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Neue Großmacht?

Wohin geht China?

Jürgen Roth, Neue Internationale 125, November/Dezember 2007

Angesichts der selbst von der KP-Führung auf dem 17. Volkskongress eingestandenen „Schattenseiten des Wirtschaftswunders“ liegt es nahe, den Zustand der Volksrepublik etwas näher unter die Lupe zu nehmen. Beginnen wir mit einem Rückblick auf die Besonderheiten der Restauration des Kapitalismus im bevölkerungsreichsten Land der Erde.

Vom degenerierten Arbeiterstaat zum Kapitalismus

Nach dem Sieg über Chiang Kai Chek 1949 etablierte die KP Chinas einen neuen Staatsapparat unter ihrer Kontrolle und dominierte die installierte Volksfrontregierung (Block der 4 Klassen, Neue Demokratie). Der Kapitalismus und mit ihm die chinesische Bourgeoisie und der Großgrundbesitz wurden aber erst als Reaktion auf Boykott und Koreakrieg Anfang der 50er Jahre abgeschafft. Seit Existenz des von Beginn an bürokratisch degenerierten Arbeiterstaats China war die herrschende stalinistische Kaste zutiefst gespalten über die Ausrichtung der Wirtschaft: zentralistische Kommandowirtschaft nach dem sowjetischen Modell oder Kombination mit dezentralen Elementen à la „Marktsozialismus“?

1978 hatte sich die Fraktion der Reformer um Deng Hsiao Ping endgültig durchgesetzt. Die bäuerliche Familienwirtschaft wurde wieder eingeführt. Zunächst sollten diese materiellen Anreize die Produktion und damit den Export steigern, damit China neue Technologien importieren konnte. Doch das Dorf bildete die Keimzelle zunächst der kleinen und dann einer kapitalistischen Warenerzeugung. Letztere entwickelte sich aus der genossenschaftlichen Hülle lokaler Volkskommune-Betriebe zu den „städtisch-ländlichen Unternehmen“ der Agrar- und Leichtindustrie, die sich mehr und mehr vom Zentral-plan emanzipierten. Zweite Säule der Marktwirtschaft waren die Sonderwirtschaftszonen der Küstenregionen, die mit zahlreichen Vergünstigungen Auslandskapital anlockten.

Die auch als Folge der Wirtschaftsentwicklung entstandene Demokratiebewegung, die das politische Monopol der Partei in Frage stellte, wurde 1989 auf dem Tiananmenplatz blutig ausgelöscht. Doch das Intermezzo der Hardliner um Li Peng, denen das Tempo der Marktreformen zu schnell und unkontrolliert ging, währte nicht lange. 1992 beschloss der 11. Parteitag, den Kapitalismus auch ins Herz der chinesischen Ökonomie zu pflanzen. Der Staatsapparat, der bis dahin die bürokratische Planwirtschaft verteidigt hatte, wurde nun in den Dienst der kapitalistischen Restauration gestellt. Ab diesem Zeit-punkt war also die VR China kein Arbeiterstaat mehr.

Besonderheiten des Restaurationsprozesses

Im Gegensatz zu Osteuropa implodierte die chinesische Planwirtschaft nicht blitzartig, sondern wurde schrittweise und stets unter Kontrolle der Partei unterhöhlt. Das und die Niederschlagung der Oppositionsbewegung waren die Lehren, welche die Partei- und Staatsführung aus den Umwälzungen im Ostblock und der Sowjetunion gelernt hatten. Um ihr Machtmonopol aufrechtzuerhalten, wurde die Marktwirtschaft der Staatsindustrie schrittweise übergestülpt - nicht ohne Erfolg! Zigmillionen ArbeiterInnen und Bauern wurden entlassen bzw. verließen ihre Dörfer. Die Bedeutung der „städtisch-ländlichen Unternehmen“ ist heute nur noch gering. An ihre Stelle traten Großkonzerne heimischen wie ausländischen - v.a. auslandschinesischen - Ursprungs.

2001 trat die VR China der WTO bei. Der Preis für den Beitritt bestand in der bedingungslosen Öffnung des Landes für das Auslandskapital. Erst in diesem Jahr sind die Liberalisierungen vollständig in Kraft getreten, so dass ihre Auswirkungen v.a. auf den Finanz- und Dienstleistungssektor noch gar nicht gänzlich erfasst werden können. Als Lohn für diesen Schritt erreichte die Volksrepublik beispiellose Steigerungsraten der Importe und des Bruttoinlandsprodukts. Der Boom zündete in einer Zeit, als die „asiatischen Tiger“ nach dem Crash des „Neuen Markts“ noch darniederlagen und die US-Notenbank mit Leitzinssenkungen Verbraucherkredite finanzieren half, die der heimischen Wirtschaft wieder auf die Sprünge helfen sollte.

Ungleichmäßige Entwicklung

So übertrieben es ist, China seit dem Beitritt zur WTO als Weltwirtschaftsmotor zu bezeichnen, so richtig ist es, den beeindruckenden Wandel festzustellen, dass das Land zu einem festen Bestandteil des internationalen Handels geworden ist, eine immer bedeutender gewordene Schleuse für den Export in die imperialistischen Länder. Die Finanzierung der US-Staatsschuld trägt zur Stabilisierung des brü-chig gewordenen Weltwirtschaftssystems maßgeblich bei. Ebenso wichtig ist der Beitrag seiner Billiggüter zur Senkung der Kapital- und Arbeitskosten in den entwickelten Industrieländern. Manche Schät-zungen halten den „chinesischen Preis“ verantwortlich für 10 bis 20 % Lohnkostensenkungen. Dies wirkt dem langfristigen Profitratenverfall massiv entgegen!

Andererseits hat der Anteil von Auslandsfirmen am Binnenmarkt deutlich zugenommen. Im Ausfuhrsektor dominierten sie sowieso. Außerdem investiert Fremdkapital immer weniger in Joint Ventures und immer mehr in Firmen, die zu 100% ihm gehören.

Trotz einer bedeutenden Portion Staatskapitalismus in der volkschinesischen Ökonomie mehren sich die Anzeichen für eine zunehmende Unabhängigkeit privaten Kapitals trotz aller Bemühungen Pekings, die Wirtschaft zu kontrollieren und das Spekulantentum zu unterbinden. Auch die imperialistischen Mächte und das Bürgertum in Taiwan oder Hongkong werden sich auf Dauer nicht mit einer Partei arrangieren, die Agent einer bürokratischen Kaste, aber keiner sozial verankerten Klasse ist, so sehr alle auch einen Nutzen aus deren diktatorischen Vollmachten gezogen haben!

Die chinesische Arbeiterschaft ist auf 350 Millionen angewachsen. Noch ist sie weit von einer homogenen, geschweige denn revolutionären Kraft entfernt, aber sie hat bereits etliche Erfahrungen in tw. blutigen Klassenkämpfen gemacht und hat dabei erste Schritte zu unabhängiger Selbstorganisierung unternommen. Von Jahr zu Jahr nimmt die Anzahl der selbst von offizieller Seite registrierten industriellen Konflikte zu. Unter der KP-Herrschaft kann es aber keine Aussicht auf friedliche Entwicklung unabhängiger gewerkschaftlicher wie politischer Arbeiterorganisationen geben!

Die riesige Bauernschaft (800 Millionen) befindet sich in ihrer größten Umwälzung der Geschichte. Ihr anfänglicher Einkommenszuwachs dauerte nur bis Mitte der 80er Jahre. Seitdem unterliegt sie einer enormen Klassendifferenzierung. 114 Millionen haben das Land verlassen und bevölkern die Elendsviertel der Metropolen. Es handelt sich um den größten Massenexodus der Menschheitsgeschichte! Gesellschaftlicher Widerstand wächst auch in der Landbevölkerung bis hin zu regelrechten Schlachten mit Armee und Polizei. Die Verstädterung raubt ihnen ihr Land. Korrupte ProvinzpolitikerInnen zahlen oft genug nicht einmal eine symbolische Entschädigung für die zwecks Gewerbeansiedlung enteigneten Flächen. Nicht auszudenken für das Regime der Stalinisten, wenn ihre größte soziale Stütze seit 1949 sich offen dagegen auflehnt!

Aussichten

Wir skizzierten das heutige China als eine Gesellschaft im Umbruch. Neben Elementen des unterge-gangenen degenerierten Arbeiterstaates existieren sowohl Merkmale einer Halbkolonie wie Eigen-schaften einer imperialistischen Macht. Imperialistisches Kapital durchdringt das Land zunehmend, unterwirft weite Bereiche der Lohnarbeiterklasse einer Überausbeutung. Aber es ist auch ein zuneh-mender Export von Finanzkapital zu beobachten - legaler, wie die Portfolioinvestitionen in den USA, und illegaler, wie die Geldwäsche in Hongkong, Macao bzw. auf den britischen Jungferninseln. Peking plant sicher die Wiedereinsetzung Chinas als Großmacht, wie es bis Anfang des 19. Jahrhunderts eine war. Aber ein Land seiner Größe kann nicht friedlich in eine bereits zwischen den imperialistischen Großmächten aufgeteilte Welt absorbiert werden. Es muss sich nicht nur Märkte erschließen, sondern auch Rohstoffe und Energie in gewaltigem Ausmaß, die sie anderen verweigern muss!

Baut China seine unabhängigen kapitalistischen Interessen nicht imperialistisch aus, werden die halb-kolonialen Züge verstärkt, bis es sich vollständig unterworfen und in eine Neokolonie verwandelt hat. Unvorstellbar, dass diese Widersprüche nicht die Parteiherrschaft tangieren werden! Zu dieser schon destabilisierend genug wirkenden Dynamik gesellt sich die Aussicht auf sich zuspitzende Gesellschaftskonflikte. Diese können Ausfluss einer zyklischen Rezession sein. Alle Anzeichen deuten dar-auf hin, dass der seit der Jahrtausendwende währende Boom seinen Höhepunkt erreicht bzw. überschritten hat (steigende Lohnkosten und Überkapazitäten).

Es gibt darüber hinaus keinen Grund zur Annahme, eine politische Krise entstünde nur als Reaktion auf eine konjunkturelle Talsohle. Massenproteste gegen das Regime anlässlich der Sommerolympiade 2008 und deren Unterdrückung können eine solche ebenso auslösen wie Bauernproteste gegen Landraub und Zwangsumsiedlungen, Umweltkatastrophen wie Dammbrüche oder verseuchtes Trinkwasser, Arbeitermobilisierung gegen Lohnzahlungsrückstände, gefährliche Arbeitsbedingungen (z.B. Bau, Bergwerke) oder Verhaftungen von AktivistInnen. Streiks, Mobilisierungen und Proteste können rasch einen größeren Umfang als seinerzeit die Demokratiebewegung annehmen. Auf kapitalistischem Boden kann die Zukunft der VR China nur imperialistisch oder halbkolonial ausfallen.

Im aufkommenden Klassenkampf zeigt sich eine dritte Alternative. Schafft sich die riesige Arbeiterklasse eine wirklich revolutionäre kommunistische Partei und Massenorganisationen wie Gewerkschaf-ten, Räte und Kontrollausschüsse, setzt sie sich an die Spitze der Bauern-Emeuten, kann sie die „heilige Dreifaltigkeit“ besiegen: die StalinistInnen, die die Marktwirtschaft wieder eingeführt haben; die chinesische Bourgeoisie, die als Klasse noch ungefestigt ist; den ausländischen Imperialismus, der das Land noch nicht beherrscht.

Übergangszeiten sind bekanntlich Zeiten großer Kämpfe gegen die und Umbrüche innerhalb der alten Ordnung. Das gilt nicht nur für China. Aber umgekehrt: treten die Ereignisse dort auf den Plan, so können sie ausgehend vom größten Teil der Erdbevölkerung schneller denn je im Zeitalter der imperialistischen Globalisierung die ganze Welt erfassen. Sie müssen es, weil China seit kurzem ein elementa-rer Dominostein in der aktuellen, aber veralteten Weltordnung geworden ist - vielleicht deren schwächstes Kettenglied!

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Nr. 125, Nov./Dez. 2007
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