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Anhang II

Lehren von Liverpool

Von Jürgen Roth

1983 errang Labour einen überwältigenden Wahlsieg in Liverpool. Hier spielte Militant (heute SP, Schwesterorganisation der SAV) eine maßgebliche Rolle. Ihre Hausbau-, Bildungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramme steigerten ihre Beliebtheit. Zehntausende ArbeiterInnen und Arme unterstützten sie damals enthusiastisch. Gleiches bewirkte ihr Versprechen, nicht mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn für ihr Amt zu kassieren, die Zustimmung der Stadtbediensteten und Gewerkschaften für ihre Politik zu suchen sowie lebhafte Wahlkampagnen mit Aufklärung statt mit "Waschmittelreklame" zu betreiben.

Auch an persönlicher Courage mangelte es den Stadtverordneten nicht, die "lieber das Gesetz als den Armen das Rückgrat brechen" wollten, wie sie sagten. Gründe genug für unsere Schwesterorganisation Workers Power Britain, damals den Liverpooler Stadtrat gegen die Angriffe der Rechten zu verteidigen, ihn kritisch zu unterstützen.

Trotz der Massenunterstützung kam es aber 1987 zur Isolierung und zur Niederlage. In deren Gefolge wurde der Stadtrat durch einen Kommissar der Thatcher-Regierung ersetzt, die Stadträte mussten sich vor Gericht gegen Strafgelder in Höhe von mehreren hunderttausend Pfund sowie den Entzug des passiven Wahlrechts verteidigen. Aus der Labour Party flogen sie ebenso wie zuvor schon die Redaktion der Zeitung Militant. Labour-Chef Kinnock säuberte seine Partei vollständig, die Young Socialists, wo Militant bedeutenden Einfluss hatte, wurden aufgelöst. Welchen Zusammenhang mit der Machteroberungsstrategie Militants wies dieses Desaster auf?

"Der sozialistische Labour-Stadtrat trat mit einem weitreichenden Reformprogramm an: Wohnungsbau, Arbeitszeitverkürzung bei den städtischen Beschäftigten, Begrenzung der Abgabenerhöhungen und vieles mehr ... Der Stadtrat weigerte sich konsequent Maßnahmen zu ergreifen, die Arbeitsplatzvernichtung, Sozialabbau oder Verschlechterungen des Lebensstandards der Arbeiterklasse zur Folge (gehabt) hätten. Er forderte die zur Durchsetzung seines Programms nötigen finanziellen Mittel von der Zentralregierung ein und weigerte sich einen Haushalt zu beschließen, der zu Kürzungen geführt hätte." (Sascha Stanicic: "Es geht auch anders: Alternative Kommunalpolitik", sozialismus.info 3, S. 34)

In Liverpool sollte das strategische Konzept Militants, den Sozialismus mittels eines parlamentarischen Ermächtigungsgesetzes einzuführen, mittels der Kontrolle über den Stadtrat durch die District Labour Party (DLP) erfolgen. Beim Gegenangriff des Staates und der Thatcher-Regierung würden die ArbeiterInnen dann zur Verteidigung ihrer kommunalen Errungenschaften mobilisiert werden. Diese beispielhafte Radikalisierung brächte schließlich die Arbeiter im ganzen Land gegen die Tory-Regierung auf und eine Labour-Regierung auf demselben "sozialistischen" Programm an die "Macht".

Militant ordnete diese Kämpfe der parlamentarischen Arena unter und schloss mitten im großen Bergarbeiterstreik im Juli 1984 einen Kompromiss mit Thatcher, der mehr Geld von der Zentralregierung sowie eine Erhöhung der kommunalen Abgaben vorsah. Ein Linsengericht im Vergleich zur einzigartigen Möglichkeit einer gemeinsamen Kampffront der Liverpooler mit den streikenden Bergarbeitern!

Nachdem Thatcher die Bergarbeitergewerkschaft NUM erledigt hatte, wurden die Messer gegen Liverpool gewetzt. Der Angriff begann im September 1985. Militant spielte Monate lang auf Zeit. Gemeinsam mit anderen Stadträten weigerten sie sich, eine Gebührenhöhe festzulegen. Einer nach dem anderen kippte um außer Lambeth (Südlondon) und Liverpool, die dafür mit Zwangsgeldern und Amtsenthebung bestraft wurden. Schließlich gab Militant nach, erhöhte die Abgaben auf fast das Doppelte, was sie vorher für zumutbar erklärten, verschickte 30.000 Entlassungsankündigungen, um die Kreditwürdigkeit bei den Banken zu gewährleisten.

Nach Monaten passiven Zuschauens wurden die Kommunalbeschäftigten zum Streik gegen die Regierungsstrafen aufgerufen. Die Abstimmung scheiterte knapp. Militant akzeptierte das Ergebnis, obwohl  die Mehrheit der ArbeiterInnen anders als die Angestellten für Streik stimmten. Militant, eine sich "marxistisch" nennende Gruppierung, unternahm keine Initiative, z.B. mittels fliegender Streikposten und Massenbetriebsversammlungen, die enttäuschte Masse mitzureißen, wie es die Bergarbeiteraktivisten getan hatten. Ihre Vertrauensleute stellten sich hinter die Annahme des Nein!

Alle Kampagnen, Demonstrationen und Streiks vorher waren auf den öffentlichen Dienst beschränkt. Industrie und Gewerbe, wo Arbeitskampfmaßnahmen Sand ins Profigetriebe streuen und das Kapital viel mehr hätten beunruhigen können, wurden nicht zur Unterstützung zu mobilisieren versucht.

Natürlich geht es bei einer Initiative der kämpferischen Vorhut nicht um Abenteuer, Einschüchterung der Klasse oder Ignorieren von Arbeiterdemokratie. Aber die Urabstimmung - einigen Gewerkschaften wie der Lehrergewerkschaft NUT war von ihren Gewerkschaftsführungen die Teilnahme verboten worden - war doch nicht das Ende der Fahnenstange! Der strategisch entscheidende Sektor der Lohnempfängerinnen hätte den Streikverweigerern durch vorbildliche Aktion diese Frage neu und effektiver stellen können. Statt dessen konnten z.B. Stadträte, die Mitglieder in der TGWU waren, vom rechten Labour-Bürokraten Dromey am Reden vor einer Versammlung ihrer eigenen Gewerkschaft gehindert werden.

Militant zahlte den Preis für seine strategische Orientierung auf die Labour-Party und die Überzeugung, dass die Basis nicht in einer antibürokratischen Klassenkampfopposition organisiert zu werden braucht, sondern als Stimmvieh für "linke" Bürokraten ("Broad Left") dient.

Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass diese "Marxisten" überhaupt keine Vorstellung von Übergangslosungen und selbstständig kämpfenden Organen der Arbeitermacht haben. In Liverpool, wo genügend Ansätze dafür geradezu auf der Straße und in den Betrieben lagen, wurde kein übergreifendes Arbeiterstadtaktionskomitee gebildet. Die Mobilisierten spielten im dortigen "sozialistischen" Drehbuch die Rolle einer Komparsenarmee. Statt Thatcher zu stürzen, war Liverpool für Militant der Genickbruch, so dass die Säuberer in der Labour-Party fortan viel leichteres Spiel hatten und sich Militant nach den Ausschlüssen spaltete. Beide Teile vertreten aber immer noch die o.a. katastrophale Strategie "sozialistischer" Machteroberung à la Liverpool.

Das tut auch Sascha Stanicic von der SAV: "Vor allem die Militant-UnterstützerInnen wurden niemals müde zu erklären, dass es im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung keine dauerhafte Lösung für die Probleme Liverpools und der Arbeiterklasse in Großbritannien geben kann. So wurde der Tageskampf um Arbeitsplätze, Wohnungen und Sozialleistungen mit der Perspektive der Erkämpfung einer sozialistischen Gesellschaft verbunden. 'Die Wahrheit aussprechen'' wird von den Autoren als ein wichtiges Prinzip von Militant genannt." (a.a.O., S. 32)

Um die Wahrheit auszusprechen: das ist die Strategie der alten SPD unter Bebel und Kautsky! Alltags kämpfte man fürs Minimalprogramm praktischer Reformen, Sonntags hielt man Reden über die Notwendigkeit des Sozialismus. Organisationen der Gegenmacht, revolutionäres Bewusstsein der Klasse spielten für den aktuellen Kampf keine Rolle, ihre Entwicklung wurde nicht mal als Aufgabe der Revolutionäre begriffen. Der Rechtszentrismus lässt grüßen!

"Militant beantwortete solche Unterstellungen regelmäßig nüchtern und politisch und erklärte, dass das kapitalistische System zu Chaos und Gewalt führt, der Marxismus die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus nur erklärt und das kapitalistische Chaos durch eine geplante, organisierte und harmonische sozialistische Gesellschaft ersetzen will.

Gleichzeitig erklärten sie, dass die herrschende Klasse, wenn ihre Macht durch die Arbeiterklasse herausgefordert wird, bereit ist, Gewalt einzusetzen. Sie betonten, dass es absurd sei, den MarxistInnen vorzuwerfen, dass sie Gewalt predigten, nur weil sie die unausweichliche Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft vorhersagten. Im Gegenteil, so Militant, würde die Einheit der Arbeiterklasse hinter einem sozialistischen Programm die Möglichkeit des kapitalistischen Staates, Gewalt einzusetzen, eingrenzen." (a.a.O., S. 34)

Das ist eine klare Revision des marxistischen Programms der bewaffneten Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates!

"Wie sollten MarxistInnen agieren, wissentlich, dass eine Mehrheitsposition im Stadtrat nicht die Übernahme wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht bedeutet, sondern dieser Stadtrat weiterhin im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft handeln muss (was unter anderem solche Probleme zur Folge hat, dass Leitungspersonen der Verwaltung keine Freunde des neuen Stadtrates waren)?" (ebd.)

Eben, darum "reicht" ja auch eine einfache Regierungsmehrheit z.B. einer "antineoliberalen" WASG im Bundestag nicht für die Macht! Die SAV zieht nur umgekehrte Schlüsse daraus als Marx, Engels, Lenin und Trotzki. Gemäß der Logik von Militant (SAV bedarf es zur Sprengung des kapitalistischen Rahmens der freiwilligen Übergabe der Macht durchs  Staatspersonal - aus Furcht vor der unbewaffneten Einheit der Arbeiterklasse hinter einem sozialistischen Programm vielleicht oder fasziniert von der Harmonie im Sozialismus!?

"Trotz der massiven Unterstützung in der Liverpooler Arbeiterklasse und der wiederholten Wahlsiege der Labour Party in Liverpool konnte der Kampf in einer Stadt isoliert auf Dauer nicht gewonnen werden." (a.a.O., S. 38) Diese objektivistische Sichtweise unterschlägt gänzlich die eigene Verantwortung für die Isolierung und schiebt sie der rechten Labour-Führung in die Schuhe. Was hattet Ihr denn anderes von diesen Reformisten erwartet, GenossInnen?!

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