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Kampf um die 35-Stunden-Woche

Streik(ab)brecher raus!

Markus Lehner, Neue Internationale 82, Juli/August 2003

Wann gab es das zuletzt? Vor einem Metallbetrieb (ZF Getriebe, Brandenburg) riefen hunderte ArbeiterInnen: "Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten!". Nichts bringt die Stimmung der streikenden KollegInnen der ostdeutschen Metallindustrie am Ende dieses Streiks besser auf den Punkt. Mit Wut und Empörung reagierten sie darauf, dass "ihre" sozialdemokratischen Führer in Gewerkschaft und Politik ihrem Kampf in den Rücken gefallen sind.

Hintergrund

Am Beginn stand das jahrelange Hinauszögern der Ost-West-Angleichung. Noch in der letzten Tarifrunde hat der Führer des "Modernisierer"-Flügels in der IG-Metall, Bertold Huber, mit dem Zugestehen einer zweijährigen Laufzeit des Lohntarifvertrages verhindert, dass es 2003 zu einer gemeinsamen Lohn/Arbeitszeit-Tarifrunde Ost/West kommt. Damit war klar, dass die schwächer organisierten Ost-MetallerInnen die Hauptlast des Tarifkampfes tragen mussten. Dazu kam noch Zwickels Ankündigung auf der Arbeitszeitkonferenz Ende 2002, dass es keinen Arbeitskampf um die 35-Stundenwoche-Ost geben würde.

Trotz dieses Gegenwinds von Vorstand und West-Gewerkschaftsführern wurde der Druck der Basis immer stärker: mehrere Delegiertenkonferenzen der Ost-Bezirke drängten auf die Tarifauseinandersetzung und machten klar, dass ohne Angleichungsperspektive die IG-Metall im Osten bald aufgeben könne. Ebenso eindeutig fiel dann auch das Votum der Tarifkommission des Bezirks Berlin/Brandenburg/Sachsen aus.

Wenn jetzt behauptet wird, der Streik sei der Basis von einem Teil des Vorstands aufgezwungen worden, so ist dies nur Teil des medialen Lügengebäudes um diesen Streik. Auch die Ergebnisse der Urabstimmungen beweisen das Gegenteil.
Der Streik begann in einer für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung entscheidenden Phase. Mit der Agenda 2010 hat die SPD-Regierung einen zentralen Angriff auf die Arbeiterklasse und ihre Errungenschaften gestartet. Dabei geht es nicht einmal primär um die einzelnen Sauereien dieses Pakets. Es geht vielmehr darum, dass hier eine krasse Lohnraubpolitik zugunsten des Kapitals betrieben wird, die ohne jegliche Abschwächung durch "Kompromisse" mit den Gewerkschaften durchgezogen wird. Damit wird ein ungebremster Angriff auf die Kernschichten der gewerkschaftlich organisierten, besser gestellten Teile der Arbeiterklasse eröffnet. Die nächsten Vorstöße, z.B. auf die Tarifvertragsregulierungen und den Kündigungsschutz, sind schon angekündigt.

Nachdem die Gewerkschaftsführung auch auf Druck der Basis zunächst "gewerkschaftlichen Widerstand" angekündigt hatte, war bald klar, dass sie nur wieder ins Verhandlungsgeschäft mit ihren sozialdemokratischen Brüdern kommen wollte. Doch nicht nur die Mobilisierung wurde halbherzig betrieben - gleichzeitig gab es einen Flügel der Gewerkschaftsführung, der sich offen gegen jeden Kampf stellte. Dies betraf nicht bloß besonders widerliche Gestalten wie IG BCE-Chef Schmoldt. Auch in den sich "kämpferischer" gebenden Führungen wie der IG-Metall gab es einflussreiche Kreise (Konzernbetriebsräte, Modernisierer), die beständig über das "Beton"-Image der IG-Metall klagten. Schon damals wurde Peters als Schuldiger für schlechte Presse und sein Kurs als "Weg in die gesellschaftliche Isolierung" bezeichnet.

Nachdem dies zunächst nur in einzelnen Interviews geäußert wurde, kam nach dem 24. Mai praktisch die Kapitulationserklärung: nachdem vor der Mobilisierung zum dezentralen Protesttag gegen die Agenda praktisch alles unternommen wurde, damit dieser ein mageres Bild ergibt, dienten die 90.000 Mobilisierten zum Vorwand, um zu erklären, dass die Basis dem Protest gegen die Agenda nicht folgen würde.

In der folgenden "Strategie-Konferenz" in Berlin Anfang Juni erklärten dann Zwickel und Huber, dass es einen Weg jenseits "alter Rituale" hin "zur Mitte" geben müsse - was auch die partnerschaftliche Beteiligung am "Umbau des Sozialsystems" bedeuten würde.

Hetzte

Passten die Warnstreiks in der ostdeutschen Metallindustrie im Mai noch in die Vorstandslinie, so änderte sich die Situation im Juni, als die Streiks in Sachsen begannen. Lief die Medienkampagne gegen die Gewerkschaften schon rund um die Agenda im Mai auf Hochtouren, wurden nach der Kapitulation zur Agenda die Streiks in Ostdeutschland zum Hassobjekt einer lange so nicht mehr gesehenen Anti-Gewerkschaftskampagne der bürgerlichen Presse. Selbst in der öffentlich-rechtlichen ARD wurden in Tagesthemen-Kommentaren Gewerkschaften zum Staatsfeind Nr.1 stilisiert und ihr Untergang herbeigewünscht. In FDP und CDU/CSU wurde gleich laut darüber nachgedacht, wie man solche Streiks in Zukunft verbieten könnte.

Zentral für die bürgerliche Gegenkampagne wurde die Mobilisierung für den Streikbruch. Dies wurde nicht nur von den Unternehmern organisiert und von den Medien propagiert und mit Lügen ausstaffiert - auch die offizielle Politik beteiligte sich am Streikbruch (der Chemnitzer Bürgermeister ließ sich dabei sogar an der Werkbank ablichten). Passend dazu beteiligten sich schließlich auch Justiz und Polizei: mit ständig neuen Auflagen, Anordnungen zur Gassenbildung, Strafbescheiden, Verweigerungen polizeilicher Genehmigungen für Kundgebungen etc. wurde klargemacht, wie schnell diese Organe arbeiten können, wenn sie für ihre kapitalistischen Auftraggeber tätig sind (und es nicht z.B. um Nazi-Aufmärsche oder rassistische Übergriffe geht).

Vor den Fabriktoren wurde der Streik mit einer Härte und Gewalt geführt, wie es in Deutschland wahrscheinlich zuletzt in den 1920er Jahren der Fall war. Die spektakuläre Versorgung von Streikbrechern per Hubschrauber war nur ein PR-Gag gegenüber den unzähligen Versuchen, mit Streikbrecher-Kolonnen (meist aus leicht erpressbaren befristet Beschäftigten) die Streikposten zu durchbrechen. In Zwickau konnte ein Versuch, Streikbrecher-Kolonnen per Bahn anzukarren, durch eine geschickte Blockadeaktion in Zusammenarbeit mit BahngewerkschafterInnen verhindert werden.

"Wirkungen"

Der Streik begann in der letzen Juli-Woche eine besondere Wirkung zu zeigen. Die Streiks bei den Automobil-Zulieferern wie ZF-Getriebe sollen dazu geführt haben, dass die Bänder in den westdeutschen Betrieben von BMW, VW und Audi stehen blieben. Allein bei BMW sollen pro Tag 38 Millionen Verlust aufgelaufen sein, es wurde Kurzarbeit beantragt und genehmigt.

Tatsache ist aber, dass Kurzarbeit gesetzlich nicht aufgrund von Streikauswirkungen beantragt werden darf, sondern ausschließlich bei Absatzschwierigkeiten. Tatsache ist auch, dass dem Betriebsrat der Antrag auf Kurzarbeit für den Bereich der Fertigung des 3er BMW bereits vor! dem Streik vorlag und eine Vereinbarung getroffen wurde, die das Kurzarbeitergeld auf 97% des Nettolohns durch BMW aufstockt. Es ist eine weitere Tatsache, dass in der Firma ZF in Brandenburg wohl Getriebe für BMW gefertigt werden, allerdings nicht für die 3er Reihe!

Die Lügenpropaganda der Allianz von Kapitalisten, Betriebsratsfürsten, bürgerlichen Medien und Politikern aller Bundestagsparteien kennt keine Grenzen mehr. Ihr Ziel ist ganz einfach: eine Spaltung zwischen den ArbeiterInnen im Westen und Osten im allgemeinen und den nicht organisierten und organisierten ArbeiterInnen im Osten im besonderen.

Für Außenstehende stellt dies wohl eine Situation dar, in der die Gewerkschaft jetzt Druck machen muss, die Lügen entlarvt und Solidarität in den westlichen Betrieben organisiert. Für Zwickel, Huber und ihre Betriebsratsfürsten sind diese Lügen jedoch ein willkommener Vorwand, den Streik abzuwürgen und sich ihrer Gegner um Peters zu entledigen, ohne Rücksicht auf die Interessen und die Zukunft der ostdeutschen MetallerInnen. Schröder und seine Freunde im Management der Automobilindustrie können jubeln.

Eine Eskalation, ein bundesweit ausgedehnter Konflikt hätte eine entscheidende Wende im Kampf gegen die gesamte Kapitaloffensive einleiten können. Gerade an den Auswirkungen der Niederlage, dem allgemeinen Infragestellen der Streik- und Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften, die dann von Seiten der Bourgeoisie folgte, sieht man, welch strategischer Moment hier verpasst wurde. Stattdessen begannen nun die Betriebsratsfürsten der West-Konzerne und in ihrem Gefolge die Modernisierer rund um Zwickel und Huber auf ein baldigst mögliches Streikende zu drängen.

Manöver

Es muss ganz klar gesagt werden: die Auftritte der Gesamtbetriebsräte Franz (Opel) und Klemm (Daimler/Chrysler) waren ein klarer Stoß in den Rücken der Streikenden. So meinte Franz: "Die Streiks für die 35 Stundenwoche im Osten waren niemals von einer breiten Bewegung der Arbeitnehmerschaft getragen. Ich bin dafür, dass alle Streiks ab sofort beendet werden ..." (26.6. in der "Welt"). Klemm nannte Peters in der "Süddeutschen" einen "tarifpolitischen Geisterfahrer".

Die "Modernisierer" um Zwickel warteten nur darauf, um "die Betriebsräte" als ihren Bezug zur "Basis" zu beanspruchen, die angeblich zu einer solchen Konfrontation nicht bereit war. Letztlich waren die Betriebsrätekonferenz der Automobilkonzerne, die Auftritte von Franz und Klemm, sowie die Irrfahrt Zwickels von den "Spitzengesprächen" bis zum Scheitern der Tarifverhandlungen eine mehr oder weniger gezielte Kampagne für einen Putsch der "Modernisierer" auf Kosten der Streikenden: gemeiner, ekelhafter Klassenverrat. Solche Leute gehören samt und sonders aus der Gewerkschaft entfernt!

Die Herausnahme wesentlicher Streikbetriebe, die hastige Planung von Haustarifverträgen bei VW-Zulieferern machte schon vor Beginn der letzten Verhandlungsrunde die Streikfront löchrig. Das Kalkül der Modernisierer, einen zurechtgeschusterten Kapitulantentarifvertrag hinzubekommen, scheiterte aus verständlichen Gründen: Das Kapital, das sich momentan in der Offensive befindet, ließ es sich nicht nehmen, der IG-Metall eine deutliche Niederlage beizubringen. Dazu kam, dass Düvel und Peters letztlich anders als Zwickel nicht bereit waren, ein Ergebnis zu unterzeichnen, das sogar noch Verschlechterungen gegenüber der aktuellen Situation gebracht hätte.

Fazit

Statt mit dem Scheitern der Verhandlungen jetzt tatsächlich zu einer Eskalation des Streiks zu schreiten, verkündete Zwickel die Niederlage. Dies stellt angesichts der gesellschaftlichen Situation einen gemeinen Verrat dar, für den Zwickel, die Modernisierer und die hinter ihnen stehenden Betriebsratsfürsten die Hauptverantwortung tragen. Er bedeutet nicht nur einen Schlag in den Rücken der heroisch kämpfenden KollegInnen in Berlin/Brandenburg/Sachsen. Er bedeutet auch eine entscheidende Schwächung der sich gerade herausbildenden Kampffähigkeit zentraler ostdeutscher Betriebe. Er bedeutet vor allem, dass sich der Angriff mit der Agenda 2010 nunmehr unweigerlich auf die Ebene der Tarifpolitik und damit auf das Herzstück der deutschen Gewerkschaften fortsetzen wird - und die Waffe des Streiks nach dieser Niederlage entscheidend an Schrecken für die Bourgeoisie verloren hat.

Dieser Streik ist nicht an der Schwäche der ostdeutschen MetallerInnen, ihrem niedrigeren Organisationsgrad, an der wirtschaftlichen Situation, an der "falschen Information" gegenüber dem Vorstand etc. gescheitert

Er ist wesentlich daran gescheitert, dass die traditionalistische IG-Metall-Führung um Peters und Düvel nicht bereit war, diesen Streik als zentrale politische Auseinandersetzung gegen die gesamte Kapitaloffensive zu führen. Noch entscheidender war freilich der offene Verrat der Zwickel, Franz & Co.

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Nr. 82, Juli/August 2003

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