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Arbeitszeitverlängerung

Keine Sekunde länger!

Rex Rotmann, Neue Internationale 92, Juli/August 2004

PolitikerInnen, Ökonomen und Kapitalisten stehen in einem seltsamen Wettbewerb. Wie lange sollten wir künftig arbeiten? 40 Stunden? 45? 50? Wer bietet mehr?

Noch vor wenigen Monaten schien eine solche Debatte fast absurd. Inzwischen sind die flächendeckenden Vorstöße zur Verlängerung der Arbeitszeit längst Realität.

Der Abschluss in einigen Siemens-Standorten läutet nun eine weitere Verschärfung des Angriffs ein. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendein Spitzenmanager feststellt, dass seine Firma den Bach runter bzw. ins Ausland gehen wird, wenn die Belegschaft nicht länger arbeitet. Wie war diese Trendwende möglich?

Das Desaster nahm seinen Lauf, als zuletzt der Streik für die Einführung der 35-Stunden-Woche im Osten in einer Niederlage endete. Zwar hatten die ArbeiterInnen dort trotz schwieriger Bedingungen energisch gekämpft, doch sie hatten nicht damit gerechnet, dass sie außer dem Klassenfeind vor sich auch Gegner im Rücken haben. Einer war die IG Metall-Führung, die trotz des Generalangriffs von Kapital und Regierung immer noch glaubte, dass wie in früheren Zeiten ein Kompromiss einfach so möglich wäre. Ein anderer Gegner waren einige Gesamtbetriebsratsfürsten im Westen, die auf den Abbruch des Streiks drängten. Von zwei Seiten unter Druck ging der Streik verloren.

Interessen des Kapitals

Die ARBEITERMACHT schrieb damals, dass im Sog dieser Niederlage das Kapital in ganz Deutschland versuchen wird, die bestehenden tariflichen Regelungen zu ihren Gunsten zu ändern: mehr Flexibilität, längere Arbeitszeiten, weniger Lohn. Die aktuelle Entwicklung gibt uns leider Recht. Was jüngst bei Siemens passierte, läuft auch im Öffentlichen Dienst, wo die Länder eine Arbeitszeit zwischen 40 und 42 Stunden durchdrücken wollen - natürlich ohne Lohnausgleich.

Doch wer glaubt, damit wäre das Schlimmste überstanden, irrt gewaltig! Die nächsten Wochen und Monate werden weitere - und noch schärfere Angriffe - bringen.

Drehen die Kapitalisten durch? Keinesfalls! Sie handeln lediglich so, wie es der Konkurrenzzwang zur Profitmaximierung von ihnen erfordert. Die Krise mit niedrigen Wachstumsraten und damit verbunden auch stagnierendem Absatz lassen Kapazitätsausweitungen nicht zu. Im Gegenteil: immense Überkapazitäten, ein immer rasanterer Wettlauf um Weltmarktanteile und das shareholder value üben einen enormen Kostendruck aus.

Da man aber das konstante Kapital (Anlagen, Maschinerie usw.) nicht so einfach minimieren kann, versucht man, beim variablen Kapital - den Löhnen - zu sparen. Deshalb geht es bei der Arbeitszeitverlängerung eigentlich nicht nur um längere Arbeitszeit. Die Kapitalisten wollen vor allem erreichen, dass die Arbeitszeit absolut flexibel ihren Verwertungsbedürfnissen angepasst und dabei störende Faktoren wie Tarifverträge ausgeschaltet oder minimiert werden. So können Phasen mit längerer Arbeit von Perioden mit Kurzarbeit wechseln. Unter dem Strich ist entscheidend, dass die Beschäftigten pro Arbeitsstunde weniger Lohn erhalten.

Der reale oder oft auch nur behauptete Zwang, die Produktion an einen billigeren Standort zu verlagern, wird dabei zum Dauerargument. Lohnverzicht soll den "Standort zu sichern".

Doch viele Beispiele zeigen, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Selbst wenn die Stammbelegschaft für Lohnverzicht ihre Jobs zunächst behält, werden oft Teilzeitkräfte entlassen. Es ist auch offenkundig, dass längere Arbeitszeit auch bedeutet, dass die Chancen für Neueinstellungen gleichzeitig sinken. Die Massenarbeitslosigkeit wird dadurch nur noch verstärkt.

Wer bisher dachte, die Angriffe von Kapital und Regierung beträfen vor allem die "Randschichten" der Klasse (Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen, RentnerInnen …), der merkt spätestens jetzt, dass es auch den Kernbelegschaften an den Kragen geht. Ohne Frage: nach 1945 gab es keinen so massiven Angriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen!

Dahinter steht das Ziel des Kapitals, Deutschland und die EU zum profitträchtigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen und den USA den globalen Führungsrang streitig zu machen. Dazu müssen den Lohnabhängigen nicht nur soziale Errungenschaften weggenommen werden; dazu muss vor allem der potentiell stärkste Gegner, die noch relativ gut gewerkschaftlich organisierte und kampffähige Arbeiterklasse in den industriellen Kernsektoren wie der Autoindustrie geschlagen werden. Das ist der Grund, weshalb nicht nur ganz schamlos alle "Selbstverständlichkeiten" der Sozialpartnerschaft angegriffen werden, sondern auch Verhandlungskompromisse wie früher nicht mehr funktionieren. Das Kapital bläst zum Sturm, die Gewerkschaftsführung - sammelt Unterschriften!

Hintergrund

Als 1995 in der Metall- und Druckindustrie die 35-Stunden-Woche eingeführt wurde, war das ein wichtiger Erfolg der Arbeiterbewegung. Doch die DGB-Spitzen blieben auf halbem Wege stehen. Sie versäumten es, eine breite Kampagne für die allgemeine Einführung der "35" zu führen und weiter Arbeitszeitverkürzungen zu erkämpfen.

Zugleich ließen sie zu, dass die 35-Stunden-Regelung durch Überstunden, Arbeitszeitkonten u.a. betriebliche oder tarifliche Regelungen permanent ausgehöhlt wurde. Der Grund für diese "Versäumnisse"? Die reformistische Gewerkschaftsbürokratie scheute vor einer größeren Klassenauseinandersetzung zurück. Die Folge: die Klasse blieb in der Arbeitszeitfrage gespalten und den Kapitalisten gelang es, immer neue Breschen in die tariflichen Arbeitszeitregelungen zu schlagen.

Parallel zur Arbeitszeitfrage hätten die Gewerkschaften einen konsequenten Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit führen müssen. Aber statt "Aufteilung der vorhanden Arbeit auf Alle" orientierte man sich vor allem auf die Kernbelegschaften der Großbetriebe und ließ zu - ja war sogar an deren Ausarbeitung selbst beteiligt! -, dass mit den Hartz-Reformen prekäre Arbeit immer mehr um sich griff.
Heute verbreiten Politiker, Medien und "Experten" die These, dass die Deutschen zu wenig arbeiten würden und deshalb die Wirtschaft lahme. Schaut man sich deren Argumente jedoch genauer an, so stößt man auf einen Pferdefuß nach dem anderen.

So wird z.B. bewusst ausgeblendet, dass im internationalen Vergleich die Arbeitsproduktivität in Deutschland über dem Durchschnitt liegt - somit also in weniger Zeit dasselbe produziert wird. Genauso wird "übersehen", dass die Arbeitsintensität, d.h. die Ausbeutungsrate, in den letzten Jahren klar zugenommen hat. Zu kurze Arbeitszeit? Blödsinn!
Angesichts von offiziell über 4 Millionen Arbeitslosen sollen die Beschäftigten noch länger arbeiten?! Wer das fordert, ist entweder irre - oder Kapitalist.

Alternativen

Die Führungen der Gewerkschaften und viele (Gesamt)Betriebsräte geben dem Druck der Unternehmer einfach nach und handeln einen miesen Kompromiss nach dem anderen aus. Dabei glauben sie sogar noch, dass sich die Kapitalisten daran halten werden. Dass diese aber jedes Zurückweichen, jede vergebene Möglichkeit zu kämpfen logischerweise als Schwäche des Gegners auslegen und deshalb ganz bewusst nachkarten, das entgeht diesen BürokratInnen.

Wenn für die Kapitalseite Arbeitszeit einfach nur ein Faktor innerhalb des Prozesses der Kapitalverwertung ist, so müssen wir diese Logik bewusst ablehnen. Arbeitszeit ist Lebenszeit! Deshalb dürfen wir nicht hinnehmen, dass die Verfügung über unser Leben immer direkter dem Profit untergeordnet wird! In der Arbeiterbewegung muss endlich wieder offen über Alternativen zum Lebensregime im Kapitalismus geredet werden! Kann es sein, dass man als junger Mensch erst fast überhaupt keinen Ausbildungsplatz oder Job findet, sich dann vielleicht 20 Jahre lang kaputt schuftet, um schließlich mit Ende 40 zu alt für den Arbeitsmarkt zu sein und auf eine Rente zu warten, von der man nicht leben kann?!

Die Frage der Arbeitszeit wird allerdings nicht in Debatten entschieden, sondern im Klassenkampf! Wenn wir es heute nicht schaffen, den Angriff der Bosse und des Staates zurück zu schlagen, werden wir demnächst nicht über 35 oder 40, sondern über 45 oder 50 Stunden reden und Urlaubs- oder Weihnachtsgeld werden uns wie ein Märchen der Brüder Grimm erscheinen.

Gefangen in der unseligen Logik von Standortsicherung und Sozialpartnerschaft erweisen sich die reformistischen Führungen der Gewerkschaften tagtäglich als unfähig, die Klasse zum Widerstand gegen die Angriffe zu formieren. Je länger sie so taktieren, desto tiefer werden die Spaltungen und der Existenzdruck in der Klasse, desto größer wird deren Enttäuschung, desto mehr frohlocken die Pierer und Co.

Entgegen den "kreativen betrieblichen Lösungen" brauchen wir eine Vernetzung des Widerstands. Jedem ist doch heute klar, dass ein Widerstand nur auf einzelbetrieblicher Ebene angesichts des Druckes wenig Erfolgschancen hat. Umso wichtiger ist es, dass Belegschaften, die angegriffen werden, von anderen Betrieben des Konzerns, der Branche, der Region unterstützt werden.

Dazu reichen Solidaritätsadressen nicht aus. Dafür müssen überbetriebliche Strukturen aufgebaut werden, die einen gemeinsamen Abwehrkampf organisieren. Da wir uns dabei auf die Hilfe des gewerkschaftlichen Apparats nicht verlassen können, brauchen wir eine Struktur, die dazu in der Lage ist. Alle KollegInnen, die kämpfen wollen, müssen sich zu einer kämpferischen Basisbewegung zusammen schließen. Diese Struktur kann dann auch jene erreichen und einbeziehen, die jetzt noch zögern.

Diese Basisbewegung muss zugleich für größere innergewerkschaftliche Demokratie und gegen die Vorherrschaft des Apparates kämpfen. Zugleich müssen wir den DGB auffordern, flächendeckende Streiks zu organisieren: gegen die Agenda, gegen jede Arbeitszeitverlängerung.

Wenn die Bosse uns die Arbeitszeit verlängern wollen - nehmen wir uns mehr Zeit, den Widerstand zu organisieren - solange uns noch Zeit bleibt!

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Nr. 92, Juli/August 2004

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