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Frauen in Afghanistan

Frieden ohne Freiheit

Jürgen Roth und Anne Moll, Neue Internationale 77, Februar 2003

Seit rund einem Jahr ist der Krieg in Afghanistan vorbei. Die Bomben, die auf das Land fielen, dienten ganz allein imperialistischen Interessen und nicht der Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten. Diese Behauptungen waren für die Sieger nichts als Täuschung gegenüber ihrer Arbeiterklasse und den Unterdrückten. Wie wahr diese Feststellung ist, zeigt ein Blick auf das Leben der Frauen im heutigen Afghanistan.

Vergangenen Sommer hat die Loya Jirga - eine Versammlung der feudalistischen Eliten - die Machtübernahme durch die Nordallianz akzeptiert. Es handelt sich um eine von den imperialistischen Siegern eingesetzte Marionettenregierung, deren Fäden die regionalen Warlords, reaktionären Mullahs und Mujahedins in Händen halten.

Allein von der BRD wurden im Rahmen des Stabilitätspakts bis 2006 jährlich 80 Mio. Euro zugesagt. Solche Summen sind aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein - gemessen an den Militärausgaben für die Operation "Enduring Freedom", gemessen an den angerichteten Schäden, und v. a. gemessen am Leiden der Bevölkerung durch mehr als 20 Jahre vom Imperialismus gesponserten Bürgerkrieg. Bis jetzt sind gerade 4 % in Projekte geflossen, die speziell die Situation von Frauen und Mädchen verbessern sollen.

Das neue afghanische Frauenministerium erhielt in den ersten Wochen nach seiner Ernennung kein Geld. Jetzt verfügt es über ein Budget von nicht einmal 1 Mio. Euro, was gerade 0,2 % des Gesamtbudgets entspricht!

Bis heute gelten selbst die ohnehin stark eingeschränkten Menschenrechte nicht für Frauen. Weit schwerer aber wiegt, dass sich ihre konkrete Lebenssituation in den Städten kaum verbessert hat. Außerhalb der Städte hat sich die Lebenslage der Massen sogar verschlechtert.

Laut Gesetz stehen die spärlich vorhandenen Bildungseinrichtungen jetzt allen Mädchen und Frauen offen. Das Mindestheiratsalter wurde heraufgesetzt. Es existiert kein legales Frauenarbeitsverbot mehr für eine Berufsausübung außerhalb des eigenen Haushalts.

Doch auch diese kleinen Fortschritte kommen selbst in den Großstädten nur wenigen Frauen wirklich zugute. Das ist nicht nur Resultat fehlender materieller Voraussetzungen, es ist politisch gewollt. Beides ist ein Produkt reaktionärer wirtschaftlicher, von der Politik bewusst konservierter Produktionsverhältnisse.

Die fundamentalistische Idee lebt weiter und wird von der jetzigen Regierung, ohne nennenswerten Unterschied zum früheren Taliban-Regime, getragen und unterstützt. Demokratische Organisationen sind weiter Repression und Verfolgung durch die islamisch indoktrinierte Polizei ausgesetzt.

Was ist RAWA?

Die Revolutionäre Afghanische Frauenvereinigung (RAWA) ist eine der wenigen, wenn nicht sogar die einzige Organisation, die überwiegend im Untergrund operiert und es wagt, direkt Kritik am jetzigen Regime zu äußern und indirekt auch an den imperialistischen Besatzungsmächten. Sie setzt sich unter den afghanischen Organisationen nahezu allein für Demokratie und Menschenrechte ein.

Ihr Versuch, als Nichtregierungsorganisation (NGO) amtlich anerkannt zu werden, ist bis jetzt von der Regierung mit der bezeichnenden Begründung abgewiesen worden, dass sie politisch aktiv sei! Andere Frauenorganisationen (z.B. Shuhada) hingegen haben diesen Status erhalten, können damit zwar besser öffentlich arbeiten ohne allerdings auch nur einen Hauch politischer Kritik am Kriegsherrenregime äußern zu dürfen. Sie verkörpern gewissermaßen eine "NGO-light", was nicht heißt, dass NGOs woanders politisch besonders konsequente und kämpferische Gremien wären. Doch selbst im Vergleich zu ihnen ist Shuhada zahm.

Das Verlangen nach einer "NGO-Vollversion" ist ausgesprochen bescheiden. Es bedeutet noch lange nicht, sich für eine andere Regierung oder gar ein anderes Gesellschaftssystem einzusetzen. Es bedeutet nur das uneingeschränkte Recht auf kritische Vorschläge an der Politik der Regierung und auf Aktionen, die die Regierung zu einem "Wandel" bewegen sollen. Ein europäisches Musterbeispiel für eine solche Biedermannopposition ist ATTAC! Dürfen sich die afghanischen Frauen von einer solchen Institution einen grundlegenden Wandel ihres Schicksals erhoffen? Wohl kaum!

RAWA ist unseres Wissens - angesichts der gerade für Frauen höchst komplizierten Situation in Afghanistan - die fortschrittlichste Organisation von allen. Das ist schwer genug vor dem Hintergrund der ungeheuren Zermürbung der Volksmassen nach fast einem Vierteljahrhundert Krieg, Bürgerkrieg und Naturkatastrophen. Es wird verständlich angesichts eines zahlenmäßig schwachen Proletariats und der Halbleibeigenschaft der Bauern und Bäuerinnen.

Diese Umstände sind auch Resultat des gescheiterten "Entwicklungsmodells von oben" unter der Regierung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) mit Unterstützung der damaligen UdSSR. Sie hatte versucht Reformen durchzuführen, aber ohne die unterdrückten und ausgebeuteten afghanischen Klassen aktiv einzubeziehen und zu mobilisieren. Das ist aber unverzichtbar, wenn man Afghanistan "modernisieren" will - ein Land, das durch den britischen und zaristischen Kolonialismus als Pufferstaat zwischen ihren jeweiligen indischen und eurasischen Besatzungsgebieten ohne Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker benutzt wurde.

RAWA fordert eine Organisation aller Unterdrückten des Landes, um es von der Nordallianz, von allen fundamentalistischen und repressiven Kräften zu befreien. RAWA lehnt die von den Protektoratsmächten installierte Regierung Karsai ab und ist deshalb progressiv antikolonial und anti-feudalistisch, aber gemessen an den Notwendigkeiten der Befreiung der afghanischen Frauen politisch unzureichend. Immerhin: sie ist eine gegen die Reaktion im eigenen Lande heldenhaft kämpfende Frauenorganisation!

Es wäre aber notwendig, zunächst klar Stellung gegen die "zivilisierten" Siegermächte zu beziehen, weil die Besatzung durch den profitgierigen Imperialismus nichts weiter bedeutet, als das vollkommen verarmte Land weiter in kompletter Abhängigkeit zu halten!

Weitere Forderungen von RAWA sind:

Solidarität mit dem afghanischen Volk!
Freiheit für Gewerkschaften, Parteien, Frauen- und Jugendorganisationen!
Aktives und passives Wahlrecht für Frauen!
Für Bekleidungsfreiheit!
Freie Berufswahl für Frauen!
Für das Recht, über Körper und Fruchtbarkeit selbst zu bestimmen!
Für das Eheverbot bis zum 16. Lebensjahr und für freie Partnerwahl!
Für Gleichberechtigung in allen gesellschaftlichen Bereichen!

Es handelt sich hier um ein bescheidenes bürgerliches Programm für gleiche Rechte und eine parlamentarische Republik.

Offen bleibt, welche Klassen dieses Programm durchsetzen sollen. Die klapprigen Potentaten offenbar nicht, aber die "zivilisierten" Besatzungsmächte auch nicht, denn eben die haben diese reaktionären Statthalter zur Sicherung ihrer Herrschaft ausgesucht, eingesetzt und unterstützt.

Sie duldeten ohne Widerspruch die Absetzung der Frauenministerin Sima Samar durch fundamentalistische Regierungskreise. Dabei war diese Frau zunächst als Symbol für das US-Engagement für Frauenangelegenheiten vorgeführt worden und mit der Einführung kostenloser Schuluniformen für Mädchen (mit Kopftuch) restlos ausgelastet.

Anstelle einer Art Lobbypolitik brauchen die afghanischen Frauen eine Bewegung der Arbeiterinnen und Bäuerinnen, die gegen Vergewaltigungen, Misshandlungen und Unterdrückung innerhalb der Familien kämpft, Frauenhäuser einrichtet und ihre fortschrittlichen Errungenschaften mit der Waffe in der Hand verteidigen kann.

Praktische Gleichstellung von Mann und Frau erfordert umfangreiche Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme für Frauen sowie die Vergesellschaftung der Hausarbeit. Nachhaltige Frauenbefreiung muss auch über gleiche Rechte hinausgehen, um die tief sitzenden Auswirkungen des Patriarchats nach und nach auszumerzen. Deshalb muss es z.B. das Recht auf gesonderte Treffen in Vereinen, Gewerkschaften, Parteien, auf Dorf- und Wohnviertelebene und eine eigenständige Bewegung der Arbeiterinnen und anderen werktätigen bzw. unterdrückten Frauen geben.

Fazit

RAWA ist trotz ihres demokratischen Programms keine revolutionär-demokratische Frauenorganisation. Wir vermissen in ihrem Programm u. a. die Forderung nach einer aus einem siegreichen Volksaufstand hervorgegangenen verfassunggebenden Versammlung (Konstituante), Wahl und jederzeitige Abwählbarkeit nicht nur der Abgeordneten, sondern auch der Staatsbediensteten, der Offiziere, Richter usw. Dazu wäre ein klares Bekenntnis zur Zerschlagung des alten Staatsapparates durch bewaffneten Volksaufstand notwendig - bei RAWA Fehlanzeige! Enorm wichtige bürgerlich-demokratische Aufgaben wie die Enteignung des Großgrundbesitzes und das Selbstbestimmungsrecht für die afghanischen Volksgruppen finden keine Erwähnung, sind aber gerade für die wirkliche Verbesserung der Situation von Frauen elementar, wenn diese sich nicht in einem Rechtsanspruch auf dem Papier erschöpfen sollen.

Diese Forderungen erhalten umso größere Bedeutung, weil es ein fortschrittliches, geschweige revolutionäres Bürgertum nicht gab und auch nie geben wird. Sie müssen daher mit dem Kampf für die Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus verknüpft werden. Aufgrund der Bedeutungslosigkeit des afghanischen Proletariats ist dies eine Aufgabe, die nur im Rahmen einer sozialistischen Föderation des Mittleren Ostens bewältigt werden kann. Dies ist nicht nur die Form, in der die Industrialisierung der betreffenden Länder unter einer länderübergreifenden Planwirtschaft bewältigt werden kann, sondern auch die, in der das Selbstbestimmungsrecht der verschiedenen Nationalitäten und die Befreiung der Frau einzig und allein materielle Mittel zu ihrer Verwirklichung finden können. Das Schicksal der afghanischen Frauen hängt mit der permanenten Revolution Mittelasiens und einer föderativen ArbeiterInnen- und Bauernregierung aufs Engste zusammen.

Die Befreiung der Frauen kulminiert auch in Afghanistan in der Frage, welche sozialökonomischen Grundlagen die Gesellschaft hat. Solange der Imperialismus über das Schicksal von Afghanistan bestimmt, wird es nie aus Abhängigkeit und Unterentwicklung ausbrechen können. Es wird Spielball imperialer Interessen bleiben und kaum die Chance haben, feudale, vorkapitalistische Zustände zu überwinden. Ohne eine solche grundlegende soziale Umgestaltung, ohne die Freisetzung einer höheren Produktivität wird es aber auch unmöglich sein, demokratische und zivilisatorische Errungenschaften wie die Gleichberechtigung der Frau durchzusetzen.

In diesem Sinne muss ein Programm für die Frauenbefreiung auch folgende Forderungen enthalten:

Für den Aufbau von Räten der ArbeiterInnen und Kleinbauern- und bäuerinnen!
Für eine ArbeiterInnen- und Bauernrepublik in Afghanistan!
Für klassenkämpferische proletarische und Kleinbäuerinnenbewegungen!
Für eine sozialistische Föderation in Zentralasien!
Für einen wirtschaftlichen Notplan unter Kontrolle der ArbeiterInnen und Kleinbauern/bäuerinnen mit Schwerpunkt auf der landwirtschaftlichen Erzeugung, der Eingliederung der Flüchtlinge - finanziert aus den Taschen der imperialistischen Kriegsherren!
Schluss mit dem imperialistischen Protektorat! Abzug aller Besatzungsmächte! Nieder mit den Warlords, dem König Zahir Schah und der Regierung Karsai!

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Nr. 77, Februar 2003

*  Krieg den Kriegstreibern! Nieder mit dem Imperialismus!
*  Aufgaben der Anti-Kriegsbewegung: Verteidigt den Irak!
*  Friedensengel? Fünf Fragen zur UNO
*  Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit: Allheilmittel Grundeinkommen?
*  Tarifrunde im Öffentlichen Dienst: Wenig mehr als Nichts
*  Frauen in Afghanistan: Frieden ohne Freiheit
*  Venezuela: Ein reaktionärer Generalstreik
*  Resolution: Sozialforen und Neue Internationale
*  Antikapitalismus: Braucht die Bewegung eine Partei?
*  kanalB: Nie wieder herkömmliches Fernsehen