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Inflation in Europa

Kapitalismus kommt teuer

Martin Suchanek, Neue Internationale 131, Juli/August 2008

Steigende Preise für Treibstoff, Energie und Lebensmittel haben in vielen Ländern zu Massenprotesten geführt. Bauern, Fischer, LKW- und Taxifahrer protestierten gegen steigende Benzinpreise, die diese Branchen besonders treffen. Die Proteste waren von unterschiedlicher Militanz geprägt und von unterschiedlichen Klassenkräften getragen.

Die Aktionen der Fischer z.B. konzentrierten sich auf jene Länder, wo Kleinbetriebe - also das Kleinbürgertum - eine wichtige Rolle im Fischereigewerbe spielen. In Spanien, Portugal, Italien und Frankreich sind rund 400.000 Menschen in diesem Metier tätig. Die Aktionen beinhalteten „Streiks“, also Stopp des Fischfangs, Blockaden, Besetzung von Lagerhäusern, um den Vertrieb der Produkte zu blockieren und Demonstrationen vor der EU-Zentrale in Brüssel, die in Straßenschlachten mit der Polizei kulminierten.

Es protestierten auch kleinere selbständige Fuhrunternehmer oder Taxifahrer in West- und Südeuropa. Sie organisierten auch Straßenblockaden, um auf ihre immer prekärere Lage aufmerksam zu machen.

In Deutschland u.a. EU-Ländern gingen die Milchbauern auf die Straße, führten Lieferstopps durch und erzwangen schließlich das Versprechen der Handelskonzerne und der Agrarindustrie, die Preise für Milchprodukte zu erhöhen. Die Forderungen konzentrierten sich in der Regel auf die Erhöhung der Preise und/oder Subventionen für die Produkte der jeweiligen Sektoren.

Die große Masse der TeilnehmerInnen an diesen Protesten waren kleinbürgerliche Schichten, Kleinproduzenten oder Dienstleister (Taxi-, LKW-Fahrer), die Eigentümer ihrer Produktionsmittel sind, selbst arbeiten und keine oder nur wenige LohnarbeiterInnen beschäftigen. Geführt werden sie freilich oft von Standes- und Interessenvertretern, die selbst v.a. größere Bauern, Agrarkapitalisten oder Großspediteure vertreten.

Doch das ändert nichts daran, dass die Wut dieser Kleinbürger verständlich ist. Denn sie sind tatsächlich von steigenden Rohstoffpreisen (v.a. für Treibstoff), verschärfter Konkurrenz und dem Preisdruck am Agrar- und Einzelhandelssektor in ihrer Existenz bedroht. Sie stehen der Monopolmacht von Energie- und Handelskonzernen gegenüber. Gesteigert wird das alles noch durch die Spekulation auf den Nahrungsmittel- und Ölmärkten sowie durch die Kreditabhängigkeit vom Bankenkapital.

So verständlich deren Empörung auch ist, so müssen ihre Forderungen doch kritisch betrachtet werden, spiegeln sie doch ihren kleinbürgelichen Klassenstandpunkt wider. Forderungen nach höheren Preisen für Lebensmittel oder nach Subventionen können vom Proletariat nicht ohne Wenn und Aber unterstützt werden. Eine bloße Erhöhung der Preise für die VerbraucherInnen bedeutet oft nur, dass die Nöte des Kleinbürgertums auf Kosten der KonsumentInnen gemildert werden.

Ähnliches trifft auf Subventionen für Lebensmittel zu. Der Preis wird dann teilweise aus dem Steueraufkommen bezahlt, das zu immer größeren Teilen von den Lohnabhängigen aufgebracht wird. Zudem landen solche Subventionen oft oft auf den Konten der Kapitalisten und nicht bei den Kleinproduzenten.

Eine Lösung, die nur auf dieser Ebene stehen bleibt, hat gerade im Transportsektor außerdem auch fatale ökologische Auswirkungen. Aber auch im Agrarsektor würden mehr Subventionen - selbst wenn sie „kostenneutral“ wären - immer auch den Effekt haben, ein irrationales und vom Imperialismus diktiertes globales Agrar- und Handelssystem fortzuführen, das Ausplünderung und Abhängigkeit der „Dritten Welt“ bedeutet.

Es sind genau diese Mechanismen, mit denen das Großkapital den Kleinbürgern eine „Lösung“ des Problems auf Kosten der Masse der KonsumentInnen und v.a. der „Dritten Welt“ schmackhaft macht.

Daher muss die Arbeiterklasse eigene Problem-Lösungen entwickeln! Das wird jedoch durch die Gewerkschaftsbürokratie und die reformistischen Parteien, welche die Klasse und das Kleinbürgertum auf „spätere“ Eingriffe zukünftiger Regierungen in die Geld- und Preispolitik vertrösten oder überhaupt dazu schweigen, blockiert. Dabei ist es gerade die Arbeiterklasse, die am stärksten von Inflation und Preissteigerungen betroffen ist.

Während die bürgerlichen Parteien „Verständnis“ für den Preisdruck heucheln, Regierung und Vertreter des Kapitals nach „Preisstützen“ rufen, haben sie für die Lohnabhängigen nur eine Parole: Lohnzurückhaltung!

Innerhalb der Arbeiterklasse wiederum sind die ohnedies am meisten benachteiligten und diskriminierten Schichten besonders betroffen: Arbeitslose, prekär Beschäftigte, Niedriglohngruppen, RentnerInnen, MigrantInnen, Frauen und die Jugend.

Höhere Löhne, so die „Experten“ des Kapitals, würden schließlich die Preise noch mehr in die Höhe treiben. Doch das ist nur eine andere Version der bürgerlichen Allerweltserklärung von Preissteigerungen, die im mangelnden Angebot an Waren (also zu wenig Öl, zu wenig Nahrungsmitteln) die Ursache für Inflation sieht.

Damit wird nicht nur die Spekulation, v.a. wird die eigentliche Ursache von Krise und Inflation in der Überakkumulation von Kapital ausgeblendet. Damit bläst das Großkapital auch gleich ins Horn der kleineren, weniger konkurrenzfähigen Kapitalisten und der selbst Lohnarbeit ausbeutenden Teile des Kleinbürgertums, die, um sich am Markt zu halten, ihre Beschäftigten oft am stärksten ausbeuten.

Die Arbeiterklasse muss diese „Inflationstheorie“ der herrschenden Klasse entschieden zurückweisen. Zur „Zurückhaltung“ gibt es in Zeiten steigender Inflation keinen Grund, zumal die offiziellen Inflationsraten die Steigerung der Preise für den Massenkonsum - Energie, Transport, Lebensmittel, Mieten etc. - gar nicht korrekt wiedergeben.

Dabei ist schon die offizielle Inflationsrate in der EU hoch genug. Im Frühjahr 2008 hat sie 3,5 Prozent erreicht. In Deutschland lag sie bei 3,2 Prozent, in Spanien schon nahe 5 Prozent, in osteuropäischen Ländern wie Bulgarien, Lettland, Estland bei über 10 Prozent.

Dagegen hat auch die Erhöhung des Leitzinses durch die Zentralbanken wie auch der Europäischen Zentralbank im Juli 2008 nicht geholfen, weil wichtige inflationshemmende Faktoren der Weltwirtschaft (so z.B. billige Konsumgüter aus China) erschöpft sind und sich in ihr Gegenteil verkehren.

Dazu ist vor dem Hintergrund einer Rezession der Weltwirtschaft und der Ausbreitung der Krise auf den EU-Raum die Steigerung des Leitzinses und der damit verbundene Versuch, die Inflation mittels Verknappung der Geldmeldmenge einzudämmen, auch in der Bourgeoisie umstritten, weil sie die Kredite verteuert und damit die Krise verschärft.

Wir müssen uns also auf eine Verschlechterung der Konjunktur, auf eine Rezession und eine weiter steigende Inflation einstellen. Dabei ist die Lage in Deutschland noch relativ günstig aufgrund der zeitlich hinterher hinkenden Konjunkturentwicklung. Zudem ist es dem deutschen Imperialismus aufgrund seiner größeren Konkurrenzfähigkeit eher möglich, die Kosten der Krise nicht nur auf die Arbeiterklasse, sondern auch auf schwächere Konkurrenten innner- und außerhalb der EU abzuwälzen.

Beispiel Belgien

Weniger bekannt als die Kämpfe von kleinbürgerlichen Schichten gegen die Preissteigerungen sind die der Lohnabhängigen in der EU.

Das prägnanteste Beispiel für Arbeiterwiderstand gegen die Lohn-Entwertung ist Belgien. Die Regierung dort hatte angekündigt, die Indexierung der Einkommen aus Löhnen, Gehältern, Renten und staatlichen Transfers an die Inflationsrate aufzuheben.

Dagegen organisierten alle gewerkschaftlichen Dachverbände und linke Organisationen eine landesweite Streik- und Aktionswoche vom 9.-13. Juni, die täglich eine Region des Landes mit einem Massenstreik lahm legte. Millionen ArbeiterInnen beteiligten sich daran.

Die Regierung musste daraufhin ihr Gesetzesvorhaben zurückziehen. Das ist ein erster Teilsieg der Arbeiterklasse, wenn auch die Frage noch nicht entschieden ist, wie hoch der Preisindex 2008 sein wird.

Neben dem Streik gegen die Regierungsvorlage haben die Gewerkschaften in Belgien außerdem eine Unterschriftenkampagne für die Reduktion der Mehrwertsteuer auf Benzin und Energie für Privathaushalte von 21 Prozent auf 6 Prozent begonnen.

Zweifellos dürfen wir uns bei aller Freude über diesen Erfolg nicht über den reformistischen Charakter der Führungen der drei Dachverbände in Belgien hinwegtäuschen, der sich auch darin ausdrückt, dass sie den Kampf nicht zu einer größeren Offensive ausgeweitet haben.

Das Beispiel Belgien zeigt aber, dass die Arbeiterklasse sehr wohl einen erfolgreichen Abwehrkampf gegen Preistreiberei und Inflation führen kann. In der nächsten Periode wird das eine Kernfrage des Klassenkampfes in Europa, ja weltweit werden - zudem sie in Europa mit einer tiefen politischen Krise des imperialistischen EU-Projektes zusammenfällt.

Die Streiks in Belgien und viele Kämpfe früherer Jahrzehnte haben gezeigt, welche Richtung der Kampf einschlagen muss.

Gegenwärtig ist der Kampf für eine gleitenden Skala der Löhne, d.h eine kontinuierliche Anpassung der Löhne u.a. Einkommensformen der Lohnabhängigen (Renten, Arbeitslosengeld etc.) an die Inflationsrate, eine Schlüsselforderung. Doch die Einkommen sollen nicht nur (wie in Belgien) an die offizielle Inflationsrate angepasst werden, sondern an die Steigerung der realen Lebenshaltungskosten der Arbeiterklasse. Das soll auch nicht durch den bürgerlichen Staat, Unternehmer-Vertreter oder die Gewerkschaftsbürokratie festgelegt werden. Vielmehr sollen Preiskomitees aus VerteterInnen der Gewerkschaften und der proletarischen VerbraucherInnen die reale Steigerung des Lebenshaltungskosten kontrollieren.

Um die Preisentwicklung und die Spekulation mit Lebensmitteln, Energie usw. nachvollziehen bzw. unterbinden zu können, ist erstens der Kampf um die Öffnung der Geschäftsunterlagen der Konzerne und Banken notwendig.

Zweitens erfordert eine wirkliche Bekämpfung diese Probleme zwingend die entschädigungslose Eineignung und Arbeiterkontrolle über die großen Monopole, die Agrarkonzerne, den Energie- und Transportsektor sowie die Banken, die Börsen u.a. Finanzinstitutionen.

Im Kontext eines solchen Programms muss - und kann nur - die Arbeiterklasse auch wirkliche Abhilfe für die unmittelbaren Nöte der unteren Schichten des Kleinbürgertums bringen - gemeinsame Preiskomitees von ArbeiterInnen und Bauern, günstige Kredite, Stopp von Preissteigerung oder Senkung der Preise bestimmter Produkte (z.B. Energie) auf Kosten des Monopolprofits in diesen Sektoren.

Utopisch und reaktionär wäre es jedoch, den oft unproduktiven Schichten des Kleinbürgertums eine dauerhafte Rettung ihrer Betriebe von den Wirkungen der Konkurrenz zu versprechen. Vielmehr geht es darum, sie selbst für Formen des Übergangs zu einer anderen, sozialistischen Gesellschaft (also z.B. für freiwillige Genossenschaften) zu ermutigen.

Diese Forderungen können jedoch nur durch Klassenkampf durchgesetzt werden - mit Massenstreiks, Besetzungen, Blockaden, Massendemonstrationen. Das muss in den Massenorganisationen der Arbeiterklasse, v.a. in den Gewerkschaften und in den sozialen Bewegungen, z.B. beim Europäischen Sozialforum im September 2008 als Teil eines europaweiten, koordinierten Abwehrkampfes eingefordert werden.

Solche Kämpfe würden selbstredend nicht nur die Frage der Durchsetzung oder Rücknahme dieser oder jener Reform aufwerfen. Sie würden auch die Frage der proletarischen Führung - die Frage neuer Arbeiterparteien und einer neuen Internationale - sowie die Frage des Kampfes für Arbeiterregierungen aufwerfen, die sich auf Räte und Kampforgane stützen, die sich in diesen Auseinandersetzungen formieren. Sie würden nicht nur die Frage des Kampfes gegen eine Verschlechterung der Lebensbedingungen, sondern der revolutionären Beseitigung des Kapitalismus aufwerfen.

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Nr. 131, Juli/Aug. 2008
*  EU-Reformvertrag: Rote Karte von der Grünen Insel
*  Inflation in Europa: Kapitalismus kommt teuer
*  Ver.di-Kampagne im Gesundheitswesen: Der Deckel muss weg!
*  Sri Lanka: Solidarität mit internationalistischen Gewerkschaften
*  Altersteilzeit: Streik vorbereiten!
*  Bayrisches Versammlungsrecht: Politischer Streik für Demonstrationsrecht!
*  Heile Welt
*  "Klimaschutzpaket" der Bundesregierung: Neue Mogelpackung
*  Zimbabwe nach der Wahlfarce: Welcher Ausweg aus der Krise?
*  Iran: Imperialismus verstärkt Drohungen