbeiterschaft und von deren Einkünften abhängigen RentnerInnen, Arbeitslosen, MigrantInnen und Familienangehörigen als BeitragszahlerInnen und PatientInnen in den Mittelpunkt zu stellen! Statt einen Notplan (Krankenhausetat und -investitionen) unter Kontrolle des Personals und der NutzerInnen, bezahlt aus progressiver Besteuerung der Unternehmereinkommen, zu fordern, ist ver.di das Thema schnuppe oder peinlich, auf jeden Fall nicht kompatibel mit dem Schulterschluss mit Kapitalisten.

Jetzt muss es richtig losgehen!

Niemand braucht sich also zu wundern, dass für die größte Gewerkschaft im Gesundheitswesen das Thema sich mit der Berliner Veranstaltung erschöpft hat. Das ist der Tribut, den ver.di dem Bündnis mit „ihren“ Krankenhausträgern, ärztlichen und pflegerischen Geschäftsführungen zollen muss. Er geht zu Lasten der Solidarität mit der überwältigenden Masse der Bevölkerung.

Die 130.000 sind ein Anfang! Dabei wird es aber auch bleiben, wenn sie ohne weiterführende Perspektive wieder nach Hause geschickt werden. Um Deckel und Fallpauschalen zu kippen, bedarf es eines politischen Massenstreiks mindestens des Personals im Gesundheitswesen. Auf dessen Basis kann auch wirkliche Solidarität durch und mit PatientInnen und Krankenkassenmitgliedern und -beschäftigten zustande kommen. Politisch ist dieser Streik aus zwei Gründen: Diese Probleme sind uns erstens vom bürgerlichen Staat als Exekutor der Kapitalisierung des Gesundheitssektors beschert worden - und sie lassen sich zweitens nicht über den rituellen wirtschaftlichen Tarifkampf lösen!

Die klassenbewusstesten Elemente im Krankenhaussektor müssen sich zu einer antibürokratischen, klassenkämpferischen, arbeiterdemokratischen Basisbewegung auf Betriebs- und Gewerkschaftsebene vereinigen, damit sie ihre Interessen ernsthaft verfolgen, die Pläne des Klinikmanagements und der ver.di-Bürokratie durchkreuzen kann!

Natürlich müssen wir von dieser die Erfüllung unserer Forderungen verlangen, um sie vor den Augen der breiten Mitgliedermasse zu testen. Wir müssen uns aber oppositionell orientieren und organisieren, um die notwendigen Arbeitskampfmaßnahmen auch gegen deren Sabotage in die Hände nehmen zu können, wenn wir von deren Notwendigkeit und Richtigkeit die Mehrheit an der Basis überzeugt haben.

Die Gruppe Arbeitermacht ergriff die Initiative dazu bereits vor dem Berliner Massenspektakel mit einem Aufruf, der bisher von einigen wenigen Organisationen (betrieblichen, gewerkschaftlichen wie politischen) und Einzelpersonen unterstützt wurde (siehe: <www.ungesundleben.de> sowie <www.labournet.de>).

Dass dieser nicht von mehr Kräften getragen wurde, ist bedauerlich. Das von der SAV beeinflusste „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di“ mochte sich nicht zur Unterschrift unter den Aufruf durchringen, befürwortete aber den oppositionellen Block auf der Kundgebung. Es stieß sich an der Formulierung „politischer Massenstreik“. Dabei geht es uns nicht darum, den für heute auszurufen. Dass er aber notwendig ist, muss gesagt werden, um darauf zu orientieren und diese Perspektive überhaupt durchführen zu können. Ver.dis sozialpartnerschaftlicher Schmusekurs wider alle Erfahrungen macht doppelt und dreifach notwendig, auszusprechen was nötig ist, um ein Desaster zu verhindern!

Unser Aufruf trat unter dem Motto „Weg mit Budgetdeckel und Fallpauschalen! Solidarität unter Beschäftigten und PatientInnen statt Schulterschluss mit den Arbeit„gebern“! für folgende aktuelle Forderungen ein:

Nicht nur der Deckel muss weg, sondern auch das Fallpauschalensystem! Für volles Kostendeckungsprinzip!

Stopp allen Entlassungen! Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Für Neueinstellungen und Wiedereingliederung bereits entlassener KollegInnen bzw. outgesourcter Betriebsteile zu vollen Tarifbedingungen!

Rücknahme aller vollständigen und Teilprivatisierungen sowie Auslagerungen einzelner Betriebsabteilungen!

Kontrolle der Bilanzen durch die Beschäftigten!

Ausreichende Krankenhausinvestitionen u.a. Pflegeeinrichtungen unter Kontrolle von Angestellten und NutzerInnen (PatientInnen)!

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Nr. 133, Okt. 2008
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