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Venezuela

Todeskampf des “Sozialismus des 21. Jahrhunderts”

Dave Stockton, Neue Internationale 215, Dez. 16/Jan. 17

Venezuela, die Heimat des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, den der charismatische Präsident Hugo Chávez verkündet hatte, hat unter seinem Nachfolger Nicolás Maduro einen spektakulären wirtschaftlichen und politischen Schiffbruch erlitten. Das Land weist negative Wachstumsraten von 8 %, die höchste Inflationsrate der Welt mit 482 % und einen Arbeitslosenstand von 17 % mit steigender Tendenz auf. Die Wochenration an Grundnahrungsgemüse für eine Familie hat sich im März und April 2016 allein um 25 % verteuert und übersteigt das Mindesteinkommen für Staatsbedienstete um das 22-fache.

Bedeutung des Öls

Der Hauptgrund für diese Katastrophe liegt auf der Hand. Er ist in Venezuelas Segen und Fluch, dem Öl, zu suchen. Die Ölpreise kletterten bis zum Beginn der großen Depression 2008 auf ihren historischen Höchststand. Chávez nahm die Ölindustrie des Landes, die bislang eine Melkkuh für ausländische multinationale Konzerne und die wohlhabende venezolanische Elite gewesen war, unter Kontrolle und lenkte die Einkünfte in Ausgaben für sozialen Wohnungsbau, Bildung und Gesundheitswesen um.

Er verstaatlichte 1200 Privatfirmen und setzte Formen von ArbeiterInnenmitbestimmung in der Geschäftsführung ein, obwohl die meisten dieser Pläne nicht lange vorhielten und auch keine ArbeiterInnenkontrolle über die Produktion im eigentlichen Sinn bedeuteten.

Dennoch waren einige Reformen, durchgesetzt von Sonderkommissionen anstelle der korrupten alten Staatsinstitutionen, größere Errungenschaften für die Armen. Als Hugo Chávez 1998 gewählt wurde, lebte die Hälfte der venezolanischen Bevölkerung in Armut. Statistiken der Weltbank weisen einen Rückgang der Armut um 25 % bis 2012 nach. Der Anstieg beim Lebensstandard der Massen war bemerkenswert. Aber dies betraf im Wesentlichen einen Wandel in Bereichen des Verbrauchs und änderte nichts Grundsätzliches daran, wie der gesellschaftliche Reichtum erwirtschaftet wurde und wer Planung und Leitung der Wirtschaft innehatte. Diese Errungenschaften konnten in der Hinsicht durch ein Absinken der Staatseinkünfte und durch Preisanstiege unterhöhlt werden; genau das ist in den letzten Jahren passiert.

Auswirkungen der Krise

Vor dem Hintergrund einer internationalen und nationalen Ökonomie, die vom Großkapital beherrscht wird, und einer Landwirtschaft, die sich noch fest in den Händen von GroßgrundbesitzerInnen und UnternehmerInnen befindet, konnte sich keine selbsttragende oder ausgewogene Wirtschaft entfalten. Bis 2008 wurden zwar Fortschritte in Richtung auf stärkere Vielfalt von Wirtschaftszweigen erzielt, jedoch in der Weltkrise von 2008 bis 2010 kam dies zum Erliegen.

Seitdem wurde Venezuela zunehmend abhängiger von Auslandseinfuhren, besonders bei Nahrungsmitteln und anderen Verbrauchsgütern. Mit dem Preissturz für Öl auf ein Rekordtief, allein 2015 um 50 %, druckte die Regierung Geld, um das größer werdende Loch in den Staatskassen zu stopfen, mit dem Ergebnis, dass die Inflation in Galopp verfiel und die Läden sich leerten, während diejenigen, die es sich leisten konnten, Waren horteten.

Offensive der Reaktion

Dies schuf eine große Gelegenheit für die Kapitalistenklasse des Landes, die versuchte, mit Unterstützung aus der Bevölkerung Maduro zu stürzen. DemonstrantInnen aus der Mittelschicht gingen mit leeren Kochtöpfen auf die Straße, und an der Spitze marschierten die ElitepolitikerInnen, die schon immer erbitterte Feinde des Chávismus gewesen waren. Aber als sich die Wirtschaftskrise verschärfte, entstand auf den Straßen eine wahre Massenbewegung, der MUD (Mesa de la Unidad Democrática = Runder Tisch der Demokratischen Einheit). Sie war gewaltbereit und wurde von der US-Botschaft, dem Weißen Haus und der CIA unterstützt.

2015 bezichtigte die Obama-Administration Maduro der Korruption und der Menschenrechtsverletzung, reine Heuchelei im Vergleich zu ihrem völligen Stillschweigen angesichts der mörderischen Repression durch Ägyptens Diktator Abd al-Fattah as-Sisi. Dennoch stimmt es, dass die Unterdrückung der Opposition durch Maduro, indem er u. a. den Ausnahmezustand verhängte, die Lage nicht entspannte, sondern zuspitzte. Teile der Chávista-Partei, die PSUV-Bürokratie, sind offenbar in schamlose Vetternwirtschaft verwickelt. Ein solches Verhalten hat den starken Rückhalt in der Bevölkerungsmehrheit, den ursprünglich Chávez und seine Reformen genossen haben, unterhöhlt.

Die Gewerkschaftsbewegung der Ära vor Chávez war an Parteien der alten Elite gebunden und bildete eine Art ArbeiterInnenaristokratie. Unter Chávez entstanden neue Gewerkschaften. Aber der populistische Präsident verkrachte sich bald mit ihnen, als sie die neue „bolivarische Bourgeoisie“ kritisierten, die viele der gesäuberten Geschäftszweige übernahm oder staatliche Unternehmen führte. Während der Zeit seiner PSUV-Gründung zitierte er Rosa Luxemburg auf demagogische Weise falsch gegen die Autonomie der Gewerkschaften: „In der Revolution müssen Gewerkschaften verschwinden ... Gewerkschaften werden geboren mit demselben Gift der Autonomie. Die Gewerkschaften können nicht unabhängig sein, wir sollten damit Schluss machen.“ (Hugo Chávez' Rede zur Gründung der PSUV, Caracas, 24.3.2007)

Heftiger Streit entbrannte bei der verstaatlichten Stahlfirma Sidor und mit der Gewerkschaft der Staatsbediensteten über Löhne. Unter Maduro verschlimmerten sich die Dinge noch; es kam wiederholt zu Zusammenstößen mit der gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnenklasse.

Auf die arbeitenden Massen und die städtische Armut konnte sich das Regime nicht länger verlassen, um die Opposition abzuweisen, denn sie litten ebenfalls schwer unter der Inflation, dem blühenden Schwarzmarkt usw. Maduro wird nun gleichermaßen von links und rechts von Herzen gehasst.

Das rechte Oppositionsbündnis MUD gewann die Kongresswahlen im letzten Jahr mit einem Erdrutschsieg. Chávez' bonapartistische Verfassung, gemäß der der Präsident für 7 Jahre im Amt bleibt, bedeutet für die Opposition, dass sie Maduro vorzeitig nur durch eine Volksabstimmung über seine Abberufung loswerden kann. Selbst wenn diese erfolgreich ausfiele, wäre Maduros Vizepräsident sein Nachfolger.

Unter der Krise leiden die Frauen in langen Warteschlangen, die ArbeiterInnen, die sich das Nötigste nicht mehr leisten können. Dies und der Fehlschlag von Preiskontrollen sowie die schreiende Unzulänglichkeit bei Sonderzuteilungen für die Ärmsten bewirken, dass das Land einem Zusammenstoß entgegengeht. Die Gefahr ist groß, dass die Rechten weiter die Proteste beherrschen, und dass am Ende Teile der Armee, die bislang loyal zum Erbe von Hugo Chávez standen, mit einem Staatsstreich eingreifen werden.

Gescheiterte Strategie

Es ist klar: Die Strategie von Hugo Chávez hat die Prüfung im Kampf gegen „den Kapitalismus und Imperialismus des 21. Jahrhunderts“ nicht bestanden. Trotz aller revolutionären Rhetorik war sie ungenügend revolutionär, genauer gesagt, sie war Spielart bürgerlicher Reformpolitik. Der Reformismus des 21. Jahrhunderts aber trägt alle Schwächen des Reformismus aus dem vergangenen Jahrhundert in sich. Nur das Etikett hat gewechselt. Dadurch, dass nicht die Kontrolle über die großwirtschaftlichen Produktionsmittel, über Banken, Medien usw. ausgeübt wurde, und nicht Armee- und Polizeiapparat zu Gunsten einer Miliz der Massen aufgelöst wurden, die im Kern von der ArbeiterInnenklasse gestellt wird, hat der Chávismus seinen unausweichlichen Sturz vorbereitet.

Die ursprünglichen Reformen waren tatsächlich sehr wesentlich und müssen bis zum Schluss gegen die ausbeuterischen SchmarotzerInnen der Elite, den Internationalen Währungsfonds und andere Körperschaften der nationalen und internationalen Bourgeoisie verteidigt werden. Aber das kann nur geschehen, wenn die ArbeiterInnenklasse, die städtische Armut und die Jugend sich aus dem Klammergriff Maduros und der PSUV-Bürokratie befreien und kraftvolle antikapitalistische Maßnahmen verlangen, um die Krise anzupacken und die Grundlage für eine ArbeiterInnenregierung zu legen, die die Konterrevolution durch Massenaktion niederschlagen kann.

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Nr. 215, Dez. 16/Jan. 17

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