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20 Jahre Tschernobyl

Globaler Störfall

Markus Lehner, Neue Internationale 110, Mai 2006

Vor 20 Jahren, am 26.April 1986, ging eine Epoche zu Ende. So wie das „Atomzeitalter“ mit einer Megatonnen-Explosion und dem Tod von etwa 140.000 Menschen in Hiroshima begann, so pustete die Kernschmelze im Reaktorblock 4 von Tschernobyl an diesem Tag die 3.000 Tonnen schwere Betonplatte des Reaktor-Schutzmantels wie nichts in den ukrainischen Nachthimmel - und mit ihm etwa das Zehnfache an radioaktivem Fallout wie in Hiroschima.

In den 50er Jahren war die Gewinnung von Energie auf der Grundlage der Kernspaltung als Grundlage einer neuen Epoche gefeiert worden, in der es saubere, billige Energie aus einem günstigen, schier unerschöpflichen Rohstoff im Überfluss geben werde. Zusammen mit den damals in Massen eingesetzten Billigprodukten der Chlorchemie wie PVC und DDT, die Werkstoffproduktion und Landwirtschaft auf neue produktive Höhen schnellen ließ, erschien eine neue Periode des grenzenlosen Wachstums eröffnet. Der alte Glaube an die segensreiche Wirkung einer über den gesellschaftlichen Interessen stehenden „objektiven“ Wissenschaft erlebte eine Renaissance.

Heute genügt es, die verschiedenen wissenschaftlichen Expertenberichte, die zum Jahrestag der Reaktorkatastrophe erschienen sind, zu lesen, um deutlich vor Augen zu haben, wie interessenbestimmt auch die „objektiven Naturwissenschaften“ sind. Die Wissenschafter der ja auch in anderen Bereichen für ihre „Objektivität“ berühmten UN-Atomenergiekommission (IAEO) entdecken plötzlich, dass Opferzahlen und Kontaminierungsgebiete all die Jahre viel zu hoch angegeben worden seien. In die Presse sickerte die Zahl von „bloß“ 4.000 nachgewiesenen Todesfällen aufgrund der Strahlenbelastungen.

Dagegen veröffentlichten die „Internationale Vereinigung von Ärzten zur Verhütung des Atomkriegs“ in einer Studie Untersuchungen, wonach mehrere 100.000 Erkrankungen und mehrere 10.000 Todesfälle nachweislich mit der Reaktorkatastrophe in Verbindung gebracht werden könnten. Eine Greenpeace-Studie wiederum spricht allein in Russland, der Ukraine und Weißrussland von 270.000 Krebserkrankungen, von denen 93.000 tödlich enden würden.

Der Reaktorunfall von Tschernobyl zerstörte nicht nur das Vertrauen in die Sicherheit der Atomkraftwerke. Er beschädigte auch das Vertrauen in die „wissenschaftlichen Experten“, die noch bis kurz vor der Katastrophe vorgerechnet hatten, wie völlig unwahrscheinlich und eigentlich unmöglich so ein Super-GAU eigentlich sei. Der Reaktortyp von Tschernobyl mit Graphit-Moderation war auch von bundesdeutschen „Experten“ in einer Studie 1983 als „besonders sicher“ eingestuft worden.

Auch Tage nach dem Tschernobyl-Unfall wurde dieser nicht nur in der Sowjetunion heruntergespielt. Trotz der absehbaren Strahlenbelastung durch die radioaktive Wolke, die sich in Folge der Wetterbedingungen nach der Katastrophe über große Teile Europas ausbreitete, versicherten die „Experten“, dass es keinen Grund zur Besorgnis gäbe. Und wie üblich in solchen Fällen aßen Minister öffentlich Salat ...

Was war geschehen?

Am Reaktor Tschernobyl sollte Ende April 1986 die jährliche Revision durchgeführt werden. Dazu wurde der Reaktor auf 25% seiner Leistung zurückgefahren. Diese Situation sollte für einige Tests genützt werden. Bevor damit begonnen werden kann, passiert einem Berufsanfänger an der Bedienung ein Missgeschick: die Leistung des Reaktors fällt auf unter 1%. Im Reaktorkern entsteht zuviel Xenon, das Steuern des Reaktors wird damit sehr viel schwieriger. Damit ist der Test eigentlich nicht mehr durchführbar - der Reaktor müsste ganz heruntergefahren werden, bis das kurzlebige Xenon zerfallen ist.

Doch die Ingenieure wollen sich das freie Wochenende nicht verderben bzw. der Chef drängt auf Erfüllung der Terminvorgaben. Also wird die risikoreichere Alternative gewählt: der Reaktor wird wieder voll aufgedreht. Doch dies gelingt nicht wirklich - die Leistung bleibt unter den vorgeschriebenen 20%. Trotzdem wird mit dem Test begonnen, d.h. die Kühlung des Kerns wird gedrosselt. Jetzt bemerken die Ingenieure den gefährlichen Temperaturanstieg im Kern. Sie reagieren darauf wie vorgeschrieben und versuchen sofort, den Reaktor abzuschalten - und lösen gerade dadurch die Katastrophe aus.

Die Kerspaltungs-Kettenreaktion in Uranbrennelementen hat keinen Ein- und Ausschalter: zur Regelung dienen Absorbtionsstäbe aus Material, das die Neutronen „einfängt“, die die Spaltung der U-235-Isotope bewirken. Das Einfahren der Absorptionsstäbe in den Graphitkern vom Tschernobyl-Typ führt auch dort natürlich letztlich zum gewünschten Effekt, kurzfristig jedoch bewirkt es eine Beschleunigung der Kernreaktionen. Genau dies war der Funke, der in Tschernobyl den bereits extrem erhitzten Kern zur Zündung brachte.

Bereits neun Sekunden nach dem Beginn des Einführens der Absorptionsstäbe erreicht der Druckanstieg im Reaktor den kritischen Wert. Weitere neun Sekunden später ist der Kern schon so verformt, dass die Stäbe stecken bleiben - jegliche Kontrolle über den Reaktor ist verloren. Die Kettenreaktion beschleunigt sich explosionsartig und im heißen Kern sammelt sich Wasserstoffgas. Um 1 Uhr 40 (nur 20 Sekunden nach der vermeintlichen „Abschaltung“) entzündet sich der Wasserstoff, das Reaktordach wird zerfetzt und eine 170 Meter hohe Stichflamme schießt hoch: 900 Tonnen Grafit und 70 Tonnen Uran werden freigesetzt, 50 Tonnen Brennstoff verdampfen. Nach einigen Stunden entzündet sich das erst oberhalb von 800 Grad brennbare Graphit. Eine zweite verheerende Explosion droht, falls die Graphitlava das Grundwasser erreicht. Bis zum 10. Mai kämpften 42 Feuerwehrleute völlig ungeschützt gegen diese Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Dann war der Brand gelöscht.

Der tödlichen Äquivalentdosis von 2-16 Sv ausgesetzt, hat diesen Einsatz letztlich keiner überlebt.

Die Folgen

Schon bei der ersten Explosion wurden radioaktive Edelgase und 1% der Brennelementmasse bis zu 1,5 km in die Höhe geschossen. Je nach Windbedingungen wurden damit die besonders gefährlichen radioaktiven Isotope Cäsium 137 und Strontium 90 über ganz Europa im Radius von Skandinavien, übers Baskenland bis nach Jugoslawien verbreitet (selbst in den genannten Regionen fanden sich noch Messwerte von über 100.000 Becquerel Zerfallsintensität).

Im 30km-Umkreis der Katastrophe wurden 135.000 Menschen der Äquivalentdosis (gibt die Absorptionsrate von Ionisierungsenergie für biologische Organismen je nach Strahlenart an) von 0,16-0,3 Sievert ausgesetzt. Radioaktive Strahlung (besonders alpha- und beta-Partikelstrahlung) wird vor allem über die Ionisierung (Herausschlagen von Elektronen aus der Atomhülle) und damit der Veränderung der chemischen Eigenschaften von organischen Molekülen erzeugt. Damit werden sowohl Mutationen als auch Zellveränderungen (bis zum Zelltod) bewirkt. Insbesondere die Anreicherung von alpha-Strahlern (wie Caesium 137) im Körper ist als krebserzeugend nachgewiesen. 0,01 Sievert erhöhen statistisch gesehen für 100 von 1 Million Menschen das Krebsrisiko. Nachdem die „normale“ (z.B. natürliche) Strahlenexposition bei unter 0,004 Sievert liegt, lässt sich leicht berechnen, wie sich der Anstieg der Strahlung in der „Todeszone“ von Tschernobyl auf die Betroffenen ausgewirkt hat.

Dazu kommt, dass nach der Katastrophe etwa 800.000 „Liquidatoren“ mit unzureichendem Schutz an den Aufräumungsarbeiten (bis zur vorläufigen Eindämmung des Strahlungszentrums durch den „Sarkophag“ aus Stahl und Beton) beteiligt waren. 17.000 Familien von an den Spätfolgen gestorbener „Liquidatoren“ erhalten Unterstützungszahlungen vom ukrainischen Staat. Soviel zur Glaubwürdigkeit der IAEO-„Experten“.

Schließlich sich auch die in der Woche nach dem Unfall von Fall-out und Wash-out betroffenen Gebiete in ganz Europa weiterhin betroffen: Caesium 137 mit einer Halbwertzeit von 30 Jahren reichert sich auch weiterhin in Böden, Pilzen, Waldfrüchten und Tieren an und verbreitet sich so auch über die Nahrungskette der Menschen ...

Das Interesse der Atom-Konzerne an der Verharmlosung des Tschernobyl-Unfalls gerade jetzt liegt auf der Hand: der Jahrestag der Katastrophe sollte nicht die Promotion verderben, die gerade in letzter Zeit wieder für die Atomgeschäfte gemacht wird. Immerhin stagnierte die Atom-Industrie in den Jahren nach Tschernobyl ziemlich.

Dies hat nicht nur mit dem politischen Druck zu tun: einerseits führten gesteigerte Sicherheitsanforderungen zu so hohen Investitionskosten, dass sich die an kurzfristigen Gewinnen orientierten Stromkonzerne nicht mehr auf etwa 12jährige Bauphasen und Milliardeninvestitionen einlassen wollten.

Das Risiko des AKW-Betriebs

Andererseits erwies sich die Wiederaufbereitung von ausgebrannten Brennelementen (über 90% des Urans in Brennelementen bleibt ungenutzt) als technisch zu aufwendig und die erlangten Brennelemente als ungeeignet für die vorhandenen Reaktortypen. Damit stiegen die Kosten für das nach wie vor ungelöste Entlagerungsproblem für radioaktiven Müll noch weiter. Außerdem wird damit das Problem der wenigen, wirtschaftlich abbaubaren Uranlagerstätten noch verstärkt. Wird die Atomenergie weltweit in der jetzigen Kapazität weiter genutzt, sind bis 2040 die vorhandenen weltweiten Uranvorräte verbraucht - bei einer Verdoppelung der Kapazität wäre schon etwa 2020 Schluss.

Damit erschien Atomenergie eigentlich schon als Auslaufmodell. Die Energiekonzerne setzten so vor allem auf möglichst lange Laufzeiten. Das Betreiben abgeschriebener Anlagen ist billig, so dass günstige Kilowattpreise trotzdem Gewinne sprudeln lassen. Die Kehrseite davon sind nicht nur die weltweit hin- und hergeschobenen wachsenden Atommüllberge ohne sichere Endlager. Vor allem das wachsende Alter der betriebenen Anlagen wird zunehmend ein Problem - ein weiteres Tschernobyl wird immer wahrscheinlicher. Im Schnitt sind die heute 443 noch betriebenen AKWs 22 Jahre alt, viele sind seit mehr als 30 Jahren in Betrieb.

Die Gefahr wird deutlich in Beinahe-Katastrophen, die natürlich nur wenig Presse-Echo hervorriefen, wie 2002 in Oak Harbor, Ohio. Dort war durch eingesparte Inspektionen jahrelang ein Leck an den Absorptionsstäben nicht aufgefallen - nur noch 15 Zentimeter fehlten, und der Druckbehälter wäre zerborsten. Aufmerksame Reinigungsarbeiter hatten hier den Super-GAU vermieden. Die Liste solcher Beinahe-Katastrophen wird in letzter Zeit erschreckend lang.

Es ist deutlich, dass den Stromkonzernen und ihren Profitinteressen der Betrieb dieser gefährlichen Anlagen nicht mehr überlassen werden darf. Solange diese Anlagen noch in Betrieb sind, müssen sie strengster überregionaler Arbeiterkontrolle unterworfen werden. Angesichts der unüberschaubaren Risiken des komplexen Betriebs der Anlagen und des ungelösten Endlagerproblems sowie auch der mit der Atomindustrie eng verwobenen Wissenschaft auf diesem Gebiet, ist ein kontrollierbarer Betrieb dieser Anlagen im Kapitalismus mehr als fraglich. Gerade der Verlauf der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zeigt, wie unberechenbar die Konstellationen sind, die letztlich zur Kernschmelze und damit zum Super-GAU führen.

Revival der Kernenergie?

Das neue Interesse speziell des europäischen Kapitals an der Atomenergie ist wohl vor allem geostrategischer Art. Der härter werdende Konkurrenzkampf auf globaler Ebene hat hier mehrere Auswirkungen. Einerseits versuchen europäische Konzerne wie Framatom und Siemens angesichts steigender Energiepreise die US-Konkurrenz auf dem Sektor der Energieerzeugungsanlagen herauszufordern - und liegen hier im Markt moderner AKW-Technik vorn.

Andererseits führt die absehbare Verknappung fossiler Energieträger, bis auf die von Russland kontrollierten Erdgasreserven, dazu, dass AKW-Strom für einige Jahrzehnte wieder zu einem strategischen Vorteil gegenüber den globalen Konkurrenten werden kann. Nicht zuletzt bleibt die mit dem AKW-Betrieb sehr eng verbundene Produktion von Kernwaffen ein wichtiges Motiv für das Festhalten an der Atomenergie. Insgesamt sicher genug Gründe für die imperialistischen Kapitale, um weiter auf eine unsichere, menschheitsgefährdende Technologie zu setzen, die in keiner Weise das langfristige Energieproblem lösen wird.

Grund genug für die Arbeiterbewegung, dem Kapital diese Industrie aus der Hand zu schlagen und beide so bald wie möglich der Entlagerung zuzuführen.

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Nr. 110, Mai 2006

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