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Zwischen Pest und Cholera

Neue Wahl fürs Kapital

Hannes Hohn, Neue Internationale 101, Juni 2005

22. Mai, 18.00 Uhr: die SPD hat in Nordrhein-Westfahlen verloren - die neunte Landtagswahl in Folge! Die an Rhein und Ruhr 39 Jahre lang regierende SPD gibt im bevölkerungsreichsten Bundesland die Regierung an Schwarz/Gelb ab. Sie büßte 5,7 % ein und kam auf nur 37,1% - gegenüber 44,8% der CDU (plus 7,8%). Ein Erdrutsch!

Das Desaster der SPD in NRW ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die 1998 mit Schröders Amtsantritt begann und ab 2003 mit der Agenda 2010 immer deutlicher wurde: die SPD ist als Regierungspartei gezwungen, die Maske der “Partei der kleinen Leute” fallen zu lassen und ganz offensichtlich als Partei im Interesse des Kapitals zu agieren.

Agenda und Hartz-Gesetze sind die Markenzeichen ihrer Politik, die einen Generalangriff auf die Arbeiterklasse und deren Errungenschaften darstellt. Als Regierungspartei - zudem in einer Situation der Krise des Kapitalismus, verschärften internationalen Konkurrenzkampfes und der Formierung der EU zum imperialistischen global player - ist die SPD gezwungen, ihre eigene soziale Basis, die Lohnabhängigen, anzugreifen.

SPD am Ende?

Dieser Spagat einer bürgerlichen Arbeiterpartei - bürgerlich in Politik und Führung, proletarisch hinsichtlich ihrer Basis - wird immer mehr zur Zerreißprobe für die SPD. Vertrauen, Mitglieder und WählerInnen schwinden.

So konnte die CDU in NRW auch bei ArbeiterInnen und Arbeitslosen deutlich dazu gewinnen (8-9%), am stärksten aber in den Mittelschichten. Dieser Zuwachs der CDU im proletarischen Milieu verweist darauf, wie tief die Enttäuschung der ArbeiterInnen über “ihre” SPD ist; zugleich zeigt er auch die politische Verwirrung großer Teile der Klasse ob der Niederlagen und der durch die reformistischen Führungen ausverkauften Ansätze von Widerstand. Allerdings konnte die CDU gegenüber der Bundestagswahl von 2002 keinen Gewinn an absoluten Stimmen erreichen. Nur 28% aller Wahlberechtigten wählten die CDU (SPD: 23%).

In NRW wurde aber auch deutlich, dass Münteferings “Kapitalismuskritik” nicht ausreichte, um am Wahldesaster der SPD irgend etwas zu ändern und relevante Teile der Enttäuschten zurück zu gewinnen. Trotz allem: Die NRW-Wahl bestätigte, dass die SPD nach wie vor auf große Teile der Arbeiterklasse entscheidenden Einfluss hat. Im Ruhrpott, dem “proletarischen Herzen” von NRW, verfügt sie nach wie vor über eine Mehrheit. Auch in den großen Städten liegt sie fast überall vor der CDU (im Schnitt 45% gegenüber 36%). Das zeigt sehr klar, welche soziale Basis die SPD immer noch hat: die Arbeiterklasse - vermittelt durch die Mehrheit des Gewerkschaftsapparates und der Betriebsräte, die absichern, dass die SPD weiterhin ihre politische Dominanz über die Klasse behält.

Die Linke

Auf der linken Seite gab es bemerkenswerte Ergebnisse. Die PDS zeigte sich erneut unfähig, von der tiefen Krise der SPD zu profitieren. Ihre 0,9 % sind ein klarer Misserfolg. Sie zeigen, dass die PDS in NRW über keine Verankerung in der Arbeiterklasse verfügt und ihre Westausdehnung gescheitert ist. Zu stark ist sie inzwischen durch ihre Politik des Sozialabbaus in jenen Ländern, wo sie mitregiert, diskreditiert.

Besser schnitt die WASG ab, die 2,2% Prozent erreichte. Das ist mehr, als man angesichts ihrer zahmen, reformistischen Politik und ihrer bisherigen Entwicklung erwarten konnte. Angesichts der immensen Verluste der SPD und des sehr bescheidenen Abschneidens der PDS zeigen die 2,2 % der WASG aber auch, das es ihr nicht gelungen ist, sich in Kernschichten der Klasse zu verankern und als Alternative zur SPD massiv wahrgenommen zu werden. Kein Wunder: Noch am Wahltag meinte WASG-Vorstandsmitglied Klaus Ernst, er lege “auf einen Sturz der Regierung zum jetzigen Zeitpunkt keinen Wert” (Berliner Zeitung, 23.5.).

Die Hauptschuld daran, dass die WASG deutlich unter 5% blieb, trägt die Gewerkschaftsbürokratie, die selbst nach den größten Schweinereien der SPD den Sozis weiter die Treue hält und jede parteipolitische Alternative zu ihr am liebsten ignorieren würde. Dass aber offenbar auch die kämpferische Vorhut der Klasse oft nicht die WASAG gewählt hat, liegt sicher daran, dass sie sich weder programmatisch noch in der Praxis substantiell von der “alten” Sozialdemokratie und ihrer Methode unterscheidet.

Trotzdem werden viele WASGlerInnen das Abschneiden als Bestätigung sehen. Doch der Maßstab - auch bei Wahlen - sind eben nicht nur soundsoviele Prozente. Die wichtigste Frage ist, was die WASG mit ihrer Politik dazu beiträgt, den Widerstand, den Klassenkampf voran zu bringen und dafür in den Betrieben, in den Gewerkschaften zu mobilisieren und eine politische Alternative zur Sozialdemokratie und zum Kapitalismus als System aufzuzeigen. Mit den verstaubten Rezepten der SPD der 70er Jahre wird das nicht gelingen. Damit kann man vielleicht am Wahlsonntag Stimmen gewinnen, den Klassenkampf von Montag bis Samstag bringt man damit keinen Schritt voran.

Warum Neuwahlen?

Nicht nur das Wahl-Desaster der Sozialdemokratie sorgte für Schlagzeilen, sondern die Ankündigung von Neuwahlen zum Bundestag für den Herbst 2005 durch Schröder und Münterfering. Inzwischen ist ziemlich klar, dass Schröder im Juli die Vertrauensfrage stellen wird, um dann angesichts der fehlenden Mehrheit Neuwahlen erzwingen zu können.

Es ist bezeichnend für den Charakter der Demokratie in der SPD, dass Münteferings Ankündigung auch die SPD-Mitglieder überraschte. Genauso bezeichnend ist es, dass die Entscheidung, ob vorgezogene Neuwahlen stattfinden oder nicht, von nicht vom Volk gewählten Organen - dem Bundespräsidenten bzw. dem Bundesverfassungsgericht - getroffen werden.

Dass es zu Neuwahlen kommt, ist fast sicher, da sich alle Parteien schon dafür ausgesprochen haben. Entscheidend ist aber, dass die deutsche Bourgeoisie nicht tatenlos zusehen wird, wie sich die Politik mit mangelnden Mehrheiten und dem Patt zwischen Bundestag und Bundesrat tw. selbst blockiert. Schließlich geht es darum, die neoliberalen Reformen fortzuführen, ja noch zu verschärfen. So war es nicht überraschend, dass auch die Spitzen der Kapitalverbände Schröders Neuwahl-Vorschlag sofort begrüßten. Sie verweisen auf die Notwendigkeit, die “schmerzhaften, aber notwendigen Reformen” weiterzuführen. Die Blockade zwischen Bundesrat und Bundestag müsse aufgelöst und für klare Mehrheiten gesorgt werden.

Mit Neuwahlen würde die de facto jetzt schon wegen der Stärke des Unionslagers und der Schwäche der SPD regierende große Koalition beendet bzw. auf eine formell klare und offizielle Basis gestellt. Jobgipfel, Vermittlungsausschuss und ähnlich “umständliche” Problemlösungen werden dann obsolet. Entweder - was sehr wahrscheinlichsten ist - gewinnt die Union die Bundestagswahl klar, dominiert Bundestag und Bundesrat und führt Schröders neoliberale Reformen und Angriffe auf noch schärfere Weise weiter; oder aber es ergibt sich eine große Koalition - was im Grunde dieselben politischen Wirkungen hätte.

Der Neuwahl-Coup Schröders war alles andere als eine Kurzschlussreaktion. Die Position des Kanzlers in der eigenen Partei und in der Bundestagsfraktion wurde von Monat zu Monat, von Wahlniederlage zu Wahlniederlage schlechter. Bereits zweimal musste er drohen, die Vertrauensfrage zu stellen, um die SPD-Fraktion noch geschlossen hinter sich zu bekommen. Ohne dass es in der SPD einen wirklichen linken Flügel gibt, neigen doch immer mehr SPD-Funktionäre und Abgeordnete dazu, Schröders Agenda-Strategie die Gefolgschaft zu verweigern, weil sie die SPD und damit auch ihre eigenen Wiederwahlchancen untergräbt. Die SPD-Spitze steht vor einem so simplen wie gravierenden Problem: entweder wie bisher auf dem Agenda-Weg weitergehen und dabei die eigene Partei opfern oder aber die Partei retten und die Regierung aufgeben.

Dahinter steht eine strategische Frage. Die neoliberale Offensive kann auch Schwarz/Gelb weiterführen, ja sogar besser, weil sie weniger Rücksicht auf die Gewerkschaften nehmen müsste. Doch die spezifische Rolle der SPD, in arbeitsteiliger Kooperation mit der Gewerkschaftsbürokratie die Arbeiterklasse zu kontrollieren, zu beschwichtigen und zu betrügen - das kann eben nur die Sozialdemokratie wegen ihrer strukturellen Verbindungen in die Klasse für das Kapital auf direktem Weg erledigen. Insofern gibt es sehr wohl ein grundsätzliches Interesse daran, die SPD zu erhalten: nicht unbedingt an der Regierung - obwohl Schröder auch dort sehr viel für das Kapital geleistet hat und zu Beginn der Reformen zusammen mit der Gewerkschaftsspitze die Lohnabhängigen eingebunden und deren Kämpfe ausverkauft hat - aber als Partei, als bürgerliche Agentur in der Arbeiterbewegung sehr wohl.

Die wachsenden Irritationen im Gewerkschaftsapparat, die Gründung der WASG, die spontan entstandenen Proteste der Montagsdemos waren und sind Alarmsignale dafür, dass das Proletariat oder wenigstens deren Vorhut nach einer Alternative zur SPD suchen. Für die SPD selbst bedeutet die vorgezogene Wahl aber auch, dass die immer stärker schwelenden Debatten über die Linie der Partei beendet werden sollen zugunsten eines Lagerwahlkampfes “Rot-Schwarz”. So dauerte es nach Münteferings Ankündigung auch nur Minuten, bis die ersten SPD-Promis genau das von ihrer Partei einklagten: jeder Richtungsstreit müsse nun zurückstehen.

Bei allem Gerede über den “Lagerwahlkampf” - der eigentliche Zweck der Neuwahlen ist es aus Sicht des Kapitals, eine handlungsfähige und durch Neuwahlen “demokratisch legitimierte” Regierung für die verschärfte Weiterführung ihres strategischen Angriffs auf die Arbeiterbewegung zu erhalten.

Perspektiven für die Linke

Es ist klar, dass vor diesem Hintergrund eine Stimmabgabe für die SPD als vermeintlich kleineres Übel völlig fehl am Platz wäre.

Der Wahlkampf muss jedoch genutzt werden: als Bühne für den politischen Kampf gegen die bestehende und jede zukünftige Regierung. In diesem Kontext muss auch die Frage der Wahltaktik und des Eingreifens in den Wahlkampf betrachtet werden.

Das Ergebnis der WASG und der PDS in NRW wie auch die letzten Monate - Montagsdemos, Opel-Streik usw. - zeigten das Potential und die Notwendigkeit einer neuen Arbeiterpartei, die die heterogene Bewegung gegen die Angriffe von Kapital und Kabinett vereint und eine klassenkämpferische Alternative zu den Verrätern und Bremsern in den Spitzen von DGB und den sozialen Bewegungen bietet.

Die Führungen von WASG und PDS sowie Lafontaine versuchen, diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen - und ihm gleichzeitig die Spitze zu nehmen. Eine neue Partei (oder eine Listenverbindung)soll von den Spitzen ins Leben gerufen, ihr Wahlprogramm zwischen Gysi, Bisky, Lafontaine, Trost und Ernst ausgemauschelt werden. Es ist klar, dass dabei nur ein weiterer reformistischer “Einheitsbrei” heraus kommt - keine Plattform der Mobilisierung und des Klassenkampfes. Sie wollen eine Partei, die keiner Basis und keiner Bewegung verantwortlich ist, sondern von der zukünftigen Spitze beliebig als Manövriermasse genutzt werden kann. So meinte Gregor Gysi, dass verhindert werden müsse, dass sich eine neue Linkspartei mit “linken Dogmatikern” einlasse (Berliner Zeitung, 30. Mai). Solche Pläne können nur durchkreuzt werden, wenn die Debatte über eine neue Arbeiterpartei demokratisch geführt und von der Basis kontrolliert wird.

Es ist absolut richtig, gegen die SPD und die Grünen zum Bundestag zu kandidieren. Es ist auch richtig, dass daraus eine neue Partei entstehen kann und soll. Aber: nicht eine illustre Runde von ReformistInnen ist dazu notwendig, sondern eine offene Konferenz zur Schaffung einer neuen Arbeiterpartei, die zur Wahl antritt. Dazu fordern wird WASG und PDS auf!

Zu einer solchen Konferenz sollen alle linken Organisationen und Strömungen eingeladen werden, die sich auf die Arbeiterbewegung beziehen, eine neue Partei aufbauen wollen und gegen Sozialkahlschlag, EU-Imperialismus und Rassismus kämpfen. Zu einer solchen Konferenz sollen die Gewerkschaftslinke, oppositionelle Strömungen in den Betrieben, die Montagsdemo-Bündnisse, Sozialforen, antiimperialistische und Anti-Kriegsbündnisse, Immigrantenorganisationen usw. eingeladen werden. Wir fordern die Gewerkschaften und die SPD-Linke auf, offen mit Schröder und der SPD-Spitze zu brechen und die Formierung einer solchen Partei zu unterstützen!

Auf einer solchen offenen Konferenz müssen nicht nur die wichtigsten Kampagnen und Forderungen diskutiert und geklärt werden. Alle Strömungen müssen das Recht haben, ihre eigenen politischen und programmatischen Forderungen einzubringen.

Es muss klar sein, dass es keine Unterstützung, Duldung oder gar Eintritt in eine künftige SPD-geführte Regierung oder Koalitionen mit bürgerlichen Parteien geben darf. Die PDS muss aufgefordert wird, ihre Regierungsbeteiligung in Berlin und Schwerin zu beenden.

Es geht darum, eine Partei, eine Kandidatur des Kampfes - nicht eine des Mitmachens in einer “anderen Regierung” - zu formieren. Als revolutionäre KommunistInnen treten wir dabei von Beginn an dafür ein, dass eine solche Partei nicht nur zur Organisierung des Abwehrkampfes gebildet wird, sondern zugleich ein Programm zum Sturz des Kapitalismus und für die internationale Revolution - diskutiert und annimmt.

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Nr. 101, Juni 2005


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