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Frankreich

Hollandes Kriegserklärung bedroht die französische ArbeiterInnenklasse

Marc Lassalle, Infomail 857, 31. Dezember 2015

„Frankreich befindet sich im Krieg“, erklärte Präsident François Hollande nach dem barbarischen Massaker im Zentrum von Paris und fügte hinzu, dass er erbarmungslos sein wird. Krieg – aber gegen wen? Es befinden sich alleine auf den Straßen von Paris 16.000 PolizistInnen. Verstärkte Militäreinheiten patrouillieren an Flughäfen, Bahnhöfen und anderen Knotenpunkten. Aber dies ist natürlich nicht ausreichend, um diese Situation als einen Krieg zu charakterisieren.

Dennoch befindet sich ein wenig Wahrheit in der Aussage von Hollande. Wie in jedem imperialistischen Krieg sind Wahrheit, demokratische und grundlegende Bürgerrechte die ersten Opfer. Durch das Ausrufen des Ausnahmezustandes im ganzen Land nutzte Hollande – zum ersten Mal seit 1961 – eine Waffe aus dem altbewährten, reaktionären Werkzeugkasten der 5. Republik. Damals war er gegen algerische FLN-AktivistInnen gerichtet und führte zu einem von der Polizei vorsätzlich begangenen Massaker an 40-200 DemonstrantInnen im Zentrum von Paris. Ein weiterer Ausnahmezustand wurde 1995 erklärt, aber „nur“ über den Banlieues verhängt, den von MigrantInnen und ArbeiterInnen rund um Paris und weiteren französischen Städten Frankreichs bewohnten Stadtteilen.

Mit Hilfe der Kriegserklärung versucht Hollande, dessen Beliebtheit ein Umfragetief unter 20% vor den Anschlägen erreicht hatte, ein Gefühl der nationalen Einheit unter seiner Führung zu bilden. Konfrontiert mit der wirtschaftlichen Krise, wachsender Arbeitslosigkeit sowie der nicht vorhandenen Perspektive nach einer Verbesserung für Millionen von ArbeiterInnen, versucht er die Karte des Nationalismus auszuspielen, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Jedoch bedient er nicht nur das Gefühl des Patriotismus, sondern verwendet ebenso das Vokabular und die Maßnahmen der konservativen Partei – der Republikaner (ehemalige UMP, Partei von Sarkozy) – sowie der Front National.

Zum Beispiel forderte er in einer Rede die „Schließung der Grenzen“. Abgesehen davon, dass die Mehrheit der an den Anschlägen in Paris beteiligten Personen französische StaatsbürgerInnen sind und der Rest aus Belgien kam, ist „nationale Grenzkontrolle“ eine Forderung der Front National, für welche alles Übel von außen kommt. Eine weitere Maßnahme, welche von Hollande vorgeschlagen wurde, ist es, allen an Terrorattacken beteiligten Personen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, die französische abzusprechen. Natürlich stellen die praktischen Auswirkungen nicht nur eine fragwürdige Maßnahme im Sinne der Verfassung dar, sondern würden vermutlich auch keinen Effekt entwickeln. Dies ist aber nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass diese Maßnahme zuvor von der FN verlangt und später von Sarkozy aufgenommen wurde. Der wahre Grund ist, Millionen von französischen Muslimen und MigrantInnen aus Nordafrika und anderen Ländern des ehemaligen französischen Kolonialreiches zu stigmatisieren und als potentielle Terroristen zu beschuldigen. Obwohl diese Gemeinschaften schon Rassismus von Seiten des Staates, der Bosse sowie RassistInnen ausgesetzt sind, müssen sie nun noch mehr Unterdrückung und reaktionäre staatliche Attacken über sich ergehen lassen.

Nach den Anschlägen kam es zu einer Welle an Islamophobie. Muslime wurden allein wegen des Tragens traditioneller Kleidung beleidigt und sogar angegriffen. Von Muslimen betriebene Geschäfte und Moscheen wurden attackiert. Nichts davon wurde von den offiziellen Medien berichtet, welche sich selbst einer Zensur unterziehen und ein Trugbild der nationalen Einheit propagieren.

Was bedeutet dies alles?

Der Ausnahmezustand übergibt der Polizei große Macht. Eingeschlossen darin ist das Recht, Demonstrationen zu verbieten sowie die Bewegungsfreiheit in bestimmten Arealen zu untersagen. Die Polizei kann Tag und Nacht ohne richterlichen Beschluss Privatwohnungen durchsuchen und Personen Hausarrest erteilen mit der Auflage, sich mehrere Male am Tag auf der Polizeiwache zu melden.

Durchaus hat ein einfacher Brief der französischen Regierung an den Europarat erklärt, dass sie sich nicht länger an die europäische Menschenrechtskonvention und ihre grundlegenden Prinzipien halten wird wie z.B. das Recht auf eine faire Verhandlung, die Privatsphäre, Redefreiheit sowie die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Organisierung. Alles in einem Land, welches sich selbst als Ursprung der Menschenrechte glorifiziert!

Seit diese Maßnahmen eingeführt wurden, kam es zu über 2.000 Durchsuchungen. Bei vielen wurde von Missachtung grundlegender Rechte berichtet. Türen, auch die von Moscheen, wurden ohne Gründe von der Polizei zerstört, Möbel und andere Gegenstände beschädigt, BewohnerInnen festgenommen und verletzt. In vielen Fällen kam es zu  körperlichen und beleidigenden Übergriffen in einem Ausmaß, dass der Innenminister sich genötigt sah, seine Präfekten daran zu erinnern, das „Recht“ zu respektieren.

„Auf jede Person, gegen welche aufgrund ihres Verhaltens starke Gründe vorliegen, von einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung auszugehen“ können diese Maßnahmen angewandt werden. Da keine Beweise vorausgesetzt werden, kann praktisch jede Person davon betroffen werden, und durchaus war ein breiter Bereich der Gesellschaft von den Durchsuchungen betroffen: grundsätzlich alle Muslime, die allein durch ihren religiösen Glauben verdächtigt werden bis hin zu allen, die der Regierung widersprechen und sich gegen ihre Projekte stellen.

In einem MigrantInnenviertel in Sens, einer Stadt in der Bourgogne, verabschiedete ein Präfekt den Beschluss, dass sich niemand zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr auf den Straßen aufhalten dürfe. Der Grund? Der Präfekt vermutete eine mögliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung, während Polizeidurchsuchungen stattfinden. In Wahrheit stellt dies eine weitere Einschüchterung und Unterdrückung der migrantischen Gemeinschaft dar. Die Regionalwahlen und das Gewicht der FN in dieser Region erklären diese Maßnahme.

Die Regierung zielt darauf ab, die gewonnene Macht durch den Ausnahmezustand dahingehend zu nutzen, all diejenigen zu treffen, welche ihrer Politik entgegenstehen. In den Tagen vor der internationalen Klimakonferenz (COP21) nutzte die Polizei ihre zusätzliche Macht, um gegen radikale UmweltaktivistInnen vorzugehen, vor allem gegen diejenigen AktivistInnen, welche in einem Protest gegen einen Flughafen in der Nähe von Nantes – Notre-Dame-des-Landes – involviert sind. Diese AktivistInnen waren gewalttätigen Durchsuchungen sowie Hausarresten ausgesetzt. Wenig wurde darauf geachtet, dass diese Personen, wie zum Beispiel der Sprecher der Climate 21 Allianz oder einige BioproduzentInnen von Obst und Gemüse, weit davon entfernt sind, SympathisantInnen des IS zu sein oder ein Bombenattentat zu planen.

In Lyon verbot der Präfekt „alle Versammlungen mit einem Protestcharakter…Sport-, Erholungs- sowie Kulturereignisse seien davon nicht betroffen“. Im Klartext: Weihnachtseinkäufe waren okay, Politik war es nicht.

Der Höhepunkt dieser Polizeirepressionswelle wurde erreicht durch die Attacken auf die Demonstration in Paris am 29. November. Am Morgen war eine Menschenkette aus UmweltaktivistInnen in Paris noch toleriert worden. Am Nachmittag wurde zusätzlich von einigen Organisationen – darunter der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) – zu einer Demonstration „für die Demonstrationsfreiheit“ aufgerufen. Einige Tausende versammelten sich auf dem Platz der Republik. Bald blockierte die Polizei jeden Zugang zum Platz und begann damit, Tränengas und Gummigeschosse auf die DemonstrantInnen zu feuern. Durch das Abschneiden jeglicher Fluchtwege begann die Polizei, damit jede Person festzunehmen und sie auf die Wache zu führen. Mehr als 300 AktivistInnen wurden in Polizeigewahrsam genommen. Wir sprechen hiermit unsere volle Solidarität mit allen AktivistInnen aus und verurteilen die Polizeigewalt gegen diese. Ähnliches trug sich in Nantes zu, wo eine Demonstration in massiver Weise von der Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas angegriffen wurde. Hierbei wurde auch nicht davon abgesehen, auf schon am Boden liegende Personen weiter einzuschlagen.

Wie reagierten die politischen Kräfte?

Unter den Parteien stellten sich nur Organisationen der „extremen Linken“ – Lutte Ouvrière und die NPA – gegen den Ausnahmezustand. Alle Abgeordneten der Front de Gauche (Linkspartei und die Kommunistische Partei Frankreichs) stimmten für den Ausnahmezustand! In einer Erklärung vertritt die KPF weiterhin ihre Linie der nationalen Einheit, welche sie seit den 1930igern verfolgt:

„Die wahre und anhaltende Antwort auf die terroristischen Aggressionen des Daesh ist der Widerstand der französischen BürgerInnen in ihrer Einheit und Diversität […]. Wir haben den Ausruf des Ausnahmezustandes in den ersten Stunden nach den Ermordungen am 13. November hingenommen. Jedoch wird die KPF die Frage nach der Länge des Ausnahmezustandes hervorheben mit der Berücksichtigung der Prinzipien der Sicherheit der Bevölkerung, der Republik und der fundamentalen Freiheit.“

Der Anführer der Linkspartei (PdG) Jean-Luc Mélenchon offenbarte ebenfalls in einer Rede an das Europäische Parlament seinen Geschmack am Wein des bürgerlichen Nationalismus. Er erklärte, dass „Frankreich schon immer gegen seine Aggressoren gewonnen hat und es auch dieses Mal tun wird“. Gleichzeitig griff er diejenigen an, die „die Funktionen der Staatssouveränität geschwächt haben, vor allem das staatliche Gewaltmonopol“. Er fügte hinzu: „In meinem Land besitzen wir 12.000 Polizisten weniger und 20% weniger Soldaten in der Armee. All das ist der Grund für die nicht ausreichenden Mittel, um gegen solche vorhergesehene Anschläge vorzugehen. Wir müssen mit der Politik der Schwächung des öffentlichen Dienstes aufhören.“

Durch das Vermischen der Verteidigung des öffentlichen Dienstes mit Hinblick auf das Gesundheits- oder Schulwesen, mit der Verteidigung des reaktionären Zentrums des Staates, zeigt  Melénchon seine grundlegend sozialpatriotische Natur auf. Er beabsichtigt nicht, für ArbeiterInnendemokratie einzutreten, sondern zielt auf die Übernahme der Regierungsgewalt über die bürgerliche Staatsmaschinerie ab.

Unabhängig von ihren nachfolgenden Stellungnahmen, in welchen sie den Ausnahmezustand kritisierte, kapitulierte die Front de Gauche in einer ähnlichen Weise vor der nationalen Einheit wie zuvor vor dem französischen Imperialismus. Neben der direkten Intervention von Frankreich in drei Ländern (Mali, Syrien und der Zentralafrikanischen Republik), operiert es praktisch darüber hinaus in der kompletten französisch-dominierten Region südlich der Sahara, vom Niger bis Tschad. Keine Opposition dagegen war bisher von Seiten der Front de Gauche zu vernehmen und Melénchons Linkspartei unterstützte sogar offen die Intervention in Mali.

Die Stellungnahme der NPA verbindet im scharfen Kontrast dazu richtigerweise die barbarische Tötungen mit dem Imperialismus: „Imperialistische Barbarei und islamistische Barbarei bedingen einander.“

Weiter lautet es: „Um dem Terrorismus ein Ende zu setzten, müssen wir den imperialistischen Kriegen ein Ende setzen, welche nur darauf abzielen, die Plünderung der von den Kooperationen dominierten Völker aufrechtzuerhalten. Wir müssen weiterhin auf den Rückzug französischer Truppen aus Ländern bestehen, in welchen sie stationiert sind, insbesondere aus Syrien, Irak und Afrika.“ Weiterhin verdeutlicht die Erklärung, dass sich die NPA gegen das Klima von Rassismus und Islamophobie stellt.

Das Resultat

Nachdem Bushs Patriot Act und sein Hinwegsetzen über elementare Freiheiten in Guantanamo kritisiert wurde, ist die Sozialistische Partei nun bereit, sogar noch weiter auf diesem Weg zu gehen. Einige ihrer Abgeordneten haben sich sogar für die Einrichtung von Zentren ausgesprochen, in welchen dem Terrorismus verdächtige Personen ohne vorheriges Verfahren festgehalten werden sollten. Andere würden gerne die Zensur der Presse und des Internets einführen. Hollande sprach sich sogar für die Aufnahme des Ausnahmezustandes in die Verfassung aus.

Die Polizei versucht, Profit aus diesem Klima zu schlagen, um fast unbegrenzte Macht zu erhalten. Diese Repressionswelle wird der Sozialistischen Partei nicht verhelfen, an der Macht zu bleiben. Eher das Gegenteil wird eintreten, wie die Regionalwahlen aufzeigten. Die Front National führte das Feld in der ersten Runde an und die Sozialistische Partei musste in einigen ihrer Wahlhochburgen ihre Stimmen an Sarkozy abgeben. Die Welle an Angst, Wut, Xenophobie und Rassismus nutzte nicht der SP, sondern in erster Hinsicht der FN. Die Ergebnisse der FN sind am höchsten in den ehemaligen Industriegebieten im Norden, wo Marine Le Pen über 40% erreichte, sowie im Osten (Elsass, Lothringen, Franche-Comté, etc.). Die Verunsicherung von verarmenden ArbeiterInnen sowie der Arbeitslosen fand erfundene Begründungen für Rassismus und Islamophobie in ihren Lügen und Lösungsansätzen. All das bildet eine große Gefahr für die ArbeiterInnenklasse als Ganzes.

Die französische ArbeiterInnenklasse steht heute einer immensen Gefahr gegenüber. Versagt sie darin, sich den imperialistischen Kriegen entgegenzustellen, sich mit den MigrantInnen zu solidarisieren, die bürgerliche nationale Einheit und den Ausnahmezustand abzulehnen und sich klar gegen Rassismus und die FN zu stellen, könnte dies zu einer großen Spaltung und einer lähmenden Niederlage führen. Um dies abzuwenden, muss die revolutionäre Linke nicht nur Alarm schlagen. Sie muss vor allem auch die Politik einer revolutionären Hoffnung verbreiten und die Politik einer reaktionären Vereinzelung bekämpfen.

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